Heute wollte ich keinen Beitrag schreiben. Das habe ich jedenfalls voriges Mal behauptet. Man muss aber wissen: Schriftsteller sind äußerst unzuverlässig, wenn es um ihr Vorhaben geht. Nur der Tod und vielleicht die Demenz bringen uns zum Schweigen.
Morgen fliege ich in die USA, um meiner Mutter beim Umsiedeln zu helfen. Sie zieht von Phoenix, Arizona, nach Dallas, Texas. Das ist eine Entfernung wie ungefähr von München nach Kairo. Nur man spricht stets die gleiche Sprache: Spanisch. Nein, nur ein dummer Witz. Man spricht Amerikanisch. Mein Bruder ist Eigentümer eines „Pickups“. Sie wissen schon: eines Kleinlasters mit Kabine und bringt einen Anhänger in Schlepptau mit, genauer gesagt, einen Pferdetransporter – etwa fünf Meter lang und mit vielen Luftschlitzen, damit die Pferde und das Hab und Gut unserer Mutter beluftet werden.
Das wird folgendes Bild ergeben: Zwei grauhaarige Männer (vielleicht ein kleines bisschen jenseits ihrer besten Jahre) fahren im Pickup-Truck mit dem alten Mütterlein querdurch den Südwesten Amerikas, wo einst die Apachen und Comanchen mit den Wölfen heulten.
Soweit so gut. Nur: Am Wochenende habe ich mir einen „Tennisellenbogen“ eingebrockt. Das, obwohl ich kein Tennis spiele. Möchten Sie auch einen? Hier mein Rezept: Erstens: Ellenbogen kräftig anstoßen, genauer gesagt, ihm einen Schlag auf den „Musikantenknochen“ verpassen. Zweitens: Versuchen Sie den Plastikkübel aus dem teueren dafür schlecht gemachten silberglänzenden Abfalleimer zu entfernen. Der klemmt nämlich sehr. Bald haben auch sie einen „Tennisellenbogen“ – ohne Sportler sein zu müssen.
Und dann stellte ich heute, d.h., am Tag vor der Reise fest, dass wir in diesem Monat das Girokonto fast schon leer gefegt haben. Wie das passierte, verstehe ich noch immer nicht ganz. Ach ja. Finanzkrise! Noch dazu kassiert die Bank einen neuen Zins. Wofür weiß ich nicht ganz genau. Man liest nur, dass die Antwort in Paragraph soundso der neuen Geschäftsordnung nachzulesen sei.
Ich bin wirklich reif für die Insel. Stattdessen werde ich trotz Tennisellenbogen die nächsten Tage schuften müssen und das nach einem langen, unbequemen Flug mit Umsteigen über mich ergehen lassen.
Dennoch bleibe ich Optimist.
Nein, ich bin kein Volltrottel vom Schlag eines Candides, Voltaires glückseligen Idioten. Ihm ging alles schief, was hätte schief gehen können und dennoch war er zufrieden.
Ich bin Realist. Außerdem weiß ich, dass sich alles schlagartig wieder ändern kann. Wenn ich fähig bin, meinen Ellenbogen blitzschnell kaputt zu kriegen – Tage, bevor ich bei einem Umzug helfen soll, warum soll ich auch nicht glauben, dass sich alles genauso schnell zum Guten wenden könnte?
Ja, warum nicht?
Und das tut es oft. Wer war es, der einen Ring hatte, worauf „Auch dies geht vorüber“ stand? Habe ich das nicht vor Jahren bei Herodot aufgegabelt?
Weiß ich nicht mehr. Es ist aber so. Sowohl die guten wie die schlechten Zeiten vergehen. Das weiß ich ganz genau, und deshalb bin ich Optimist.
Arme Bankdirektoren, deren Leben nur darin besteht, sich Tricks auszudenken, wie sie mir ein paar Euros aus der Tasche zaubern können, um sie in die eigenen Taschen umzustecken.
Nein, so ein Leben ist nichts für mich. Ich feiere lieber mit Bruder und Mütterlein den eigenen „Road-movie“. Wir sausen in die Geister toter Indianer und sonstiger ehemaliger Bewohner dieser Wildnis hinein. Vielleicht knipse ich ein paar Fotos der Unsichtbaren.
Ich komme jedenfalls in alter Frische zurück. Und dann geht es wieder los. Und ich weiß: Ich werde mich vor guten Nachrichten kaum mehr retten können.
Ja, so ist es im Leben. Und das betrifft nicht nur mich. Auch Sie werden angesprochen, beste Leser! Ja, auch Sie!
Komisch. Kaum hat man diese drei Wörter, „Sex“, „Geld“ und „Einsamkeit“, aneinander gereiht, und zack! Jeder fühlt sich – irgendwie – angesprochen.
Das kann aber nicht ganz von ungefähr sein. Mit diesen drei Vokabeln hat man die wahre Situation der Menschheit bestens umfasst. Denn „Sex“, „Geld“ und „Einsamkeit“ sind die eigentlichen Bausteine jeglicher Sehnsucht. Und wie jeder schon weiß: Das Leben auf Erden besteht nur aus Sehnsüchten.
Aber genug der Platitüden, obgleich es mir Spaß macht, sie zu artikulieren. Sie möchten ganz sicher wissen, worauf ich mit diesen hochgestochenen Gedanken hinaus will.
Es geht aktuell um Folgendes: Seit etlicher Zeit führe ich einen bizarren Mailwechsel mit einer Dame aus England. Ich werde sie „Mary Smith“ nennen, was natürlich nicht ihr richtiger Name ist.
Vor zwei Wochen erhielt ich zum ersten Mal Post von Ms. Smith. Sie vertrete eine Firma, die Werbung für Webseiten vermittelt und möchte sich erkundigen, ob ich Interesse hätte auf meiner Seite, die sie übrigens sehr schön finde, solche Werbung zu platzieren. Der Kunde sei selbstverständlich „seriös“, und sie freue sich auf meine Antwort. Ach, das Wichtigste habe ich vergessen: Sie schrieb an „Hi PJ!“ und unterschrieb „Mary“. Die übliche unverbindliche angelsächsische Freundlichkeitsfloskel halt.
Ich antwortete auf die Mail aber nicht. Nach einer Woche bekam ich wieder Post von „Mary Smith“. Sie fragte diesmal, ob ich ihre Mail erhalten hätte.
Nun schickte ich ihr eine Antwort – natürlich auf Englisch. Hier eine Übersetzung: „Sehr geehrte Ms Smith, Ich habe die Mail in der Tat erhalten und sie prompt als Spam eingestuft. Falls ich mit meinem Urteil falsch liege, hätte ich ein paar Fragen an Sie: Wieso sind Sie ausgerechnet auf meine Seite als Werbeträger für Ihren Kunden gekommen? Außerdem möchte ich gerne wissen, ob Sie Deutsch lesen und selbstverständlich um was für eine ‚seriöse’ Firma es sich handelt. Mit freundlichen Grüßen, P.J. Blumenthal.“
Sie merken: Ich habe Frau Smith auf englische Art gesiezt. Ich wollte einfach im Gegensatz zu ihr Distanz halten.
Postwendend bekam ich ihre Antwort: Nein, sie verstehe kein Deutsch, dafür habe sie „Google translation“ oder wie immer das Ding heißt, konsultiert. Es handele sich um eine „gaming“-Firma, und sie biete mir 150 US$ jährlich für meine Mitarbeit an.
Ich ließ ein paar Tage verstreichen, bevor ich erneut zurückschrieb. In einem kurzen Satz habe ich mich bedankt und das Angebot abgelehnt. Notabene: Ich habe genau darauf geachtet, keine Patzigkeiten zu schreiben. Etwa: „Was hat ein Spielkasino mit meiner Seite gemeinsam? Ein Verlag vielleicht, aber ein Spielkasino?“ Nein, ich war sehr bemüht, sachlich und höflich zu bleiben.
Nun dachte ich, die Sache sei endgültig gegessen. Drei Tage später bekam ich aber wieder Post von „Ms. Smith“. „PJ – Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mir erklären würdest, warum Du mein Angebot abgelehnt hast.“ Natürlich schrieb sie Englisch. Ich übersetze hier lediglich dem Ton nach. Und der klang traurig, verdutzt, enttäuscht.
„Liebe Mary Smith“, antwortete ich, schon wieder um Sachlichkeit bemüht. „Das Angebot passt nicht zu meiner Seite. Herzliche Grüße, P.J. Blumenthal.“ Ich glaubte, die Sache wäre damit nun wirklich ad acta gelegt. Fehlanzeige. Wieder eine Mail von Frau Smith. „Danke, PJ, Ich denke, ich verstehe dich. Deine Mary.“
Ja, Sex (im weitesten Sinn des Wortes freilich), Geld und Einsamkeit. Das wahre Menschheitsdilemma zeigt sich, wie schon gesagt, in beinahe jeder Kommunikation. Ich bewundere Mary Smith aber. Sie hat Schwäche gezeigt, das heißt, sie hat sich trotz ihrer Pose als Mensch erkennen lassen, und das, so glaube ich, war ihre wahre Stärke.
PS: Die nächsten zwei Wochen mache ich Pause. Bin nämlich verreist und ohne Klapprechner unterwegs. Selbstverständlich gilt meine Reise letztendlich nur Ihnen. Ich kehre mit schönen, frischen Erlebnissen aus der Fremde zurück. Fortsetzung folgt…Ihr Sprachbloggeur.
Wer hätte gedacht, dass ich den Unterschied zwischen den Geschlechtern, nur weil ich eingelegte Weinblätter, „Dolmades“, gerne esse, endlich kapieren würde?
Jeden Freitag kaufe ich mir im Supermarkt vier Dolmades, die ich am Samstag mit Genuss schnabuliere. Meine Frau und meine Söhne teilen meine Leidenschaft für die Weinblätter nicht. Sorge um den Futterneid brauche ich also nicht zu haben. Alles nur für mich!
Normalerweise werde ich im Supermarkt von einer netten Dame bedient. „Vier Weinblätter, bitte“, sage ich. Niemals „vier Dolmades“. Man kann heute nicht mehr die Kenntnis dieses Fremdwortes voraussetzen. Schließlich leben wir im Postpostmodernen.
Behutsam und behändig schiebt die Dame die Dolmades Stück für Stück auf ihre Servierkelle – selbstverständlich sucht sie nach den schönsten – und legt sie liebevoll einzeln in den durchsichtigen Kunststoffbehälter. Dann kippt sie den Behälter – natürlich passt sie auf, dass die Dolmades nicht herausfallen – über die Servierschale, um das bisschen Öl im Behälter auströpfeln zu lassen. Erst danach legt sie die Ware auf die Waage. Sonst bezahlte ich ja das überschüssige Öl mit. Nachdem die elektronische Waage das Preisetikett herausgespuckt hat, fragt sie mich höflich: „Möchten Sie etwas Öl dazu haben?“
„Aber gerne“, sage ich. Mit der Kelle schaufelt sie etwas Öl in den Behälter, macht ihn nun mit Wickelfolie endgültig zu, tütet ihn ein, setzt das Preisetikett drauf, und fertig ist die Sache.
„Schönes Wochenende!“ trillert sie.
So läuft es Woche für Woche. Am letzten Freitag war die Dame aber nicht da. An ihrer Stelle stand ein junger Mann mit schütterem roten Kinnbart und zersausten Kopfhaaren hinter der Theke.
„Vier Weinblätter, bitte“, sagte ich wie immer.
Der junge Mann langte mit seiner Kelle in die Servierschale und schaffte es in einem Wisch, vier Stück herauszuangeln. Geschwind ließ er sie in den Plastikbehälter fallen, legte den Behälter auf die Waage, wickelte und tütete ihn ein und versah die Tüte mit dem Preisetikett. Zack! fertig. Keine acht Sekunden hat der Vorgang gedauert.
„Schönes Wochenende!“ sagte er freundlich.
Und jetzt kam das Aha-Erlebnis. Ich hatte den Unterschied zwischen den Geschlechtern anhand eines anschaulichen Beispiels endlich verstanden. Vor allem, weil ich wusste, ich hätte es ebenso gemacht wie er. Das heißt: vier Dolmades schwups auf die Kelle geschoben. Nur eins hätte ich allerdings anders gehandhabt als er: Ich hätte das überschüssige Öl erst aus dem Behälter auströpfeln lassen, wie die Dame es immer macht, bevor ich die Ware auf die Waage gelegt hätte. Das werde ich dem jungen Mann – Mann zu Mann – das nächste Mal auch sagen, falls er nicht schon Geschäftsführer geworden ist.
Für den Anfang hat das objektive Beobachten gereicht. So machen es auch die Wissenschaftler.
Vielleicht fragen Sie sich, was diese Sache mit Sprache zu tun hat. Ich zögere keinen Augenblick mit meiner Antwort:
Was ich oben beschrieben habe, ist die Basis aller Sprache. Denn die gesprochene Sprache ist das Kind der Körpersprache, die die älteste Sprache überhaupt ist. Das vergisst man manchmal.
Zugebeben: Obige Darstellung ist etwas überspitzt, und Variationen sind allemal möglich. Aber vive la différence! Und nun meine Frage an Sie, lieber Leser, liebe Leserin. Wie würden Sie mir meine Dolmades servieren?
„Guten Morgen Herr…“, hat er mir heute früh gesagt, als ich die Bäckerei betrat. Ich kenne ihn schon lange. Ein netter Mann in den mittleren Jahren, dem ich oft auf der Straße begegne. Er ist motorisch behindert, und zwar sehr. Unsere Gespräche verlaufen meistens nach dem gleichen Muster: Er fragt freundlich nach der Uhrzeit, oder erklärt mir, dass es Montag ist oder 2009. Es gibt aber auch andere Themen. Nein, er ist nicht geistig behindert. Er ist geistig anders. Man sieht ihm die Klarheit in den Augen an. Manchmal kann er ausgesprochen witzig und verschmitzt sein.
Zum Beispiel, als er heute früh sagte „Guten Morgen Herr…“ Nein, nicht „Herr Blumenthal“. Er kennt meinen Namen so wenig wie ich den seinen kenne.
Der Name, mit dem er mich begrüßte, war aber nicht einfach aus der Luft gegriffen. Es war ein bekannter Name, und er wollte damit etwas aussagen. So etwas wie „Herr Sarkozy“ oder „Herr Machiavelli“ oder „Herr General“. Er wollte also einen Witz machen. Seine Witze haben stets Tiefgang. Ich wiederum wollte auf gleiche, schlagfertige Weise antworten. Mir fiel die passende Retourkutsche aber nicht ein. Stattdessen sagte ich etwas anders, und dann kamen wir auf ein ganz anderes Thema: Wir sprachen über die Vergänglichkeit.
Inzwischen hatte ich meine dunkle Breze bezahlt, ich verabschiedete mich und ging. Erst dann fiel mir auf, dass ich den Namen, den er mir angedichtet hatte, bereits vergessen hatte. Er war weg, und ich kam bei bestem Willen nicht mehr drauf. Auch jetzt nicht mehr.
Ich musste an Simonides denken. Über ihn habe ich schon einmal geschrieben. Er geht in die Geschichte ein als der erste Schriftsteller, der Geld für seine Lyrik verlangt hatte, der erste also, der das Wort als Ware erachtete (Siehe „Das Wort als Ware“).
Manche Kenner halten ihn für den größten Lyriker der griechischen Antike. Von seinem umfangreichen Werk haben allerdings nur wenige Fetzen dem Zahn der Zeit widerstanden. Stellen Sie sich vor, es gäbe Goethe nur noch in Fragmenten!
Simonides war aber in der Antike auch aus einem anderen Grund bekannt. Er galt als Erfinder der Gedächtniskunst – der Kunst sich Dinge und Worte zu merken und zu wiedergeben.
Diese Kunst war in Griechenland und Rom besonders bei den Rhetoren beliebt. Denn sie haben ihre ellenlangen Plädoyers stets auswendig rezitiert.
Die Technik funktionierte ungefähr so: Zuerst musste der Rhetor eine genau gegliederte Rede schreiben. Das war die Voraussetzung. Dann stellte er sich vor, dass jede Säule und jede Kassette der Halle, wo er seine Rede vortragen sollte, einem Teil dieser Gliederung entspräche. Es handelte sich also um ein sehr raffiniertes Eselsbrückensystem, Die Elemente der Architektur dienten als die Aufhänger.
Es gibt übrigens eine andere Methode, Texte auswendig zu lernen. In meinen jungen Jahren habe ich geschauspielert und mitunter sehr lange Texte aus dem Gedächtnis vortragen müssen. Wir lernten aber Wort und Bewegung zu vereinen. Jeden Handgriff, jeden Schritt haben wir mit den entsprechenden Worten verlinkt. Es hat großartig geklappt.
Nun werden Sie zwei Techniken der Gedächtniskunst meistern können. In der Antike erzählte man, dass Simonides vorhatte, dem Feldherrn Themistokles die Gedächtniskunst beizubringen. Woraufhin Themistokles geantwortet haben soll : „Ich würde lieber die Kunst des Vergessens lernen. Denn mir fällt immer das ein, woran ich nicht erinnert werden möchte. Ich kann nicht vergessen, was ich vergessen möchte.“
Ich wäre der perfekte Lehrer für Themistokles gewesen. Denn ich vergesse fast alles, und das schon seit Jahrzehnten. Doch auch diese Kunst kann man sehr schnell meistern: Dafür braucht man nur in der Gegenwart zu leben. Ja, so einfach ist es. Somit kann man alles vergessen, was keinen Bezug zur Gegenwart hat!
Wenn Sie meinten, ich würde Sie an dieser Stelle mit dem Namen, den ich heute früh vergessen habe, überraschen, dann haben Sie noch nicht verstanden, wie perfekt ich die Kunst des Vergessens beherrsche.
Es lebe das Vergessen! Ende der ersten Lektion.
„Ich kenne keinen Guido“, sagte meine Mutter. Warum sollte sie auch? Sie ist Amerikanerin, und außerdem interessiert sie sich überhaupt nicht für die Politik – auch nicht für die amerikanische.
Dafür liest sie aber die „Arizona Republic“. „Wer kann so viel lesen?!“, sagt sie. „Das meiste schaue ich mir überhaupt nicht an. Ich werfe es gleich weg.“ Aber mit einer erstaunlichen Fingerfertigkeit extrahiert sie die „Arizona Living“-Seiten aus der Zeitungsmasse und stürzt sich auf die Rätselseite.
Kreuzworträtsel und „Jumbles“ (Buchstabensalat, aus dem man Wörter macht,) das sind ihre Lieblinge. Sudokos? Nein, danke. Auch ein paar Comics mag sie gerne lesen. Doch nur ein paar. „Der Rest ist so idiotisch.“ Gelegentlich wird sie einen Artikel über Deutschland überfliegen – z.B. dass jetzt Oktoberfest ist – , weil sie weiß, dass ich in Deutschland lebe. Aber sie verliert das Interesse am Inhalt sehr schnell.
Als ich neulich am Telefon den Namen Silvio Berlosconi fallen ließ, reagierte sie mit Unkenntnis. „Weißt du nicht, wer das ist?“ fragte ich.
„Nein, wer ist das?“
„Nicht so wichtig“, antwortete ich. Und so ist es: Für sie ist der Name Berlusconi ebenso unwichtig wie der von Guido.
Nein, nein. Kein Anzeichen von Demenz oder Alzheimer. Nur Desinteresse für das, was sie nicht direkt tangiert.
Und somit habe ich ein Problem gelöst, dass die Wissenschaft seit Jahrhunderten geplagt hat. Meine eigene Mutter ist die Antwort auf die Frage: Wie ist der Mensch, wenn er nur nach seiner ureigenen Natur lebt? Früher war in Gelehrtenkreisen von „homo ferus“ – zu Deutsch „der wilde Mensch“ die Rede.
Die Wissenschaftler haben wirklich geglaubt, es gebe Menschen, die nie Kontakt zu anderen Menschen hatten. Heute wissen wir, dass das unmöglich ist. Ohne Kontakt zu anderen geht der Mensch – erst recht als Kind – ein. (Über Wolfskinder brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Tiere machen sehr schlechte Mütter für Menschen). Meine Mutter hingegen ist der lebende Beweis, dass es den „homo naturalis“ gibt. Das heißt: Sie und Milliarden andere Menschen, deren Interesse nicht weiter als ihre unmittelbare Umwelt reicht. Diese Milliarden kennen weder Berlusconi (sorry, Silvio) noch Guido – höchstens Michael Jackson. Dennoch kämen sie nie auf die Idee, sie hätten etwas verpasst.
Hier ein bekanntes Beispiel aus der Frühzeit des Rätselratens über den „homo naturalis“: das des „Wilden Peters“. Er wurde 1724 – damals war er vielleicht dreizehn Jahre alt – in Hameln entdeckt. Stumm und nackt stand er da und trug noch Reste zerfetzter Kleider am Leib. Schnell gingen die Meinungen auseinander: Naturkind oder verblödetes Kind?
Zufälligerweise hatte der englische König Georg I – ehemals Georg Ludwig, Kurfürst von Hannover – von diesem Knaben erfahren. Er nahm Peter nach London mit, wo die angesehensten Geisteswissenschaftler dieser Zeit ihn näher untersuchen sollten.
Peters erster „Lehrer“, der Arzt und Mathematiker John Arbuthnot, kam auf die geniale Idee, dem Jungen Englisch beizubringen. Der Wissenschaftler meinte, wenn er Englisch lernt, wird er von allein über seine abenteuerliche, wilde Vergangenheit erzählen. Peter lernte kein einziges Wort, und der enttäuschte Wissenschaftler gab auf. Vorteil Peter. Er durfte den Rest seines langen Lebens auf Staatskosten auf dem Land verbringen. Ab und zu meldete sich ein Wissenschaftler, der in des „wilden“ Manns Seele zu schauen gedachte. Aber das gelang letztlich niemandem.
Ich bin überzeugt, dass Peter, wenn er heute lebte, auch wenn er sprechen könnte, nicht wissen würde, wer Silvio Berlusconi ist. Auch nicht, wer Guido ist. Dennoch kein Grund, kein schönes Leben zu haben. Nicht wahr, Mutter?
Heute muss ich Namen nennen.
Es geht um die „Süddeutsche Zeitung“ – nicht um die Zeitung als Nachrichtenlieferanten – zumindest heute nicht. Nein. Ich habe ein Hühnchen mit dem „SZ-Aboservice“ zu rupfen.
Die Geschichte fängt recht unschuldig an. Doch oft haben die größten Scheußlichkeiten der Weltgeschichte harmlos begonnen.
Mittwoch früh habe ich – wie jeden Tag (außer sonntags) – die Wohnungstür aufgemacht, um die auf der Matte liegende SZ hereinzunehmen.
Sie war aber nicht da. Sogleich habe ich an verschiedene Erklärungen gedacht: zum Beispiel, dass der Zusteller krank wäre, oder dass ein Wiesnbummler, der in München fremd war, unser Haus mit dem Schottenhamelzelt verwechselt hätte. Er habe die Zeitung vor unserer Wohnungstür gesehen und fälschlich angenommen, dass man im Schottenhamelzelt auch kostenlose Zeitungslektüre bekomme.
Letzten Endes weiß ich aber nicht, warum die Zeitung gefehlt hat. Ist doch egal.
Was macht der besonnene Kunde in dieser Situation? Früher hätte ich bei der SZ angerufen, um das Fehlen der Zeitung zu melden. Der besorgte Mitarbeiter am anderen Ende der Strippe hätte sich tausendmal entschuldigt und mir versprochen, die fehlende Zeitung gutzuschreiben.
So war es früher. Heute kann man die „Servicenummer“ anrufen. Das macht man aber sehr ungern. Es kostet nämlich 14 Cent die Minute, um jemandem vom „Lesermarkt“ – nein, ich mache keine Witze, so heißen wir Kunden und es klingt wie „Sklavenmarkt“ – das Fehlen der Zeitung zu melden. Das Gespräch dauert zumeist über zwei Minuten – und es kommt auch mal vor, dass man in der Warteschlange landet, wenn der Mitarbeiter „andere Kunden betreut“. Das kann sauteuer werden.
Die andere Möglichkeit: Man kontaktiert die SZ über das Online-„Aboservice“. Und gerade das wollte ich auch machen. Doch nun erfuhr ich, dass ich erst Mitglied des Onlineklubs werden müßte, um die fehlende Zeitung zu reklamieren. Das heißt: mich mit Benutzernamen, Passwort usw. ausrüsten. Danke, nein.
Ich hatte aber Glück. Ich stieß zufällig auf eine Mail, die ich früher mal von der Serviceabteilung erhalten hatte, als die cleveren Betriebswirtschaftler noch nicht die Idee für ihren „Klub“ ausgeheckt hatten. Postwendend schickte ich meine Reklamation an diese Adresse und bat um das Gutschreiben der fehlenden Zeitung, ebenfalls um eine Bestätigung, dass man meine Mail erhalten habe.
Die Antwort kam prompt an. Sie war allerdings, „computergeneriert“ und ungefähr so lang wie der 2. Brief an die Korinther, nur weniger erbaulich. „Bitte entschuldigen Sie, wenn die Zustellung Ihrer Süddeutschen Zeitung Grund zur Klage gibt…“ So fing sie an. Kein Wort übers Gutschreiben. Kein Mensch also hat meine Mail gelesen .
Nun habe ich mein Anliegen ein zweites Mal formuliert und abgeschickt. Diesmal bat ich ausdrücklich um eine persönliche Bestätigung, erhielt jedoch die gleiche automatisierte Antwort wie vorher.
Nun wurde ich stützig. Zum dritten Mal schickte ich eine Mail. Doch diesmal habe ich in der Betreffzeile „Kündigung“ notiert. Sonst war der Inhalt ähnlich dem der anderen Mails. Ich war gespannt, ob endlich ein Mensch reagieren würde. Diesmal blieb eine Antwort aber ganz aus.
Erst am Donnerstag kam die Antwort. Sie bezog sich aber nur auf meine „Kündigung“. Diesen Schritt bedauere man, so hieß es: „Wir werden uns in den nächsten Tagen nochmals mit Ihnen in Verbindung setzen. Es würde uns sehr freuen, in einem Gespräch auf Ihre ganz persönlichen Beweggründe eingehen zu können.“ Ich mache wirklich keine Witze.
Nun warte ich gespannt auf dieses Gespräch.
Was hat all dies mit Sprache zu tun? Gerade diese Frage werde ich meinem Gesprächspartner vom „Lesermarkt“ stellen, falls er jemals anruft.
Fortsetzung folgt…vielleicht.
Während ich jetzt schreibe, plärrt im Hintergrund eine besonders gehässige Warteschlangenmusik. Ich habe das Telefon auf „Lautsprecher“ umgeschaltet, um meinem Ohr den direkten Kontakt zu ersparen. Momentan träume ich davon, den Komponisten samt seiner Komposition in einem Zimmer einzusperren…der übliche Rachetraum halt.
Vor genau achtundhalb Minuten wählte ich diese Nummer. Es geht um meine Flugmeilen. Da ich im Oktober in die USA fliege, möchte ich wissen, ob ich inzwischen für den lang ersehnten kostenlosen Flug genügend „Meilen“ gesammelt habe.
Wie soll ich Ihnen diese Warteschlangenmusik am besten beschreiben? Stellen Sie sich vor: Jemand hat Sie an eine Pritsche gefesselt und läßt Wasser, Tropfen auf Tropfen – allegro con moto – , auf Ihre Stirn fallen. Blipp-blipp-blipp-blipp-blipp-blipp-blipp. Ratter-Ratter-Ratter. In meiner Jugend nannten wir das die „chinesische Wasserfolter“. Keine Ahnung, was man heute dazu sagt.
Meine Theorie: Man lässt mich solange auf den „Service Representative“ warten, weil man hofft, ich werde aus Frust und Zorn auflegen und den „Klub“ nie wieder mit meinem Wunsch nach einem kostenlosen Fliegermeilenflug belästigen.
Im Gleichtakt zur Musik erklärt mir eine zickige Roboterstimme, dass Mitglieder des „Klubs“ – wie ich ja einer bin – in den letzten 25 Jahren mehr als soundso viel Milliarden Meilen gesammelt hätten, was gleich soundso Millionen Flüge zum Mond und…
Klick. „Hallo.“
Sie müssen sich jetzt vorstellen. Nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit ist der – bzw. die – „Service Representative“ endlich an der Strippe. Roboterstimme und Warteschlangenmusik ade und zwar postwendend – ja, mitten in einem Satz verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Puff!
Nach dieser Einleitung wende ich mich endlich meinem eigentlichen Thema zu: der Sprache der Toten.
Auch das Warten auf den „Service Representative“ hat mit den Toten zu tun. Aus zwei Gründen. Erstens: Wenn man in der Warteschlange steht, fühlt man sich wie nicht mehr von dieser Welt. Zweitens: Der Tod kennt keine Manieren. Oft unterbricht er einen mitten in einem Satz.
Ja und was passiert, wenn einer auf diese Weise im Redefluss unterbrochen wird? Haben die Toten eine eigene Sprache, um mit ihrer Kommunikation fortzufahren? Ich meine, ja. Sprechen sie also Deutsch, Englisch, Tagalog, Chinesisch, Georgisch oder sonst eine von den tausenden irdischen Sprachen, die bei uns stets im Wandel sind? Das glaube ich wiederum nicht. Denn wenn die Toten eine irdische Sprache sprächen, würden sie, so meine ich, nach kurzer Zeit ziemlich alt aussehen. Man kann nämlich davon ausgehen, dass die Toten die neuesten Entwicklungen und Änderungen in der Sprache gar nicht mitkriegten.
Ich habe aber eine Theorie über die Sprache der Toten. Ich meine, dass die Toten die gleiche Sprache sprechen wie die Säuglinge. Das heißt: keine. Oder sagen wir keine Sprache im üblichen Sinn. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass die Toten alles sagen können, was es zu sagen gibt und das ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Auch wir Lebende beherrschen die Sprache der Toten. Davon bin ich fest überzeugt. Haben Sie jemals Gedanken „gelesen“? Wenn man Gedanken „liest“, hat man etwas verstanden, ohne dass man Wörter gebraucht hat.
Erst im Nachhinein „übersetzt“ man einen „Gedanken“ in Wörter.
In der Warteschlange hat man reichlich Gelegenheit, die Sprache der Toten zu „reden“. Man merkt es vielleicht nur nicht. Doch man tut es wirklich. Denn man ist während dieser Zeit nicht mehr von dieser Welt, und wenn man nicht von dieser Welt ist, spricht man automatisch die Sprache der Toten. Die verlernt man nie.
Übrigens: Die „Service Representative“ war ausgsprochen nett und nahm sich sehr viel Zeit für mich. Nächstes Mal bekomme ich meinen kostenlosen Flug. Das hat sie mir allerdings in einer Sprache von dieser Welt mitgeteilt.
Die deutsche Sprache und ich, wir passen zueinander wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.
Was ich damit sagen will: Ich duze und sieze wirklich gerne.
Auch andere Sprachen unterscheiden in der zweiten Person zwischen Intimbereich und Distanz. Wenn ich täglich nur Spanisch, Französisch oder Italienisch spräche, würde ich vielleicht meinen, auch diese Sprachen passten zu mir „comme un gant“ (wie ein Handschuh) oder so. Heute geht es aber um das Deutsche.
„Faust aufs Auge“. Komische Redewendung. Denn sie kann auch das Gegenteil von „gut zueinander passen“ bedeuten. Die Franzosen sagen in dem Fall – hier grob übersetzt: „Es passt wie eine Schürze auf die Kuh“.
Warum duze und sieze ich so gerne? Ganz klar! Weil ich ein „control freak“ bin, also jemand, der alles unter Kontrolle haben will. Und das kann man dank dem Duzen und Siezen geradezu ausgezeichnet.
Aber nun erzähle ich ein Erlebnis, das meine Fähigkeit, alles mit „Du“ und „Sie“ unter Kontrolle zu halten, schwer, sehr schwer geprüft hat. Es war am vorigen Mittwoch. Ich bin – wir nennen sie Frau A., wobei ich in Wirklichkeit keine Ahnung habe, wie sie heißt – auf der Straße begegnet. Man beschreibt Frau A. am einfachsten als Stimmungsbombe. Sie strahlt positive Energie aus wie ein Geysir Wasser. Natürlich duzt sie einen und jeden. Neulich erzählte sie mir, sie sei 83 Jahre alt.
Ich habe sie trotzdem immer hartnäckig gesiezt. Man solle Menschen grundsätzlich siezen, wenn sie älter sind – so habe ich es gelernt. Es sei denn, sie bieten einem das Du an.
„Grüß dich!“ sagte sie mit dem üblichen orkanartigen Schwung. Auf einmal kam mir mein herzliches „Grüß Sie.“ als Retourkutsche recht blutarm vor.
„Ist das nicht ein toller Morgen!“ fuhr sie fort. „Der Nebel löst sich auf. Die Luft ist frisch. Ich fühle mich g r o ß a r t i g! Und noch dazu hat mir mein Arzt gesagt, der Krebs ist auf den Rückzug!“
„Ach“, sagte ich, „Ich wusste gar nicht, dass Sie Krebs haben“
„Ja“, antwortete sie. „Im ganzen Körper. Aber mit so einer wie mir hat er keine Chance! Er kann positive Menschen überhaupt nicht leiden!“
Nebenbei: An diesem Tag war mein Grundtenor, wie soll ich sagen, etwas säuerlich. Kommt auch mal beim Sprachbloggeur vor. Und dann ging mir auf dass ich mich von diesem tsunamiartigen Schwall positiver Energie seitens Frau A. ebenso irritiert fühlte wie wohl ihre Krankheit. Das muss etwas bedeuten, sinnierte ich. Negatives will sich aus dem Staub machen, wenn das Positive zu stark wird.
Ich war mir also sicher, dass Frau A. etwas sehr Wichtiges erzählt hatte.
„Ich liebe das Leben und das Alter!“ sagte sie weiter und klopfte mir dabei kräftig auf die Schulter. „Und der Tod, der ist ein alter Freund! Man hat das nur vergessen! Warum die Leute vor ihm Angst haben, ist mir schier ein Rätsel!“
Der langen Rede kurzer Sinn. Natürlich, habe ich sie gleich geduzt – trotz schlechter Laune. Heute geht es uns beiden blendend.
Der Hintergrund: Letzte Woche habe ich Post von meiner Bank bekommen. Es ging um eine „Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und der Bedingungen zum Zahlungsverkehr“.
Im großen Kuvert fand ich lauter Broschüren mit Titeln wie: „Allgemeine Geschäftsbedingungen“, „Bedingungen für den „Überweisungsverkehr“, „Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im Abbuchungsauftragsverfahren“, „Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im Einzugsermächtigungsverfahren“ und und und.
Ich werde schon müde, wenn ich nur die Überschriften aufsage.
Vielleicht sind Sie bei derselben Bank Kunde . Wenn ja, dann haben auch Sie die erwähnten Broschüren bekommen. Falls Sie kein Kunde meiner Bank sind und Ihnen keine solche „Infosendung“ von Ihrer Bank ins Haus geschneit ist, dann müssen Sie mir glauben, dass es so ist, wie ich hier erzähle. Ich verrate den Namen meiner Bank allerdings nicht, es sei denn, sie ist bereit mir 6000 oder vielleicht 8000 Euro für Werbung zu bezahlen. Keine Schleichwerbung beim Sprachbloggeur. No, Sir. Das sind meine Bedingungen.
Höchste Zeit, eine kurze Kritik an meine Bank zu richten: Liebe Bank, die Broschüren, die ich von Ihnen erhalten habe, ermuntern nicht gerade zu deren Lektüre. Zwei Spalten pro Seite und alles so kleingedruckt wie Ameisenausscheidungen und sauber nach Paragraphen gegliedert! Wer soll das ohne mehrere Semester Jurastudiums lesen wollen/können? Ende der Kritik.
Ihnen, liebe Leser, biete ich nun eine kurze Kostprobe, die ich ganz spontan aus den erwähnten Texten selektiert habe. Sie stammt aus den „Allgemeinen Geschäftsbedingungen/Auszug“. Zitat: „Die Verpflichtung der Bank zur Ausführung einer Verfügung zu Lasten eines Fremdwährungsguthabens (Absatz 2) oder zur Erfüllung einer Fremdwährungsvebindlichkeit (Absatz 2) ist in dem Umfang und so lange ausgesetzt, wie die Bank in der Währung, auf die das Fremdwärungsguthaben oder die Verbidlichkeit lautet, wegen politisch bedingter Maßnahmen oder Ereignisse im Lande dieser Währung nicht oder nur eingeschränkt verfügen kann.“
Das ist wirklich O-Ton. Mein Ehrenwort. Ich mache hier keine Witze. Verstehen Sie mich aber nicht falsch. Ich bin überzeugt, dass obiger Satz sehr wichtig ist, vor allem, wenn man eine Fremdwährungsverbindlichkeit erfüllen will. Mir machen solche Sätze aber Angst. Ja, Angst. Weil ich weiß, ich bin demjenigen, der mir solche Schriften schickt, einfach nicht gewachsen.
Damit will ich sagen: Ich weiß, dass meine Bank im Notfall mich zu etwas verpflichten kann, wenn es in den „Bedingungen“ steht, und ich kann nur hoffen, dass man es gut mit mir meint. Sonst fühle ich mich ganz ausgeliefert.
Andererseits: Die Bank räumt mir eine Frist von sechs Wochen ein, falls ich gegen diese „Bedingungen“ Einspruch einlegen will.
Doch gesetzt den Fall, ich würde die Zeit finden, all dies zu lesen, und ich würde etwas entdecken, das ich vielleicht auch kapiert habe aber womit ich nicht einverstanden wäre…und gesetzt den Fall, ich würde Einspruch einlegen, was passierte dann?
Habe ich etwas erreicht, oder wird die Hundertschaft von Rechtsanwälten, die diese „Bedingungen“ verfasst haben, mich in zwei Sätzen à 55 Cent Portokosten mit neuen Eloquenzen wegblasen?
Aber nun zu meiner eigentlichen Frage: Was will die Bank mit dieser „Infosendung“ wirklich? Sich über mich lustig machen? Mit mir Kräfte messen? Oder steckt dahinter vielleicht ein Gesetz, das der Bundestag einst aus idealistischen Gründen verabschiedet hat, damit Verbraucher besser informiert werden?
Ich weiß es nicht. Aus diesem Grund betrachte ich vorliegende Glosse selbst als Einspruch – einen realistischen freilich. Ich gebe ihn nämlich schon jetzt in den Wind .
Im Moment habe ich den Kopf so voll mit Worten, dass ich kaum mehr denken kann.
Das wird Ihnen aber zum Vorteil gereichen. Denn ich wende mich nun den Zahlen zu und werde Ihnen das Geheimnis der Zwanziger lüften.
Vielleicht wussten Sie gar nicht, dass es hier ein Geheimnis zu lüften gibt.
Es gibt es sehr wohl, obgleich ein Deutsch Sprechender nur selten auf diesen Gedanken kommen wird. Punkt! Ein Franzose weiß sofort, wovon ich rede.
Wissen Sie, wie man auf Französisch „achtzig“ sagt? Antwort: „quatre-vingt“, zu Deutsch „viermalzwanzig“.
Warum zählen die Franzosen so komisch? Vergleichen Sie das italienische „ottanta“ und das spanische „ochenta“. Eigentlich müßte ein Franzose „huitante“ für „achtzig“ sagen. Und das tun die Welschen in der Schweiz und ich glaube auch die Belgier – bin aber nicht ganz sicher.
Warum sagt ganz Paris aber „viermalzwanzig“, wenn man „achtzig“ meint?
Ich wäre nie auf die Antwort gekommen, wenn ich nicht zufällig neulich in Dänemark gewesen wäre, wo ich mein Interesse für die dänische Sprache entdeckt habe.
Fakt ist: Jeder Dänisch Lernende stolpert über die Zahlen in dieser skandinavischen Sprache. Bis „neunzehn“ („nitten“) ist die Welt noch in Ordnung. Doch dann kommt „tyve“, „zwanzig“, wörtlich „zweimalzehn“. Übrigens: Versuchen Sie bitte nicht, „tyve“ auszusprechen. Glauben Sie mir, ihre Aussprache wird garantiert falsch sein, wenn Sie keine dänische Mutter haben.
Auf „tyve“ folgt „tredive“, also „dreißig. Dieses Wort ist noch unmöglicher auszusprechen, scheint aber „dreimalzehn“ zu bedeuten, was nicht weiter schlimm ist. Auch „dreißig“ bedeutet „dreimalzehn“.
Ab jetzt wird’s knifflig: „Vierzig“ heißt auf Dänisch „fyrretyve“. Ein unmögliches Wort, das die Dänen auf „fyrre“ gekürzt haben. Die Zahl bedeutet wörtlich „viermalzehn“, was ebenso logisch ist wie „vierzig“, das auch „viermalzehn“ ist. Nur: „Tyve“ kann sowohl „zehn“ wie auch „zwanzig“ bedeuten. Fragen Sie mich nicht, warum es so ist. Mit dem dänischen Wort für „fünfzig“, „halvtredsindstyve“, wird man schier verrückt. Nicht einmal die Dänen wollen dieses Wortungeheuer in den Mund nehmen. Sie haben es auf „halvtreds“ reduziert. Die Langform bedeutet aber wörtlich „zweiundhalbmalzwanzig“. Alles klar?
„Sechsig“ ist „tresindstyve“ – die Dänen belassen es aber bei „tres“. Wörtlich: „dreimalzwanzig“. Es folgt: „Dreiundhalbmalzwanzig“, „viermalzwanzig“ und „vierundhalbmalzwanzig“. Das sind, ins Deutsche übersetzt, die dänischen Vokabeln für „siebzig“, „achtzig“ und „neunzig“. Irgendwie haben sie es mit den Zwanzigern.
Aber kehren wir nun zum französischen „quatre-vingt“ zurück. Sicherlich ist Ihnen die Ähnlichkeit mit dem dänischen „viermalzwanzig“ bereits aufgefallen. Nur Zufall?
Nein. Wir schreiben das Jahr achthundertundetwas n.Chr. Damals hatten die Vorfahren der Dänen, die Wikinger, die halbe Welt erobert. Auch das damalige Frankenreich war fest in den Händen dieser „Nordmänner“, wie man sie damals nannte. Manche von ihnen haben sich im nördwestlichen Frankenreich niedergelassen. Deswegen heißt diese Gegend „Normandie“.
Zwar haben die Nachkommen der dort ansässigen Wikinger die Landessprache, Französisch, übernommen. Ihre Art zu zählen aber haben sie zumindest teilweise in der neuen Sprache beibehalten .
Warum die Wikinger in Zwanzigereinheiten zählten? Keine Ahnung. Vielleicht hat es ihnen Spaß gemacht, die Zahl ihrer Finger und Zehen zu kontrollieren. Nicht zu vergessen: Damals gab es noch kein Fernsehen, kein Internet und keine MP3s.
Aber genug für heute. Keine Worte mehr, keine Zahlen. Ende des Geschichtsunterrichts.
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