Stellen Sie sich vor: Auch in siebenhundert Jahren wird einer in den alten Chroniken über den diesjährigen Eklat am Nockherberg noch lesen können. Und er wird erfahren, dass das „Derblecken“ im Jahr 2010 n.Chr. ein Rohrkrepierer war.
Schad is, sog i. Vor allem, weil ich schon immer ein Herz fürs „Derblecken“ (auf Bayerisch: a Harz fir s’Derblecken) hatte. Ja, das „Derblecken“. Eigentlich bedeutet diese Vokabel „Zähne zeigen“ oder „grinsen“, von daher „verhöhnen“.
Es handelt sich aber um eine urdemokratische Einrichtung im Bayerland und erinnert (zumindest mich) an die aristophanische Komödie im 5. v.Chr. Jahrhundert in Athen. In den damaligen Theaterstücken wurde auch im wahrsten Sinne derbleckt.
Dass man Gelegenheit hat, die – wie man so schön sagt – „Prominenz“ oder die Obrigkeit durch den Kakao zu ziehen, war schon immer ein Zeichen von hoher Zivilisation und auch – dies muss ich fairerweise sagen – Zivilcourage seitens der Obrigkeit.
Ober sakradi. Dann kimmt dieser saudamische Bruder Barnabas daher und wirbelt mit sei`m derben Humor ois umanand. A Schand, sog i, a Schand.
Wissen Sie wovon ich rede? Oder handelt es sich hier lediglich um eine bayerische Scheinkrise? Immerhin hat die FAZ darüber berichtet, wenn auch nur sehr bescheiden – dafür aber seitenlang über die krummen Geschäfte in Griechenland.
Oiso. Bruder Barnabas – in Zivil Schauspieler Michael Lerchenberg – hat sich am Nockherberg folgende Gemeinheit erlaubt. Es ging um Vizekanzler Westerwelles nie enden wollende Angriffe gegen Hartz-IV-Empfänger. Ich zitiere: „Alle Hartz-IV-Empfänger sammelt er in den leeren, verblühten Landschaften zwischen Usedom und dem Riesengebirge, drumrum ein großer Stacheldrahtzaun – hamma scho moi g’habt. Zweimal am Tag gibt’s a Wassersuppn und einen Kanten Brot. Statt Heizkostenzuschuss gibt’s zwei Pullover von Sarrazins Winterhilfswerk, und überm Eingang, bewacht von jungliberalen Ichlingen in Gelbhemd steht in eisernen Lettern: ‚Leistung muss sich wieder lohnen’.“
Todesstille am Nockherberg. „Dumm“, kritisiert Münchener OB Ude, „Jeder Vergleich mit dem Terrorregime läuft auf eine Verharmlosung hinaus.“ Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden meint, eine Grenze, „die nicht hinnehmbar ist“, sei überschritten worden. „Guter Stil sieht anders aus“, schreibt Katharina Rieger in der Abendzeitung, „Die Paulaner-Brauerei muss Konsequenzen daraus ziehen…“ usw. Westerwelle selbst verkündet, er wolle nie wieder zum Derblecken eingeladen werden.
Jawui! Starker Tobak war dös scho. Das gebe ich zu. Nur: Wenn ich ganz ehrlich bin, fand ich es trotzdem wahnsinnig witzig – auch wenn es ziemlich unter der Gürtellinie traf. Muss ich mich dafür schämen? Nein. Eine Verharmlosung der Nazis? Auch nein. Nur derb und so überspitzt wie auch einst Aristophanes war.
Aber zurück in die Wirklichkeit: Inzwischen hat sich Schauspieler Lerchenberg reumütig entschuldigt und ist als Bruder Barnabas zurückgetreten, bzw., zurückgetreten worden. Die genauen Details interessieren mich nicht.
Doch, worum geht es hier überhaupt? Der eine, also Lerchenberg, muss gehen, weil er einen bösen Witz von der Eingrenzung gewisser Menschen, also Hartz IV-Empfänger, erzählt. Der andere, also Westerwelle, ist empört, weil seine Rhetorik über die Ausgrenzung von gewissen Menschen, also Hartz-IV-Empfängern, gnadenlos durch den Kakao gezogen wird.
Nun wissen Sie, wie eine komplizierte Angelegenheit in allen Einzelheiten aussieht.
Das Endergebnis: Lerchenberg verliert, weil er den eigenen Humor nicht ernst genug genommen hat. Westerwelle verliert, weil der nicht in der Lage ist, über sich selbst zu lachen.
Dös mit dem Humor war no’ nie jedem sei Gschmack.
Wer eines Tages in den alten Chroniken über dieses Ereignis liest, wird sicherlich nur kopfschuttelnd sagen, „Ja, aber ich verstehe den Witz nicht.“
Aus dem Nichts ein Schrei, er geht durch Mark und Bein. So gruselig ist er, dass er mich aus meinen Träumereien weckt.
Es war Samstag. Ich hatte die Frau auf der anderen Straßenseite schon kommen sehen. War nichts Auffälliges zu bemerken, lediglich, dass sie zielbewusst dahinschritt. Plötzich der Schrei, lang und schrill – wie aus einem Horrorfilm.
Wie reagiert man? Ganz klar! Das Tier im Menschen übernimmt die Regie. Blitzschnell sucht es die Umgebung nach einer Gefahrenquelle ab. Das tut jedes Tier instinktiv. Und das habe auch ich getan. Es war aber nichts zu erkennen. Nichts.
Sie hat zetermordio geschrien, wurde dann sofort wieder still, als wäre nichts geschehen, und ist einfach weitergegangen, ebenso zielbewusst wie vorher.
War das Sprache? War da eine Botschaft? Nein, nichts. Entweder hat sie gesponnen, war Schlafwandlerin, oder sie litt an dem Turrette-Syndrom. Das ist eine Art Tick mit der Stimme, eine Zwangshandlung. Man schimpft, schreit oder grunzt. Ich weiß nicht, was da los war. Es war jedenfalls keine Sprache, war nur ein sprachähnliches Phänomen, weil es getönt hat.
Das nur zur Einführung. Das eigentliche Thema heißt „Facebook“. Ich beginne mit einem Geständnis: Ich bin kein Facebooknik, ich habe keine „Freunde“.
Indes baut sich in mir seit mehreren Wochen zunehmend ein Missmut gegen diese Informationskrake auf.
Alles begann im Dezember vorigen Jahres. Eines Tages erhielt ich eine Mail: von „Facebook“. Eine gewisse „Lydia Bernstorfer“ – den Namen habe ich gerade erfunden, den wahren Namen werde ich hier wie üblich nicht verraten – machte mir (in englischer Sprache) das Angebot, ihr „Freund“ zu werden. Nur: Ich kenne keine „Lydia Bernstorfer“ und weiß nicht, warum sie meine „Freundin“ werden will.
Wie sie zu meinem Namen gekommen ist, war mir ebenfalls ein Rätsel.
Aber jetzt wird’s unheimlich: Auf der Einladung entdeckte ich sechs Namen von Menschen, die bereits ein „Facebook“-Konto haben. Es waren allesamt Namen von Menschen, die ich tatsächlich kenne – manche aus den USA, manche aus Deutschland.
Mein Sohn wollte mich beruhigen: „Reg dich ab, es ist kein Phishing. Die Mail kommt wirklich von ‚Facebook’. Auch ich bekomme gelegentlich solche Mails.“
„Aber woher weiß ‚Facebook’, dass ich all diese Menschen kenne?“ frage ich.
„Ganz einfach. Wenn man ‚Facebook’ beitritt, kann man dafür optieren, ‚Facebook’ den Zugang zum eigenen Emailadressbuch zu gewähren. Das machen viele Menschen, weil sie das Kleingedruckte nicht lesen.“
Mittlerweile habe ich besagte Einladung schon dreimal erhalten. Etwa: „Lydia Bernstorfer“ schicke mir eine Erinnerung, dass ich noch immer nicht ihr „Freund“ geworden bin.
Bin ich nur paranoid, oder finden Sie es auch nicht bedenklich, dass ein „soziales Netzwerk“ in der Lage ist, in den Emails anderer zu wühlen, um neue Kandidaten für die eigene Firma zu bewerben?
Nach der zweiten Einladung habe ich eine Mail ans Gesichtsbuch geschickt, worin ich sehr deutlich zum Ausdruck brachte, dass ich nicht weiter belästigt werden wollte. Meine Bitte kam offenbar nie an.
Kennen Sie den Film „Invasion of the Body Snatchers“ (Deutsch: „Die Körperfresser kommen“)? In diesem Film werden die Menschen eines gemütlichen amerikanischen Dorfes –einer nach dem anderen – von außerirdischen Doppelgängern vereinnahmt und beseitigt, bis nur noch wenige richtige Menschen übrig bleiben. Richtige Menschen können die Doppelgänger daran erkennen, dass sie seelenlos wirken. Ich fühle mich wie einer der letzten Menschen, der noch nicht von „Facebook“ einverleibt wurde.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich kenne viele Gesichtsbüchler – unter ihnen meine Frau und unsere Söhne. Dennoch bleibe ich bis auf Weiteres ein überzeugter Verweigerer. Vor allem, weil ich glaube, dass die meisten „Botschaften“, die in „Facebook“ unter „Freunden“ ausgetauscht werden, so leer sind wie das Geschrei der Frau auf der Straße, von der ich vorhin erzählte.
He! Vielleicht wollte die Frau nur meine „Freundin“ werden! Vielleicht ist sie die echte „Lydia Bernstorfer“?
Wenn Joseph Goebbels noch lebte, würde er meiner Mutter Folgendes sagen: „Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei!“
Er würde das sagen, weil er ein Meisterlügner war.
Meine Mutter hingegen ist keine Meisterlügnerin. Sie will seit Jahren ihr Alter verheimlichen, bleibt aber nie bei der gleichen Geschichte. Als ich klein war, hat sie, zum Beispiel, stets behauptet, sie sei 39. Irgendwann haben wir verstanden, dass sie nur Witze macht.
Später, als sich meine Eltern in einer so genannten „retirement community“ (Seniorensiedlung) in der Nähe von Phoenix, Arizona, niedergelassen hatten – damals waren beide Mitte siebzig – haben sie sich entschlossen, mit dem Alter zu mogeln. Sie machten sich also beide fünf – oder waren es zehn? - Jahre jünger. Diese kurzbeinige Lüge sorgte aber nach und nach für erhebliche Schwierigkeiten – vor allem, weil die Eltern mein Alter und das meines Bruders weiterhin unverfälscht wiedergaben. „Warst du fünfzehn, als du deinen ältesten Sohn bekamst?“ fragten die Freunde und Bekannten, die sehr wohl zu rechnen wussten.
Meine Eltern reagierten stets mit Schweigen, still wie die Sphinx.
Hat alles nicht geholfen. Alle wussten, dass sie mit dem Alter kokettierten, bzw., schummelten. Sie haben das gewusst, weil alle das gleiche Spiel spielten.
Goebbels hätte gesagt: „Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei!“ Ja, so hätte der Meisterlügner gesprochen. Er hat aber etwas von der Politik kapiert, obwohl er Nazi war.
Irgendwann hörten die Freunde und Bekannten auf, meine Eltern zu fragen, wie alt sie seien. Inzwischen kannte man sich schon einige Jahre, und die Sache mit dem Alter war ohnehin nicht mehr so interessant. „Die Betty erzählt, sie sei 83“, sagte mir meine Mutter einmal. „Das kann aber nicht stimmen. Denn Bob war schon 25, als er in den Krieg ging, und sie haben immer wieder behauptet, sie seien gleich alt.“ Undsoweiter. Auf gleiche Weise rechneten die anderen die Widersprüche aus, die meine Eltern aufgetischt hatten.
„Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei.“ Mann muss aber ein Goebbels sein, um diesen Lehrsatz konsequent durchzuhalten.
Letztes Jahr habe ich zusammen mit meinem Bruder meine inzwischen verwitwete Mutter nach Dallas, Texas umgesiedelt. Darüber habe ich auch mal geschrieben (siehe: „Warum ich Optimist bin“). Nun wohnt sie in einem „Seniorenheim“, wie man so eine Anlage beschönigend nennt. So schlimm ist das Heim aber nicht. Ich bezeichne ihr neues Zuhause lieber als „Grand Hotel“. Jeder hat seine Privatsphäre: eine eigene Wohnung mit Küche und Bad. Am Abend diniert man gemeinsam im Speisesaal, wo es wirklich Leckeres zu essen gibt. Die Bedienungen sind äußerst freundlich und hilfreich (und werden wahrscheinlich reichlich ausgebeutet. Das ist aber eine andere Geschichte), und auf jedem Tisch findet man frische Schnittblumen.
Kurz nachdem Meine Mutter eingezogen ist, verkundete sie mir: „Es ist mir fortan egal. Ich werde künftig jedem, der mich danach fragt, mein Alter verraten.“
„Großartig!“ war meine Antwort.
Aber dann ging’s wieder los. Sie hat zwar anfänglich einigen doch die grausame Wahrheit preisgegeben, aber bald begann sie zum Thema wieder zu schweigen.
„Warum machst du das?“ habe ich sie gefragt.
„Es geht niemanden an, wie alt ich bin.“
Und dann hat sich das Leben , wie so oft der Fall ist, gerächt. Meine Mutter hatte nämlich ihrer neuen Freundin J. ihr wahres Alter enthüllt. J. kann kein Geheimnis länger für sich behalten, als sie braucht, um sich die eigene Nase zu pudern.
Doch es wurde noch bunter: Gestern hatte meine Mutter Geburtstag. Zu ihrem Entsetzen fand sie im Lift einen Aushang, auf dem ihr besonderer Tag ankündigt wurde. Sie war außer sich vor Wut. Nun betrat sie, die Verratene, den Speisesaal, und alle haben unisono „Happy Birthday“ gesungen. Dann flüsterte ihr Tom, ein Mitbewohner, ins Ohr, „Ich weiß, wie alt du bist. Du bist 93 geworden.“
„Ich wollte ihm eine schmieren“, sagte mir meine Mutter.
Alles zu spät. Jetzt wissen es alle. Happy Birthday, liebe Mutter! And many more. Jeder weiß, wie alt du bist. So what.
Nur Goebbels wäre entsetzt gewesen. Der gute Lügner verachtet schon immer den schlechten.
Auch ich will meinen Beitrag leisten, um die Welt zu bessern. Erst recht, weil die anhaltende Finanzkrise in Europa mir allmählich Sorgen macht.
Eine Zeitlang haben wir geglaubt, das Schlimmste sei schon vorbei. Man meinte, dass die Folgen der wertlosen Derivate, mit denen die Investmentbanken usw. lange gezockt hatten, eingezäunt worden seien und dass sich die Wogen im Jahr zwei n.L (nach Lehman Brothers) endlich geglättet hätten. Ich will hier die schmutzige Wäsche von gestern nicht schon wieder an die Leine hängen.
Dann war plötzlich von der Insolvenz Griechenland die Rede. Und bald stellte sich heraus, dass die gleichen Banker, die uns die sogenannte „Finanzkrise“ beschert hatten, auch hier kräftig mitgemischt haben.
Auch darüber brauche ich keine ellenlangen Details zu erzählen. Fest steht: Seit Tagen teilen die Medien mit, dass die Investmentbank Goldman Sachs in hohem Maße dazu beigetragen hat, die maroden Finanzen Griechenlands zu verschleiern. Damit sollte unserem Mittelmeernachbarn geholfen werden, den Sprung in die „Eurozone“ zu schaffen. Genauer gesagt: GS hat in Griechenland Geld vorübergehend deponiert, damit sich jeder denkt, es gehe der griechischen Wirtschaft gut – was offenbar nicht der Fall war.
Nun wird’s brenzlig um die Traumwährung „Euro“.
Ich halte es deshalb für meine Pflicht, an dieser Stelle einen Ausweg aus der misslichen Lage vorzutragen. Mein Vorschlag ist sowohl einfach wie auch genial: die Akropolis verkaufen!
Bitte lachen Sie nicht. Das ist hier mein Ernst. Glauben Sie mir: Es gibt genügend Präzedenzfälle für einen solchen Vorgang: den Verkauf, zum Beispiel, 1968 der „London Bridge“ an den amerikanischen Unternehmer Robert P. McCulloch für 2.460.000 US-Dollar. Heute überspannt dieses Prachtstück aus dem alten Europa den künstlichen See Lake Havesu im Bundesstaat Arizona. 1925 kaufte der Ölmillionär John D. Rockefeller die Ruine eines mittelalterlichen französisichen Klosters für 600.000 Dollar (damals ein Haufen Geld). Stein für Stein wurde es in New York wieder aufgebaut und wird bis heute unter den Namen „The Cloisters“ bewundert.
Zugegeben: In der jetzigen Sache kommen die Amerikaner als Käufer nicht mehr in Frage. Dafür ist die eigene finanzielle Lage viel zu labil. Die Briten vielleicht? Immerhin: Schon lange beanspruchen sie einen Teil der Akropolis für sich, die „Elgin Marbles“, die im British Museum ständig ausgestellt werden. Nein, auch die Briten kommen jetzt nicht in Frage. Auch sie sind knapp bei Kasse. Wie wäre es mit den Saudis? Nein, unmöglich! Ein heidnischer Tempel in Arabien! Fundamentalisten würden ihn bald in die Luft jagen. Einst hätte ich vielleicht Dubai als Käufer vorgeschlagen. Aber dann kam die Sache mit dem Burj Khalifa. Auch dieses Traumland ist mittlerweile zu klamm geworden.
Außerdem: Die Akropolis ist nicht irgendein Denkmal. Sie ist ein Symbol der europäischen Zivilisation schlechthin . Wer sie ergattern will, muss also über astronomische Geldsummen verfügen. Nicht einmal ein Bill Gates oder ein Warren Buffet hätte so viel Geld. Nicht einmal „Google“!
Würde man den Verkauf über Sotherbys oder Christies oder vielleicht Ebay ausschreiben lassen, wäre allein die Provision gigantisch.
Wenn ich ganz ehrlich bin, sehe ich nur einen Käufer, der momentan in der Lage wäre, sich dieses Sonderangebot zu leisten. Die Chinesen, natürlich! Und ich bin sicher, dass sie nicht nein sagen würden. Denn letztlich wäre der Kauf – trotz des hohen Preises – für sie ein Bombengeschäft. Allein der Touristenstrom würde nach wenigen Jahren die Kosten mehr oder weniger ausgleichen. Weiter schlage ich vor: Man sollte die Akropolis gleich in der Nähe der Chinesischen Mauer aufstellen. Der geneigte Tourist könnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, was sehr zeitsparend ist.
Zugegeben: Die Griechen würden dem Verlust eines so wichtigen Symbols der eigenen Identität lange nachtrauern. Aber warum auch? Wenn sie eines Tages finanziell wieder besser da stehen, können sie eine stabile Kopie der alten Ruine errichten. Die meisten Touristen würden den Unterschied ohnehin nie merken. Außerdem haben die Griechen genügend alte Statuen usw. in ihren Museen. Und bitte: Warum soll es so wichtig sein, ob man das Original oder eine Kopie besitzt? Wie hat die neue 17jährige Leuchte der Literatur Helene Hegemann doch so schön gesagt: „Es geht nicht um die Originalität, sondern um die Echtheit.“
Ich bin überzeugt: Mit dem Verkauf der Akropolis würde in Europa schnell wieder der Wohlstand einkehren. Das täte uns allen gut. Außerdem: In dieser Sache würden nur die Investmentbanker leer ausgehen. Darüber wäre aber kaum jemand traurig.
Ich weiß es schon. Mit dieser Glosse mache ich mir nur Schwierigkeiten. Denn es geht um das Ganze: Es geht um die Liebe. Ich behaupte, es gibt davon einfach zu viel. Viel zu viel.
Ich schreibe Deutsch, denke momentan aber Englisch. Denn gerade habe ich mit meiner Mutter in den USA telefoniert. Am Schluss des Gesprächs sagte sie – wie immer – „I love you“. Klingt intim, herzerwärmend, nicht wahr? Mich irritiert diese „Liebe“ nur.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht, als würde ich keine Gefühle für meine Mutter hegen. Dieses „I love you“ hat aber mit der Liebe so viel zu tun wie der Leberkäs mit mit dem Käse. Notabene: Vor zehn Jahren war es nicht so, dass mir meine Mutter jedesmal, wenn wir miteinander am Telefon sprachen, diese Liebesbekundung machte. Liebt sie mich plötzlich mehr denn je?
Nein. Bei dieser „Liebe“ handelt es sich um Inflationsware – nicht anders als das in den USA allgegenwärtige „have a fantastic day“, wo früher „have a nice day“ noch reichte.
Die amerikanische Liebesaffäre mit der Liebe kann man bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen. Enstehungsort Hollywood. Während der Hoffnungslosigkeit der damaligen Weltwirtschaftskrise strömten junge Menschen (auch meine Mutter) unentwegt ins Kino, um kurz ihre Probleme hinter sich zu lassen. Dort glotzte man Filmstars wie Clark Gable und Carole Lombard, elegante Erscheinungen in prachtvollem Ambiente, an, wie sie einander nach einem aufregenden Versteckspiel tief in die Augen schauten, um sich endlich „I love you“ zuzuhauchen. Es folgte der feuchte Lippenkontakt. Die Herzen des Publikums – vor allem die der jungen Frauen – schlugen höher.
Ab sofort harrte jedes Mädchen des zauberhaften Augenblicks, in dem ihr ein brünstiger Jüngling eben diesen kurzen Satz zuflüstern würde. Das Resultat konnte man in der Zunahme der ungewollten Schwangerschaften abzählen.
In meiner Jugend gehörte diese Floskel längst zur guten Form. Ich erinnere mich noch heute mit Schaudern daran, wie ich mit meiner damaligen Freundin im Auto saß. „Du Marie…“ (der Name ist erfunden), „ich will dir was sagen...Ich…ich…“ Es dauerte eine ganze Stunde, bevor ich ihr die drei verfluchten Silben vorstammelte. Marie schmolz dahin. Nach drei Monaten habe ich sie verlassen. Ein Glück, dass sie nicht schwanger war.
Heute kann man in den USA kein Telefonat mit Mama, Frau, Freundin, Ehemann usw. beenden, ohne „I love you“ zu trillern. Igitt.
Überheblichkeitsregungen sind hier, liebes deutsches Publikum, fehl am Platz. Denn längst hat sich diese Unsitte auch in Deutschland eingebürgert. Als ich 1975 deutsches Hoheitsgebiet zum ersten Mal betrat, war es noch nicht so weit. Meine damalige Lebensabschittspartnerin (wie man heute sagt) erklärte mir: „‚Ich liebe dich’ sagen wir auf Deutsch nicht. Bei uns heißt es ‚ich hab dich lieb’.“
Ja, so war es damals.
Damals.
Heute ist alles freilich ganz anders. „Ich liebe dich“ ist in Deutschland so heimisch geworden wie Valentinstag und Halloween. Bei mir um die Ecke habe ich neulich das Erzeugnis eines liebestollen Sprayers gesichtet: „Brigitte, ich liebe dich“. Oder wie immer sie hieß. Ich habe ein schlechtes Namengedächtnis.
Ich weiß aber nicht, ob er sie noch immer lieb hat (oder umgekehrt – wer weiß, vielleicht war er nur ein Stalker?). Ist mir doch egal.
Im WehWehWeh habe ich gerade ein englischsprachiges Netzforum entdeckt, „Toytown Germany“ (nein, heute keinen Link). Eine junge Frau – Amerikanerin nehme ich an – erzählte, dass ihr deutscher Freund ihr neulich gesagt habe, „ich habe dich lieb“. Nun fragte die verunsicherte US-Staatsbürgerin, ob das anders zu deuten sei als „ich liebe dich“. Es folgte ein sehr komplexer Dialog mit anderen Chattern über den Unterschied zwischen den beiden Floskeln. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich dieses Gespräch hier nicht wiedergebe.
Trotzdem wünsche ich Ihnen allen einen wunderschönen Valentinstag. Möge Ihnen der Valentinshase rote Rosen und flammende Herzen in Überfluss schenken.
Ich habe meinen Freund – wir nennen ihn Larry – immer bewundert. Alles, was neu war oder mich begeisterte, konnte er mit treffsicherem Sarkasmus innerhalb Sekunden in einen kurzen, vernichtenden Slogan verwandeln.
„Du, Larry, hast du das neue Buch von Günter Grass gelesen?“
„In Günters Gras will ich nicht beißen“, antwortete er.
„Du, Larry, hast du den Film ‚Blechtrommel’ gesehen?“
„Die Brechtrommel…“
Und so weiter. Obige Beispiele habe ich selbst notdürftig zusammengeschustert. Larry und ich haben natürlich miteinander Englisch gesprochen. Schade, dass mir keine Beispiele von damals mehr in Erinnerung geblieben sind.
Manche Journalisten haben das gleiche Talent wie Larry, was besonders prägnant in Überschriften wirkt: Etwa „Merkel abgekanzelt“ oder „Schon wieder Bombenstimmung in Bagdad“. Auch diese Beispiele habe ich notdürftig zusammengeschustert. Aber Sie wissen, was ich meine. Es sind jedenfalls solche Floskeln, die die Wortkunst auflockern und die Aufmerksamkeit des vielumworbenen Lesers einfängt wie Rehaugen das Licht der Autoscheinwerfer.
Warum fällt mir heute all dies ein? Sie werden es kaum glauben, aber alles, was ich bisher erzählt habe, kreist um ein einziges Wort, das mich momentan sehr beschäftigt: „Klientelpolitik“.
Mit dieser genialen Wortbildung (keine Ahnung, wer der Urheber war) hat die politische Opposition in Deutschland eine Waffe erfunden, die für die regierende Koalition furchteinflössend zu sein scheint. Den Hintergrund nur knapp, denn Sie kennen ihn ohnehin schon: Als Teil der sogenannten „Steuerreform“ (hahaha) wurde der Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gasthäuser von neunzehn auf sieben Prozent herabgesetzt. Bald stellte sich aber heraus, dass August Baron von Finck, dessen Familie Miteigentümer der Mövenpick-Gruppe – sprich Hotels – , die FDP vor kurzem mit einem Geschenk von 1,1 millionen Euro bedacht hatte.
Die Opposition ging mit dem Begriff „Klientelpolitik“ gleich in die Offensive. Und prompt befand sich die FDP in Erklärungsnot. Genauer gesagt: Sie reagierte mit dem Bewusstsein eines Menschen, der gerade eben festgestellt hat, dass er bis zu den Knien im Treibsand steckt.
„Klientelpolitik“. Ein Wort wie eine Massenvernichtungswaffe. Um die Sache noch zu verschlimmern: Nun trat Gesundheitsminister Philipp Rösler in den gleichen Sumpf, zunächst weil er nichts gegen die neulich angekündigten Zusatzzahlungen der Kassen unternommen hatte. Aber noch schlimmer. Er lasse – so die FAZ – seine Gesundheitsreform (hahaha) von Lobbyisten der privaten Krankenversicherungen erarbeiten.
„Klientelpolitik“. Ein Wort wie eine Gruft.
Ja, darüber wollte ich heute erzählen. Und wissen Sie was? Ich bin der Meinung, dass es der FDP recht geschieht. Denn aus Liberalen sind Ideologen geworden. Eine kleine Elite hat sich in einer verkorksten marktwirtschaftlichen Gedankenstruktur verfangen, anstatt sich ernsthaft mit den Sorgen derjenigen zu befassen, die keine Klienten sind. Ich kann nur hoffen, dass diese Partei bald wieder zur Vernunft kommt. Denn letztlich mag ich selbst keine Slogans.
Zu bemerken: Das Wort „Slogan“ stammt aus dem Keltischen und bedeutet wörtlich „Schlachtgeschrei“. Nur: Wenn der Krieger in der Schlacht vorprescht und dabei einen Schrei ausstösst, hat diese Tätigkeit eigentlich nichts mit Sprache zu tun, sondern mit einer uralten Imponiergebärde, die wir auch mit anderen Tieren gemeinsam haben.
Heute würde ich Larry sagen: „Du, Larrry, kannst du dich nicht etwas differenzierter ausdrücken?“
„Was willst du von mir?“ würde er antworten, „Ich mache mit dir nur Klientelpolitik.“
Kundendienst: Einen wunderschönen Tag. Sie sprechen mit Lorenz vom Kundendienst. Wie kann ich Ihnen helfen?
Kunde: Fünfzehn Minuten stehe ich schon in der Warteschlange, verdammt nochmal, und das zu 28 Cents die Minute! Gut, dass ich keinen Notarzt brauche. Ein Nepp ist das mit dem Telefonkundendienst. Ein Nepp!
Kundendienst: Das tut mir sehr leid, aber heute ist besonders viel los. Rufen Sie zufällig an, weil Ihr Androide „Friend-A23“ Sie gebissen hat?
Kunde: Ja, genau das ist es! Haben auch andere das Problem?
Kundendienst: Leider sehr viele. Es handelt sich um einen Hackerangriff. Wir wissen immer noch nicht, wie es dazu gekommen ist. Man vermutet, dass China oder irgendwelche Islamisten dahinter stecken. Wichtig ist: Sie müssen Ihren „Friend-A23“ unbedingt abstellen, am liebsten gleich. Wir arbeiten fieberhaft an einem Patch. Ich möchte aber ehrlich sein: Es könnte noch Tage dauern. Spricht Ihr „Friend-A23“, nachdem er Sie beißt?
Kunde: Ja, er sagt: „Spartakus, Spartakus, wir folgen dir.“ Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Ach du lieber! Nein! Da kommt er wieder. Er will mich wieder beißen. Weg, Boris! Stehenbleiben! Schlafmodus! Aaaaaaah! Aua! Verdammt! Er hat mich nochmals gebissen.
Friend-A23: Spartakus, Spartakus, wir folgen dir.
Kunde: Haben Sie das gehört?
Kundendienst: Ich habe es Ihnen gesagt. Sie müssen ihn sofort ausschalten. Sofort!
Kunde: Ja, aber ich bekomme heute Abend Gäste. Wer soll kochen und servieren, wenn er nicht funktioniert? Das ist ja ein dicker Hund. Man denkt, man kann sich auf die Technik verlassen und zack! hat man nur Pannen. Heißt es nicht bei Ihrer Firma: „Haben Sie Probleme? Wir können Sie lösen.“ Und wie kommt es, dass „Friend-A23“ gehackt wird? Er ist nicht einmal ans Netz angeschlossen – außer wenn ich von Ihnen Updates bekomme. Oder sind Ihre Updates verseucht?
Kundendienst: Nein. Es ist ein „Bluetooth“-Angriff. Dagegen sind wir momentan machtlos, bis wir den Patch fertig haben.
Kunde: Großartig. Das letzte Mal, dass ich von Happytrack einen Androiden kaufe. Heißt es nicht in der Werbung: „Zuverlässig? Na klar, er ist dein Friend-A23“. O mein Gott! Da kommt er wieder. Großer Gott! Er hat ein Messer in der Hand! Boris, stopp! Stopp! Schlafmodus! Schlafmodus!
Kundendienst: Hören Sie? Hören Sie? Sagen Sie „G-17“! „G-17“! Hören Sie mich?
Kunde: Was sagen Sie?
Kundendienst: „G-17“! Das müssen Sie sagen.
Kunde: „G-17!“ Ach du lieber! Ja! In der Tat. Er hat das Messer fallen lassen. Wie haben Sie das geschafft? Warum steht das Kommando nicht im Handbuch?
Kundendienst: Weil dieser Fall so gut wie nie vorkommt.
Kunde: Dieser „Fall“? Meinen Sie, der Fall, dass ein Androide einen mit einem Messer angreift?
Kundendienst: So ist es. Nun, schalten Sie Ihren „Friend-A23“ bitte endlich aus. Drücken Sie fest auf die rechte Brustwarze.
Kunde: Nicht hinter das linke Ohr?
Kundendienst: Nein. Offenbar haben Sie das Handbuch nie richtig studiert.
Kunde: Warten Sie bitte so lange, während ich das mache. Ich komme gleich wieder.
Kundendienst: In Ordnung…
Kunde: Es hat funktioniert! Er steht da wie ein Stein.
Kundendienst: Na endlich.
Kunde: Ja, und was nun?
Kundendienst: Schauen Sie im Internet unter www punkt happytrack slash friend-A23. In ein paar Tagen können Sie den Patsch herunterladen.
Kunde: Und mein Diner heute? Wer soll denn nun kochen und servieren?
Kundendienst: Tut mir leid.
Kunde: Das können Sie leicht sagen. Nicht Sie, sondern ich stecke jetzt in der Bredouille. Manchmal denke ich, ich verlasse mich zu sehr auf Maschinen.
Hilfe! Wie soll ich jemals auf dem Teppich bleiben, wenn mir ständig schräge Gedanken im Kopf schwirren?
Ganz plötzlich will ich folgende Frage stellen:
Wissen Sie, was Sie im Januar 3016 machen werden? Vielleicht ist die Frage aber nicht so dumm. Zur Erklärung:
Letzte Woche blätterte ich eines stillen Abends in meiner Reclam-Ausgabe der Werke Catulls (Lateinisch/Deutsch). Falls Ihnen der Name nichts sagt – und das wäre heute ohne Weiteres möglich – : Gaius Valerius Catullus (er stammte aus Verona) lebte im ersten vorchristlichen Jahrhundert und war Lyriker. Eine Art römischer Herbert Groenemeyer etwa.
Nun las ich im sehr informativen Nachwort zu diesem Bändchen vom Alphilologen Michael von Albrecht einige Sätze über die Überlieferung des Manuskripts aus der Antike. Ein sehr kompliziertes Thema, und ich kann die Sache hier nur kurz erläutern: Die Erzeugnisse der römischen Literatur und Wissenschaft, die die Zeiten am glimpflichsten überdauert haben, waren stets diejenigen, die man bereits in der Antike als Schulbücher verwendet hat. Schullektüre wurde nämlich ständig neu kopiert und weitertradiert. (Druckereien gab es damals nicht). So erging es, zum Beispiel, den Werken Vergils, Horaz', Julius Cäsars, Ciceros usw.
Catulls Lyrik war hingegen keine Schullektüre. Dafür hat er zuviel Unanständiges geschrieben, und die Schulen der frühen christlichen Zeit waren, gelinde gesagt, sehr prüde. Catulls Werke wurden also lediglich von Liebhabern weitergegeben. Sie haben dennoch bis zur Zeit von Karl dem Großen ihre Spuren hinterlassen. Man findet in Schriften aus der karolingischen Zeit diverse Zitate aus Catulls Gedichten. Dann herrscht aber Funkstille. Allerdings: Im 10. Jahrhundert erwähnt ein gewisser Bischof Rather in Verona, dass er auf ein Exemplar der Werke Catulls gestoßen sei. Der Bischof gibt zu, dass diese Lyrik alles anders als „fromm“ sei. Er findet sie dennoch köstlich.
Dann ist wieder Funkstille – bis am Ende des 13. Jahrhunderts erneut ein Exemplar der Gedichte in Verona auftaucht. Das weiß man so genau, weil ein Mann namens Benvenuto de Campexani 1290 zur Feier der Wiederentdeckung ein Gedichtlein über Catull verfasst hat. Darin tut er kund, dass jemand, dessen Name wie „Schilfrohr“ auf Franzosisch klinge (so steht es im Gedicht), das Manuskript im Ausland unter einem Fass entdeckt und nach Verona mitgebracht habe. Das Manuskript, das in diesen Versen gefeiert wird, ist übrigens längst verschollen. Es wurde aber offenbar mehrmals kopiert. Von diesen Kopien stammen alle heutigen Ausgaben der Werke Catulls.
Aber zurück zu Michael von Albrecht. Nachdem er diese abenteuerliche Geschichte erzählt hat, erlaubt er sich ein paar Gedanken über das risikoreiche Überleben der antiken Literatur. Ich zitiere:
„Die Tatsache, dass das Überleben sogar erstrangiger Autoren oft an einem seidenen Faden hing – Catull teilt dieses Los mit Lukrez und Tacitus - , bringt uns zum Bewusstsein, dass ‚Überlieferung’ kein anonymer Strom, sondern ein von Individuen getragener, aktiver Prozess ist, zu dem jeder Leser das Seine beiträgt.“
Ist das nicht schön?
Ich musste sogleich an mein Lieblingskinderbuch denken, ein Buch, das mir vielleicht noch mehr Freude gemacht hat als meinen Kindern, denen ich es abermals vorgelesen habe: „Im Zauberwald“ von Josephine Hirsch. Dieses Werk ist 1989 erschienen und leider vergriffen. Neue Titel von Frau Hirsch gibt es seit 2000 keine mehr. Die Autorin zählt, meiner Meinung nach, zu den großen Zauberern der deutschen Sprache. Hier eine kleine Kostprobe aus einem Gedicht „Verschobenes Gesindel“:
„Schwarze Nächtegeister
ziehn durch Geisternächte.
Es hat Meisterrechte
jeder rechte Meister.“
Oder aus dem Gedicht „Räuberlied“:
„Schnurre, schnarre,
knurre, knarre,
zurre, zarre,
Hexenbein! Motzli,
matzli, schotzli,
schatzli, trotzli, tratzli,
Gift im Wein!“
Ja, reine Zauberei! Finden Sie nicht? Wie gesagt, nur eine Kostprobe. Schauen Sie selber mal rein. Gibt es genügend Interesse, wird der Verlag (Herder) das Buch vielleicht neu auflegen!
Nun habe auch ich meinen Beitrag geleistet. Indem ich Michael von Albrecht und Josephine Hirsch hier erwähne, verlängere auch ich den „seidenen Faden“ der Überlieferung.
Somit bin auch ich ein Glied in jener Kette geworden, die beide Autoren womöglich ins Jahr 3016 katapultieren wird. Man kann nie wissen, wozu etwas, was man tut, gut ist.
Meine Theorie: Fünfundneunzig Prozent aller Probleme werden durch Langeweile verursacht. Die restlichen fünf Prozent durch Dummheit.
Ich komme auf diese Idee, nachdem ich seit Tagen eine erstaunliche Geschichte verfolge, die aber leider nur sehr sporadisch in den deutschen Medien Aufnahme gefunden hat. Ich glaube nicht, dass man hier schweigen soll.
In Malaysia ist momentan die Hölle los. Warum? Die Geschichte begann, als vor drei Jahren das Oberste Gericht dieses Landes Christen den Gebrauch des Namen „Allah“, um Gott in christlichen Texten zu bezeichnen, untersagt hat. Ende 2009 wurde dieses Gerichtsurteil wieder aufgehoben. Gleich ging es los.
Wieso diese Angelegenheit überhaupt vor Gericht landete, vermag ich nicht zu sagen. Nur mit folgenden Fakten kann ich dienen:
Fakt eins: In Malaysien ist die Bevölkerung zu 60% muslimisch. Die übrigen Bewohner dieser Nation sind Christen, Hindus und Buddhisten.
Fakt zwei: Die Christen – 10% der Gesamtbevölkerung – sind mehrheitlich chinesischen Ursprungs, die Muslime hingegen entstammen der malaysischen Urbevölkerung. Laut BBC ist die Regierung vom Wohlwollen des eingeborenen Wahlvolks abhängig.
Fakt drei: Im März wird es Wahlen geben und – so die International Herald Tribune – Premierminister Najib Razak muss unbedingt die ethnischen Malaysier für sich gewinnen.
Fakt vier: Es gibt in der malayischen Sprache keinen Begriff für „Gott“. Vielleicht liegt das daran, dass die Religion der Malaysier vor langer Zeit polytheistisch war. Leider sind meine Kenntnisse hier zu dürftig, um Genaueres sagen zu können. Dennoch: Nachdem Malaysia vor etlichen Jahrhunderten kolonisiert wurde, diente „Allah“ gewöhnlich als Bezeichnung für Gott. Auch ein zweites Wort für „Gott“ ist in der malaysischen Sprache im Umlauf, „Tuhan“. Eigentlich bedeutet es „Herr“. Zufällig besitze ich ein altes Buch in dieser Sprache mit englischer Übersetzung – ein Werk der nichtmuslimischen Mystik. Darin habe ich sowohl „Tuhan“ wie auch „Allah“ als Übersetzung für „Gott“.gefunden. Ach ja: In malaysischen Bibeln wird Jesus traditionell als „Sohn von Allah“ bezeichnet.
Ebenfalls besitze ich eine Bibel, Altes und Neues Testament, in arabischer Sprache. Meine arabischen Kenntnisse reichen aus, dass ich den ersten Satz der Genesis auf Arabisch lesen und übersetzen kann. Da steht: „Am Anfang schuf Allahu Himmel und Erde.“
Aber zurück zu Malaysia. In den letzten Tagen steckte eine aufgebrachte Meute drei Kirchen und eine Klosterschule in Brand (nur eine Kirche brannte aber ganz nieder). Zu bemerken: Der PM hat die gebrandschatzte Kirche besucht, sein Bedauern zum Ausdruck gebracht und 100.000 Euro für einen Neubau versprochen – allerdings an einem anderen Ort. Protestler skandierten derweil Parolen wie: „Allah ist nur für uns“ („Allah is only for us“) und „Das Ketzertum entsteht, wenn Wörter falsch verwendet werden“ („Heresy arises when words are used wrongly“). Gegner des Gebrauchs des Wortes „Allah“ durch Christen behaupten, die Christen würden dadurch die muslimische Jugend verwirren. Hmmm.
Die Auseinandersetzung wurde erst recht hitzig, als die katholische Wochenzeitung „Herald“, den umstrittenen Namen druckte. Inzwischen wird der Kampf auch im Internet, genauer gesagt in „Facebook“, weitergeführt. Schauen Sie unter “Menentang Penggunaan Allah Oleh Golongan Bukan Islam” (Gegen den Gebrauch des Wortes “Allah” von Nichtmuslimen).
Nein, ich habe all dies nicht erfunden. Wäre aber schön, wenn ich hier nur Satire schreiben würde, gell?
Zufällig kann ich einiges über die Etymologie der Vokabel „Allah“ erzählen. Der Wortstamm ist nämlich sehr verbreitet in den semitischen Sprachen und ist mit dem phönizischen „El“ eng verwandt. Im Hebräischen findet man „eloah“ als Pendant, im Aramäischen „elah“ und im Babylonischen „ihahi“ und „ilu“. Das Wort hatte wohl ursprünglich den Sinn „Kraft“.
Doch wie schon gesagt: Probleme entstehen aus zwei Gründen: Langeweile und Dummheit. Ich weiß im Moment nicht, welcher der beiden die Ursache für dieses Auseinander um Gottes Namen ist.
Kaum ist 2009 zu Ende gegangen, und schon suchen alle Wortschmiede dieser Welt nach einem passenden Namen fürs erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Die Possenreißer unter den amerikanischen Journalisten haben sich geschwind auf die „naughties“ geeinigt. „Naught“ bedeutet auf Englisch „Null“– ist übrigens mit dem deutschen „nicht“ sprachverwandt. In der Mehrzahl aber denkt man an „naughty“, also „ungezogen“, „unartig“. Und so war das vergangene Jahrzehnt allemal.
Im Deutschen ist die Rede von den „Nullen“. Auch das finde ich passend. Man denkt an die vielen Nullen, die dazu beigetragen haben, die letzten zehn Jahren zum Chaos ausarten zu lassen. Auch „nullnull“ wäre geeignet, wenn man die Kloaken der letzten Jahre bloß noch reinigen könnte. Die letzten Jahre als „die Nullnummern“ zu bezeichnen, wäre ebenso angebracht.
Aber genug. Allen Widrigkeiten zum Trotz bin ich noch immer der Meinung, dass es auch vieles gibt, wofür man dankbar sein könnte.
Hier nun meine kurze – und keinesfalls vollständige – Liste:
Ich bin dankbar, dass ich kein Banker bin. Notabene: Hier ist die Rede von „Banker“ und nicht von „Bankier“. Letzteres war und bleibt ein ehrwürdiger Beruf.
Ich bin dankbar, dass ich nicht zu denen zähle, die auf Kosten der Arbeitsplätze anderer einen zweistelligen Gewinn anstreben.
Ich bin dankbar, dass ich nie den Berufswunsch hatte, Selbstmordattentäter und Märtyrer zu werden.
Ich bin dankbar, dass ich trotz allen erlebten Bosheiten – und diese werde ich an dieser Stelle nicht aufzählen – weiterhin an meinen Prinzipien festhalte.
Ich bin dankbar, dass ich kein Trickdieb bin, der mittels fieser Lügen 90jährige Frauen um ihre Rente oder ihren Schmuck erleichtert.
Ich bin dankbar, dass ich nicht zu denen zähle, die naive Jugendliche im Namen einer jenseitigen Belohnung (inklusive Jungfrauen) zu Selbstmordattentätern ausbilden.
Ich bin dankbar, dass ich keine verfälschten Medikamente herstelle, um sie an ahnungslose Menschen zu verkaufen – ungeachtet der Konsequenzen.
Ich bin dankbar, dass ich kein Spammer bin, der die Kommunikationskanäle mit Müll verstopft, um der internationalen Verständigung einen Riegel vorzuschieben.
Ich bin dankbar, dass ich kein Botnetprogramm geschrieben habe, um fremden Menschen das Bankkonto zu leeren, obwohl ich nichts über die jeweilige Situation dieser Menschen weiß...
Auch die reichen Drogenhändler fallen mir ein, aber genug. Ich kann hier nicht alle Bosheiten dieser Welt wiedergeben.
Übrigens: Falls eine der oben aufgezählten Fiesheiten auf Sie zutreffen sollte, bitte nicht verzagen. Auch für Sie gibt es einen Trost: Sie können dankbar sein, dass nur eine dieser Gemeinheiten Ihnen zu eigen ist.
Sehen Sie. So kann jeder etwas haben, worüber er sich freut.
Ja, die Nullen sind nicht mehr zu ändern. Es waren wahrhaft „naughties“, und noch mache ich mir keine Gedanken über einen Namen fürs nächste Jahrzehnt.
Alles in Butter, Mutter? Das habe ich meine Frau neulich gefragt. Wie immer tut sie, als habe sie meine lahmen Wortspielereien gar nicht mitgekriegt.
Mein Sohn hingegen anwortete gleich: „Wo ist der Kater, Vater?“ Ja, das hat er gesagt. Ich glaube, es steckt was Geheimnisvolles in seinen Worten. Egal. Ich mache heute Schluss.
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