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Deutschland sucht eine Arbeitsstelle usw.

Gott schütze das „Ding“, ein Wort wie ein extra Koffer. Man hat ihn immer dabei für den Notfall. Man kann nie wissen, wann einem die Wörter fehlen. Man hat deshalb jederzeit das „Ding“.

Ein Geschenk des Himmels! Alles kann ein „Ding“ sein. Und das Schönste: Diese Vokabel ist nie hochnäsig, gschamig oder sexistisch. Nein, das „Ding“ ist stets ein bescheidener Diener. Es richtet sich nach Ihren Wünschen.

Genauer gesagt: Das „Ding“ ermöglicht Unpräzision. Nein, noch besser. Das „Ding“ zelebriert die Unpräzision geradezu!

Ich komme nur über einen Gedankensprung auf dieses praktische Wort – so praktisch wie ein Schweizer Messer – zu sprechen. Ich habe mir gestern nämlich, als ich in den Medien ständig mit der Saga vom Mauerfall usw. berieselt wurde, Gedanken über die Unpräzision gemacht. Ich hatte mich erinnert, wie man damals, als die Mauer noch stand, die Begriffe „Kommunismus“ und „Freiheit“ gerne als Gegensätze darstellte. Nur wenige erkannten den logischen Fehler, die Unpräzision dieser Zusammenstellung also.

Denn das Gegenteil von „Kommunismus“ ist – wie jeder heute weiß – „Kapitalismus“. Das Gegenteil von „Freiheit“ ist „Sklaverei“ oder „Unterdrückung“ usw. Vielleicht war diese Ungenauigkeit aus propagandistischen Gründen gewollt. Keiner wäre damals auf den Gedanken gekommen, sie mit dem dienlichen „Ding“ zu ersetzen.

Heute gibt es kaum mehr das, was man früher „Kommunismus“ nannte. Und längst hat es sich in unseren Köpfen gesetzt, dass der „Kapitalismus“ in der Tat mit „Freiheit“ gleichzusetzen ist. Immerhin: Es ist der Kapitalismus, der uns die „freien“ Märkte ermöglicht hat usw. Erst vor wenigen Tagen hat Lloyd Blankfein, Chef von Goldman-Sachs, in einem Interview in der „Sunday Times“ verkündet: „Banken verrichten Gottes Werk“. Falls Sie das Interview nicht gelesen haben, sollen Sie wissen: Ich habe dieses Zitat nicht erfunden. Gottes Werk dreht sich also um den Mehrwert.

Sie merken schon: Ich drifte immer weiter vom „Ding“ ab. Aber so ist es mit den Gedankensprüngen. Und damit komme ich zur nächsten Stufe meiner Suche nach der Formen der Ungenauigkeit. Auch Folgendes habe ich nicht erfunden. Ich habe es aber aus dritter Hand (einer Freundin meiner Frau) gehört, und deshalb bleibe ich mit den Fakten selbst ein bisschen unpräzise:

Eine namhafte Mobiltelefonfirma – wir nennen sie „Ding“, weil ich hier den Namen nicht verraten kann – hat vor wenigen Tagen verkündet, dass sich alle Mitarbeiter einer bestimmten Niederlassung um ihre Arbeitsplätze neu bewerben müssen. Das kommt meines Erachtens einer Kündigung der gesamten Belegschaft gleich. Umso mehr, weil nur 50% der Bewerber den alten Arbeitsplatz zurückbekommen sollen. Diese Neubewerbung veranstaltet die Firma offenbar alle zwei Jahre. So wurde es jedenfalls mir erzählt.

Die Art der Bewerbung ist aber erwähnenswert: Die Mitarbeiter müssen mit einer öffentlichen Präsentation für den Erhalt des Arbeitsplatzes plädieren. Man müsse also für die eigene Unentbehrlichkeit argumentieren. Die Mittel bleiben ihm (oder ihr) überlassen – also „Powerpoint-Präsentation“, Slideshow usw. Hauptsache er (oder sie) leistet erfolgreiche Überzeugungsarbeit.

Es erinnert ein bisschen an „Deutschland sucht einen Superstar“, nicht wahr? Oder an einen Gladiatorenkampf. Offenbar hat diese Aussortierung der Mitarbeiter vor zwei Jahren gut funktioniert. Die Firma hat also gute Erfahrungen mit dieser neuen Art der Arbeitsplätzereduzierung gemacht. Vielleicht handelt es sich um ein zukunftsträchtiges Modell. Wer weiß?

Jetzt sind wir aber weit entfernt von der Welt des „Dings“ gelandet. Schade. Über die Ungenauigkeit zu schreiben erfreut mich allemal mehr als Gedankensprünge in Richtung Arbeitsmarkt der Zukunft zu machen.

Starthilfe für aufstrebende Autoren

Freund A. ist enttäuscht. Was heißt enttäuscht? Er ist sauer, wütend, der kochende Dampf zischt ihm unüberhörbar aus den Ohren. Wenn er die Eisenbahn wäre, würde er an wartenden Passagieren in den Bahnhöfen unbarmherzig vorbeirasen.

Warum ist er so aufgebracht?

Weil er Post von einer Literaturagentur bekommen hat. Genauer gesagt: eine schroffe Abweisung. Die Handlung seines Buchs überzeuge nicht, so hieß die knappe Antwort.

Ich kenne das Problem. Während eines längeren Aufenthalts in den USA hatte ich ein Manuskript – meine Übersetzung des „Untergangs der Stadt Passau“ von Carl Amery – einer Agentur, in New York angeboten. Notabene: einer Agentur nicht einem Verlag. Vergebens wartete ich auf eine Antwort. Nach sechsWochen – lange genug, um anstandshalber nicht übereifrig zu erscheinen, rief ich die Agentur an.

„Haben Sie ein ‚säj-ssie’ beigelegt?“ fragte meine Gesprächspartnerin.

„Entschuldigung, ich verstehe nicht, was Sie meinen. Ein was?“

„Ein ‚säj-ssie’“, sagte sie. „ein self-addressed stamped envelope.“

Aha, SASE meint sie, ein frankiertes Rücksendekuvert. Ich hatte dieses Kürzel noch nie gehört. „Nein, ich habe kein SASE beigelegt.“

„Drum haben Sie von uns nichts gehört.“

„Sie meinen, wenn ich kein SASE beilege, landet mein Manuskript im Papierkorb?“

„Irgendwie schon.“

Was ich dann erwiderte, gebe ich hier weiter. Es genügt zu sagen, ich war nicht minder aufgebracht als Freund A als Eisenbahn. Aber nun Praktisches, liebe aufstrebende Autoren. Wenn Sie einer Agentur ihr Manuskript anbieten, denken Sie immer an Folgendes: Niemals Ihr Manuskript schicken! Klingt paradox, was? Tatsache ist: Man will von Ihnen lediglich eine „Leseprobe“ von 20-50 Seiten haben; hinzu ein Exposé. Und vergessen Sie nicht: immer ein SASE beilegen!

Machen Sie sich aber keine große Hoffnung. Freund A. hat von einer Agentur erfahren, dass sie in den letzten acht Jahren nur viermal unverlangt eingesandte Manuskripte angenommen hat. Zur Erinnerung: Wir reden nach wie vor nur von einer Agentur. Auch wenn Sie das große Los ziehen, ist Ihr Buch noch lange nicht verkauft. Denn nun ist die Agentur an der Reihe. Sie schiebt Ihr Manuskript oder Leseprobe mit Exposé in ein Kuvert (auch mit SASE) und geht selbst damit hausieren.

Übrigens: Sie können den umständlichen und oft demütigenden Ritus mit der Agentur ganz umgehen, indem Sie Ihren Bestseller direkt an den Verlag schicken! Als „Leseprobe“ und Exposé, versteht sich.

Kopf hoch. Gestern habe ich in der International Herald Tribune von einer Schriftstellerin erfahren, deren Buch von 50 (!) Agenturen abgelehnt wurde. Sie preschte aber weiter voran und fand – ganz von alleine – einen Verlag, der das Buch gleich akzeptierte. Inzwischen wurde es 450.000 mal verkauft. Ohne SASE!

Und jetzt ein wichtiger Tipp für geplagte Agenten und Lektoren. Liebe Sklaven der Kulturindustrie, eins dürfen Sie nie außer Acht lassen: Je toller das Buch, umso schlechter gemeinhin das Exposé. Fakt ist: die meisten guten Autoren sind nicht in der Lage, ihr Werk in Form eines Exposés wiederzugeben.

Stellen Sie sich vor: Tom Mann will seinen dicken Schinken „Zauberberg“ einem Verlag (bzw. einer Agentur) anbieten. Natürlich schickt er nur die Leseprobe usw. Der Agent oder Lektor stöhnt: „Alles zu dicht geschrieben. Wäre was, wenn dieser Typ lernen könnte, sich etwas lockerer auszudrücken. Und diese langen Sätze! Wer hält das aus! Das ist zum Piepsen!“

Dann liest er Toms Exposé. „Ich erzähle die Geschichte von Hans Castorp, einem jungen Mann, der seinen Cousin an einer Lungenanstalt in Davos besucht und sich bald einbildet, wie schön es wäre, angesichts der vielen Zuwendungen, selbst lungenkrank zu sein. Und nun passiert es: Der Anstaltsarzt entdeckt während einer Routineuntersuchung Castorps einen Schatten auf dessen Lungen. Hans wird also selbst zu Patienten, und das Patientsein wird zu seiner Lebensaufgabe. Anhand Castorps Erlebnisse in der Lungenanstalt lernt der Leser nicht nur den Alltag des Sanitoriums kennen, sondern des Daseins überhaupt. Die Lungenanstalt wird also zum Metapher für das menschliche Schicksal…“

Der Agent unterbricht an diesem Punkt. Seufz, denkt er. Viel zu dunkel diese Geschichte. Wer will sich so eingehend mit Krankheit befassen? Nein, Herr Mann, Sie haben mich nicht überzeugt. Ich gehe jetzt Mittag essen. Mahlzeit!

Gespräch mit meinem Ammoniten

Ich habe meinen Ammoniten „Schnecki“ genannt.

Ich gebe zu: Der Name ist nicht besonders original. Ich habe ihn aber so genannt, weil Ammoniten irgendwie schneckenähnlich aussehen.

Ich habe „Schnecki“ vor ein paar Tagen auf den „Mineralien Tagen“ in München preiswert erworben. Damals erfuhr ich, dass Ammoniten zeitgleich mit den Dinosauriern ausgestorben sind.

Mein „Schnecki“ stammt aus Sengenthal im Oberpfalz. Er ist also Bayer – Urbayer sogar. Eigentlich ist er eine Garantiana. So hieß eine Unterart der Ammoniten. Als er in Sengenthal hauste – oder was auch immer dieser Ort damals für einen Namen hatte – , war die Gegend wohl ziemlich unter Wasser. Ammoniten sind nämlich Wassertierchen.

Ich finde es sehr aufregend, dass „Schnecki“ bei mir wohnt. Wie oft hat man einen Hausgenossen, der während der Jurazeit zeitgleich mit den Dinosauriern lebte?

„Erzähle mir von den Dinosauriern, lieber Schnecki“, sagte ich.

Und stellen Sie sich vor: Er hat geantwortet. Ich weiß, dass viele Leser mir nicht glauben werden, dass er gesprochen hat. Es stimmt aber. Schnecki hat wirklich geantwortet. „Was ist zu erzählen?“ sagte er. „Sie waren groß, zum Teil brutal und sehr dumm.“

„Wurdest du jemals von einem Dinosaurier angegriffen?“

„Ich persönlich? Nein, jedenfalls nicht direkt. Das Problem war: Sie nahmen überhaupt keine Notiz von uns. Sie dachten nur an sich selbst. Sie waren stets auf der Suche nach etwas zu vertilgen. Und weil sie ständig im Wasser herumstampften, brachten sie uns kontinuierlich in Gefahr. Wir Ammoniten sind nämlich nicht besonders schnellfüßig. Ich kannte persönlich viele Artgenossen, die von ihnen aus purer Rücksichtslosigkeit zerdrückt wurden. Dinosaurier hatten nur sich selbst im Sinn. Das hat sich aber gerächt, mein lieber Scholli. Und ob!“

„Inwiefern?“ frage ich.

„Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie durch ihre blinde Herumstampferei Unmengen von Kleintieren plattmachten. Das wurde ihnen aber zum Verhängnis. Ein Beispiel: Wir Ammoniten haben winzige Flöhe gefressen, die für Dinosaurier gefährlich waren, weil ihr Biss Krankheiten übertrugen. Aber: Da sie so viele von uns zerstampft hatten, konnten sich diese Flöhe fast ungebremst vermehren. Schließlich machten sie den Dinos die Hölle heiß. Hast du jemals einen Dinosaurier sterben sehen?“

„Nein.“

„Das war ein Anblick: ein Dino so groß wie das Deutsche-Bank-Hochhaus in Frankfurt trottet gedankenlos entlang, bleibt kurz stehen – wenn man ihn in die Augen schaut, merkt man, dass ihm jeder Verstand fehlt – und plötzlich fällt er tot um. Einfach so. Das fühlt sich an wie ein Erdbeben.“

„Hat niemand versucht, ihnen die Gefahr ihrer Rücksichtslosigkeit zu verdeutlichen.“

„Aber sicher.“

„In welcher Sprache, übrigens?“

„Ich weiß, die Sprachen interessieren dich sehr, lieber Sprachbloggeur. Ich kann dir aber nur wenig über unsere Sprache erzählen. Mir ist das viel zu kompliziert. Es genügt zu sagen: Wir hatten einander genügend zu sagen. Wie gesagt: Leider haben die Mächtigen unserer Zeit nie auf uns gehört.“

„Das mit dem Meteor als Ursache für das Aussterben der Dinos stimmt also nicht?“

„Nein, nein. Das hat es auch gegeben. Und wir Ammoniten haben öfters versucht, die Hornochsen auch davor zu warnen. Das alles hat sie aber gar nicht interessiert. Hauptsache sie konnten sich den Bauch vollschlagen.“

„Und Ihr Ammoniten, wie kam es, dass auch ihr ausgestorben seid?“

„Wer hat gesagt, dass wir ausgestorben sind? Im Gegenteil. Es geht uns ausgezeichnet. Wir sind aber, wie soll ich sagen… umgezogen – weit weg von den Dinos und deren Nachfolgern, die in hohen Häusern hausen. Unsere neue Adresse verrate ich dir aber nicht. Das wirst du hoffentlich verstehen.“

Franziska S. stellt eine Frage

Heute habe ich eine Mail von Franziska S. erhalten.

Frau S. stellt mir eine schwierige Aufgabe.

Sie arbeite bei einer online-Zeitung, erzählt sie, und niemand könne ihr folgende Frage beantworten: „Was ist der Unterschied zwischen Glosse, Kolumne, Kommentar und Polemik?“

Liebe Frau S., als Autor einer online Glosse – oder soll ich lieber „Kolumne“ oder „Rubrik“ sagen? – , die manchmal eine kommentarartige oder gar polemische Wirkung anstrebt, wage ich mich gerne an Ihre Frage.

Zu Beginn eine eigene Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem Fiffi und einem Wauwau?

Ja, liebe Frau S., „Glossen“ und „Kolumnen“ sind wie Fiffi und Wauwau. Es handelt sich also um zwei Wörter, die ziemlich das Gleiche ausdrücken.

Ich, zum Beispiel, betrachte meine Sprachkolumne (bzw., „Sprachrubrik“) als eine „Glosse“, genauer gesagt, als eine „Sprachglosse“. Warum gibt es so viele Wörter für das gleiche Phänomen? Weil Begriffe nicht aus einem zentralen Rechner herausgespuckt werden. Jeder hat das Recht, die Dinge nach eigenem Gutdünken zu benennen. Die Aufnahme in den Wortschatz ist freilich Glückssache.

Das Wort „Kolumne“ hat, wie ich, einen Migrantenhintergrund. Es bedeutet eigentlich „Säule“. In der englischen Zeitungssprache wird diese Vokabel im Sinne von gedruckter „Spalte“ verwendet. Journalisten, denen eine fixe Spalte zugeteilt wird, bezeichnet man schon lange als „Kolumnisten“. Man verfügt sozusagen über eine eigene „Kolumne“. In diesem Sinn wurde der Begriff auch ins Deutsche übernommen.

Der Begriff „Glosse“ hingegen stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „Zunge“ oder „Sprache“. Im Mittelalter bezeichneten die schreibtischtätigen Mönche ihre Randbemerkungen in den alten Manuskripten als „Glossen“. In diesen „Glossen“ hatten sie Gelegenheit, ihre Meinungen auszudrücken. Noch heute ist eine „Glosse“ ein kurzer Text, in dem man seine Meinung wiedergibt.

Aber zurück zu den Hunden.

Die Glossen (oder Kolumnen) gleichen, wie gesagt, den Wörtern, für „Hund“. Bekanntlich aber haben die Hunde verschiedene Charaktereigenschaften. Sie können brav, energisch, spielerisch, bissig usw. sein. Das Gleiche kann man von den Glossen und den Kolumnen behaupten. Es handelt sich gewissermaßen um „Kommentare“. Denn wer eine Glosse schreibt, der „kommentiert“.

Wenn ich meine Meinung besonders passioniert hinschleudere, dann habe ich eine „Polemik“ geschrieben. „Polemos“ auf Griechisch bedeutet „Krieg. Wer eine „Polemik“ schreibt, greift dschihadartig an. (Deshalb wirken polemische Schriften manchmal furchtbar pathetisch. Aber das sage ich nur nebenbei).

Habe ich Sie, liebe Frau S., mit meinen bisherigen Erklärungen schon restlos durcheinander gebracht?

Ach ja, noch etwas. Eins haben all diese Begriffe stets gemeinsam: Sie streben nie Objektivität an. Das dürfte aber nachvollziehbar sein. Bei den Autoren von Glossen usw. handelt es sich fast immer um eingefleischte Grübler. So können Sie jederzeit mit der reinsten Subjektivität  rechnen.

Ja, Sie haben mir eine schwierige Aufgabe gestellt, Frau S. Sie verlangen vom Fisch, dass er das Wasser (bzw. vom Hund, dass er seine Nase) beschreibt, und ich stelle mich wie jeder zwanghafte Schriftsteller gerne zu Diensten. Falls es mir trotzdem nicht ganz gelungen ist – und davon gehe ich aus – , Ihnen alle Nuancen dieser Vokabeln zu beleuchten, hätte ich noch einen Vorschlag: Wenden Sie sich an Dr. Bopp (siehe „Links“). Er wird Ihnen die Sache sehr präzise erklären. Das ist schließlich sein Beruf. Der Sprachbloggeur hingegen ist und bleibt ein unverbesserlicher Glossierer.

Ouvertüre zu einer Horrorgeschichte

Am Anfang das Fröschesterben.

Mit Sicherheit haben Sie davon gehört. Denn ich erzähle hier nichts Neues. Schon seit zwanzig Jahren schwinden die Frösche dahin oder werden dreiäugig, fünfbeinig, zweiköpfig usw. geboren.

Lange rätselten die Wissenschaftler über die Ursache. Man munkelte: Die Luftverschmutzung, diverse Umweltsünden oder auch Radioaktivität seien daran schuld. Beweisen konnte man aber nichts.

Nun weiß man: Alle bisherige Theorien sind an den Haaren herbeigezogen. Es ist ein Pilz, genauer gesagt, ein Batrachochytrium Dendrobatidis, der die Frösche dahinrafft. Langsam sickert dieser giftige Pilz durch die glatte Froschhaut, um schließlich den Blutkreislauf der Lurche zu befallen und den Mineralienhaushalt durcheinanderzubringen, bis das amphibische Herz still steht.

Wer hätte das gedacht? Frösche und Batrachochytrium Dendrobatidis sind seit Jahrmillionen bestens miteinander ausgekommen, gute Nachbarn gewesen. Plötzlich verwandelt sich der Freund in einen Killer. Es ist, als würde sich das liebe Lumpi eines Nachts in aller Stille Herrchen oder Frauchen an die Halsschlagader heranmachen.

Nichts kann man dagegen machen. So jedenfalls nach dem heutigen Stand der Dinge. Das habe ich auch gelesen. Geht es weiter so, sind alle Frösche eines Tages weg. Nach den Fröschen: wir.

Prompt denke ich an Carl Amerys „Der Untergang der Stadt Passau“. Amery erzählt von den Rosenheimern und den Passauern, Überlebenden einer namenlosen Seuche, die innerhalb kurzer Zeit etwa 95% der Weltbevölkerung dahingerafft hat.

Die Passauer halten sich für fortschrittlich. Sie tun das, weil sie noch Glühbirnen besitzen. Diese erzeugen Licht, wenn man sie in eine Fassung schraubt. Was die Passauer nicht so ganz verstehen: Nur dank einem alten Wasserkraftwerk stehen die zählbaren Birnen unter Strom. Was sie außerdem nicht bedenken: Sobald der Vorrat an Birnen verbraucht ist, ist es mit dem Kunstlicht endgültig vorbei. Die Rosenheimer– „Rosmer“ genannt – sind hingegen Hinterwäldler, einfache Ackerbauer. Aber Vorsicht: Auch die Ungarn sind auf dem Vormarsch: galoppierende Reiter, die eines Tages Krieg mit Passau führen werden. Ich habe nicht vor, hier die ganze Geschichte zu erzählen.

Meine Horrorgeschichte habe ich noch nicht erzählt, und ich will sie heute nur andeuten. Sie ist freilich sprachlicher Natur – zumindest am Anfang. Genauer gesagt: Sie zeigt, wie die Sprache selbst zu einer Seuche werden kann – einer Seuche, die schlimmer grassiert als jede Schweinegrippe.

Ich habe die Anzeichen dieser Seuche neulich beobachtet, während ich – nur Ihnen zuliebe – in den USA unterwegs war. Dort stellte ich fest, dass die Konsumkultur schwerkrank geworden ist. Da die Konsumkultur als Basis des amerikanischen Wohlstands ist, ist dieser Zustand etwas sehr Schlimmes. Nur: Die meisten Menschen wissen von ihrem Unglück noch nicht. Die meisten Menschen in den USA wissen nicht, dass sie kranke Frösche sind, die kurz vor dem Herzstillstand stehen.

Denn momentan scheint alles noch glatt zu laufen. Die großen Verkaufsketten, Fastfoodketten, Restaurantenketten usw. sind noch nicht in den Konkurs geraten. Die Werbung belämmert nach wie vor im Fernsehen.

Was haben meine Feststellungen mit der Sprache zu tun? Es war stets die Sprache, ich meine eigentlich die Infantilisierung der Sprache, die die Menschen zu Konsumzombies erzogen hat.

Diese Infantilisierung der Sprache war schon immer die wahre Triebfeder der amerikanischen Spaßgesellschaft. Durch billigen Humor, Reality TV, Gruselgeschichten mit Vampiren oder sonstigen ekzentrischen Killern, durch Natursendungen, in denen Tiere andere Tiere live vor der Kamera grausam fressen, durch extreme Formen des Kickboxing usw. hält man den Konsumenten bei Laune, damit er die Prokukte der Sponsoren – iPhones. Playstations, Klingeltöne, Viagra und Waschpulver – kauft.

Doch nun bricht alles zusammen. Nur, man merkt es kaum. Noch. Schließlich haben wir aber Finanzkrise. Und jetzt stellt es sich heraus, dass man bisher erst 25% der „toxischen Papiere“ aufgedeckt hat. Die Spaßgesellschaft fällt lautlos auseinander.

Keinen Grund zur Schadenfreude, liebe Leser. Nein, es gibt keinen Grund zu Überlegenheitsbekundungen. Denn jetzt erzähle ich die wahre Horrorschichte – zumindest den Anfang. Seuchen kennen keine Staatengrenzen. Keine iPhone-Applikationen, keine Playstation, keine Klingeltöne retten auch einen befallenen europäischen Frosch vor dem drohenden Erstickungstod…

Ja Gruselgedanken, weil ich noch immer an meinem Jetlag leide. Nächstes Mal etwas Heiteres. Derweil Happy Hallowe’en!

Warum ich Optimist bin

Heute wollte ich keinen Beitrag schreiben. Das habe ich jedenfalls voriges Mal behauptet. Man muss aber wissen: Schriftsteller sind äußerst unzuverlässig, wenn es um ihr Vorhaben geht. Nur der Tod und vielleicht die Demenz bringen uns zum Schweigen.

Morgen fliege ich in die USA, um meiner Mutter beim Umsiedeln zu helfen. Sie zieht von Phoenix, Arizona, nach Dallas, Texas. Das ist eine Entfernung wie ungefähr von München nach Kairo. Nur man spricht stets die gleiche Sprache: Spanisch. Nein, nur ein dummer Witz. Man spricht Amerikanisch. Mein Bruder ist Eigentümer eines „Pickups“. Sie wissen schon: eines Kleinlasters mit Kabine und bringt einen Anhänger in Schlepptau mit, genauer gesagt, einen Pferdetransporter – etwa fünf Meter lang und mit vielen Luftschlitzen, damit die Pferde und das Hab und Gut unserer Mutter beluftet werden.

Das wird folgendes Bild ergeben: Zwei grauhaarige Männer (vielleicht ein kleines bisschen jenseits ihrer besten Jahre) fahren im Pickup-Truck mit dem alten Mütterlein querdurch den Südwesten Amerikas, wo einst die Apachen und Comanchen mit den Wölfen heulten.

Soweit so gut. Nur: Am Wochenende habe ich mir einen „Tennisellenbogen“ eingebrockt. Das, obwohl ich kein Tennis spiele. Möchten Sie auch einen? Hier mein Rezept: Erstens: Ellenbogen kräftig anstoßen, genauer gesagt, ihm einen Schlag auf den „Musikantenknochen“ verpassen. Zweitens: Versuchen Sie den Plastikkübel aus dem teueren dafür schlecht gemachten silberglänzenden Abfalleimer zu entfernen. Der klemmt nämlich sehr. Bald haben auch sie einen „Tennisellenbogen“ – ohne Sportler sein zu müssen.

Und dann stellte ich heute, d.h., am Tag vor der Reise fest, dass wir in diesem Monat das Girokonto fast schon leer gefegt haben. Wie das passierte, verstehe ich noch immer nicht ganz. Ach ja. Finanzkrise! Noch dazu kassiert die Bank einen neuen Zins. Wofür weiß ich nicht ganz genau. Man liest nur, dass die Antwort in Paragraph soundso der neuen Geschäftsordnung nachzulesen sei.

Ich bin wirklich reif für die Insel. Stattdessen werde ich trotz Tennisellenbogen die nächsten Tage schuften müssen und das nach einem langen, unbequemen Flug mit Umsteigen über mich ergehen lassen.

Dennoch bleibe ich Optimist.

Nein, ich bin kein Volltrottel vom Schlag eines Candides, Voltaires glückseligen Idioten. Ihm ging alles schief, was hätte schief gehen können und dennoch war er zufrieden.

Ich bin Realist. Außerdem weiß ich, dass sich alles schlagartig wieder ändern kann. Wenn ich fähig bin, meinen Ellenbogen blitzschnell kaputt zu kriegen – Tage, bevor ich bei einem Umzug helfen soll, warum soll ich auch nicht glauben, dass sich alles genauso schnell zum Guten wenden könnte?

Ja, warum nicht?

Und das tut es oft. Wer war es, der einen Ring hatte, worauf „Auch dies geht vorüber“ stand? Habe ich das nicht vor Jahren bei Herodot aufgegabelt?

Weiß ich nicht mehr. Es ist aber so. Sowohl die guten wie die schlechten Zeiten vergehen. Das weiß ich ganz genau, und deshalb bin ich Optimist.

Arme Bankdirektoren, deren Leben nur darin besteht, sich Tricks auszudenken, wie sie mir ein paar Euros aus der Tasche zaubern können, um sie in die eigenen Taschen umzustecken.

Nein, so ein Leben ist nichts für mich. Ich feiere lieber mit Bruder und Mütterlein den eigenen „Road-movie“. Wir sausen in die Geister toter Indianer und sonstiger ehemaliger Bewohner dieser Wildnis hinein. Vielleicht knipse ich ein paar Fotos der Unsichtbaren.

Ich komme jedenfalls in alter Frische zurück. Und dann geht es wieder los. Und ich weiß: Ich werde mich vor guten Nachrichten kaum mehr retten können.

Ja, so ist es im Leben. Und das betrifft nicht nur mich. Auch Sie werden angesprochen, beste Leser! Ja, auch Sie!

Sex, Geld und Einsamkeit

Komisch. Kaum hat man diese drei Wörter, „Sex“, „Geld“ und „Einsamkeit“, aneinander gereiht, und zack! Jeder fühlt sich – irgendwie – angesprochen.

Das kann aber nicht ganz von ungefähr sein. Mit diesen drei Vokabeln hat man die wahre Situation der Menschheit bestens umfasst. Denn „Sex“, „Geld“ und „Einsamkeit“ sind die eigentlichen Bausteine jeglicher Sehnsucht. Und wie jeder schon weiß: Das Leben auf Erden besteht nur aus Sehnsüchten.

Aber genug der Platitüden, obgleich es mir Spaß macht, sie zu artikulieren. Sie möchten ganz sicher wissen, worauf ich mit diesen hochgestochenen Gedanken hinaus will.

Es geht aktuell um Folgendes: Seit etlicher Zeit führe ich einen bizarren Mailwechsel mit einer Dame aus England. Ich werde sie „Mary Smith“ nennen, was natürlich nicht ihr richtiger Name ist.

Vor zwei Wochen erhielt ich zum ersten Mal Post von Ms. Smith. Sie vertrete eine Firma, die Werbung für Webseiten vermittelt und möchte sich erkundigen, ob ich Interesse hätte auf meiner Seite, die sie übrigens sehr schön finde, solche Werbung zu platzieren. Der Kunde sei selbstverständlich „seriös“, und sie freue sich auf meine Antwort. Ach, das Wichtigste habe ich vergessen: Sie schrieb an „Hi PJ!“ und unterschrieb „Mary“. Die übliche unverbindliche angelsächsische Freundlichkeitsfloskel halt.

Ich antwortete auf die Mail aber nicht. Nach einer Woche bekam ich wieder Post von „Mary Smith“. Sie fragte diesmal, ob ich ihre Mail erhalten hätte.

Nun schickte ich ihr eine Antwort – natürlich auf Englisch. Hier eine Übersetzung: „Sehr geehrte Ms Smith, Ich habe die Mail in der Tat erhalten und sie prompt als Spam eingestuft. Falls ich mit meinem Urteil falsch liege, hätte ich ein paar Fragen an Sie: Wieso sind Sie ausgerechnet auf meine Seite als Werbeträger für Ihren Kunden gekommen? Außerdem möchte ich gerne wissen, ob Sie Deutsch lesen und selbstverständlich um was für eine ‚seriöse’ Firma es sich handelt. Mit freundlichen Grüßen, P.J. Blumenthal.“

Sie merken: Ich habe Frau Smith auf englische Art gesiezt. Ich wollte einfach im Gegensatz zu ihr Distanz halten.

Postwendend bekam ich ihre Antwort: Nein, sie verstehe kein Deutsch, dafür habe sie „Google translation“ oder wie immer das Ding heißt, konsultiert. Es handele sich um eine „gaming“-Firma, und sie biete mir 150 US$ jährlich für meine Mitarbeit an.

Ich ließ ein paar Tage verstreichen, bevor ich erneut zurückschrieb. In einem kurzen Satz habe ich mich bedankt und das Angebot abgelehnt. Notabene: Ich habe genau darauf geachtet, keine Patzigkeiten zu schreiben. Etwa: „Was hat ein Spielkasino mit meiner Seite gemeinsam? Ein Verlag vielleicht, aber ein Spielkasino?“ Nein, ich war sehr bemüht, sachlich und höflich zu bleiben.

Nun dachte ich, die Sache sei endgültig gegessen. Drei Tage später bekam ich aber wieder Post von „Ms. Smith“. „PJ – Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mir erklären würdest, warum Du mein Angebot abgelehnt hast.“ Natürlich schrieb sie Englisch. Ich übersetze hier lediglich dem Ton nach. Und der klang traurig, verdutzt, enttäuscht.

„Liebe Mary Smith“, antwortete ich, schon wieder um Sachlichkeit bemüht. „Das Angebot passt nicht zu meiner Seite. Herzliche Grüße, P.J. Blumenthal.“ Ich glaubte, die Sache wäre damit nun wirklich ad acta gelegt. Fehlanzeige. Wieder eine Mail von Frau Smith. „Danke, PJ, Ich denke, ich verstehe dich. Deine Mary.“

Ja, Sex (im weitesten Sinn des Wortes freilich), Geld und Einsamkeit. Das wahre Menschheitsdilemma zeigt sich, wie schon gesagt, in beinahe jeder Kommunikation. Ich bewundere Mary Smith aber. Sie hat Schwäche gezeigt, das heißt, sie hat sich trotz ihrer Pose als Mensch erkennen lassen, und das, so glaube ich, war ihre wahre Stärke.

PS: Die nächsten zwei Wochen mache ich Pause. Bin nämlich verreist und ohne Klapprechner unterwegs. Selbstverständlich gilt meine Reise letztendlich nur Ihnen. Ich kehre mit schönen, frischen Erlebnissen aus der Fremde zurück. Fortsetzung folgt…Ihr Sprachbloggeur.

Der Unterschied zwischen Jungs und Mädchen

Wer hätte gedacht, dass ich den Unterschied zwischen den Geschlechtern, nur weil ich eingelegte Weinblätter, „Dolmades“, gerne esse, endlich kapieren würde?

Jeden Freitag kaufe ich mir im Supermarkt vier Dolmades, die ich am Samstag mit Genuss schnabuliere. Meine Frau und meine Söhne teilen meine Leidenschaft für die Weinblätter nicht. Sorge um den Futterneid brauche ich also nicht zu haben. Alles nur für mich!

Normalerweise werde ich im Supermarkt von einer netten Dame bedient. „Vier Weinblätter, bitte“, sage ich. Niemals „vier Dolmades“. Man kann heute nicht mehr die Kenntnis dieses Fremdwortes voraussetzen. Schließlich leben wir im Postpostmodernen.

Behutsam und behändig schiebt die Dame die Dolmades Stück für Stück auf ihre Servierkelle – selbstverständlich sucht sie nach den schönsten – und legt sie  liebevoll einzeln in den durchsichtigen Kunststoffbehälter. Dann kippt sie den Behälter – natürlich passt sie auf, dass die Dolmades nicht herausfallen – über die Servierschale, um das bisschen Öl im Behälter auströpfeln zu lassen. Erst danach legt sie die Ware auf die Waage. Sonst bezahlte ich ja das überschüssige Öl mit. Nachdem die elektronische Waage das Preisetikett herausgespuckt hat, fragt sie mich höflich: „Möchten Sie etwas Öl dazu haben?“

„Aber gerne“, sage ich. Mit der Kelle schaufelt sie etwas Öl in den Behälter, macht ihn nun mit Wickelfolie endgültig zu, tütet ihn ein, setzt das Preisetikett drauf, und fertig ist die Sache.

„Schönes Wochenende!“ trillert sie.

So läuft es Woche für Woche. Am letzten Freitag war die Dame aber nicht da. An ihrer Stelle stand ein junger Mann mit schütterem roten Kinnbart und zersausten Kopfhaaren hinter der Theke.

„Vier Weinblätter, bitte“, sagte ich wie immer.

Der junge Mann langte mit seiner Kelle in die Servierschale und schaffte es in einem Wisch, vier Stück herauszuangeln. Geschwind ließ er sie in den Plastikbehälter fallen, legte den Behälter auf die Waage, wickelte und tütete ihn ein und versah die Tüte mit dem Preisetikett. Zack! fertig. Keine acht Sekunden hat der Vorgang gedauert.

„Schönes Wochenende!“ sagte er freundlich.

Und jetzt kam das Aha-Erlebnis. Ich hatte den Unterschied zwischen den Geschlechtern anhand eines anschaulichen Beispiels endlich verstanden. Vor allem, weil ich wusste, ich hätte es ebenso gemacht wie er. Das heißt: vier Dolmades schwups auf die Kelle geschoben. Nur eins hätte ich allerdings anders gehandhabt als er: Ich hätte das überschüssige Öl erst aus dem Behälter auströpfeln lassen, wie die Dame es immer macht, bevor ich die Ware auf die Waage gelegt hätte. Das werde ich dem jungen Mann – Mann zu Mann – das nächste Mal auch sagen, falls er nicht schon Geschäftsführer geworden ist.

Für den Anfang hat das objektive Beobachten gereicht. So machen es auch die Wissenschaftler.

Vielleicht fragen Sie sich, was diese Sache mit Sprache zu tun hat. Ich zögere keinen Augenblick mit meiner Antwort:

Was ich oben beschrieben habe, ist die Basis aller Sprache. Denn die gesprochene Sprache ist das Kind der Körpersprache, die die älteste Sprache überhaupt ist. Das vergisst man manchmal.

Zugebeben: Obige Darstellung ist etwas überspitzt, und Variationen sind allemal möglich. Aber vive la différence! Und nun meine Frage an Sie, lieber Leser, liebe Leserin. Wie würden Sie mir meine Dolmades servieren?

Die Kunst des Vergessens – erste Lektion

„Guten Morgen Herr…“, hat er mir heute früh gesagt, als ich die Bäckerei betrat. Ich kenne ihn schon lange. Ein netter Mann in den mittleren Jahren, dem ich oft auf der Straße begegne. Er ist motorisch behindert, und zwar sehr. Unsere Gespräche verlaufen meistens nach dem gleichen Muster: Er fragt freundlich nach der Uhrzeit, oder erklärt mir, dass es Montag ist oder 2009. Es gibt aber auch andere Themen. Nein, er ist nicht geistig behindert. Er ist geistig anders. Man sieht ihm die Klarheit in den Augen an. Manchmal kann er ausgesprochen witzig und verschmitzt sein.

Zum Beispiel, als er heute früh sagte „Guten Morgen Herr…“ Nein, nicht „Herr Blumenthal“. Er kennt meinen Namen so wenig wie ich den seinen kenne.

Der Name, mit dem er mich begrüßte, war aber nicht einfach aus der Luft gegriffen. Es war ein bekannter Name, und er wollte damit etwas aussagen. So etwas wie „Herr Sarkozy“ oder „Herr Machiavelli“ oder „Herr General“. Er wollte also einen Witz machen. Seine Witze haben stets Tiefgang. Ich wiederum wollte auf gleiche, schlagfertige Weise antworten. Mir fiel die passende Retourkutsche aber nicht ein. Stattdessen sagte ich etwas anders, und dann kamen wir auf ein ganz anderes Thema: Wir sprachen über die Vergänglichkeit.

Inzwischen hatte ich meine dunkle Breze bezahlt, ich verabschiedete mich und ging. Erst dann fiel mir auf, dass ich den Namen, den er mir angedichtet hatte, bereits vergessen hatte. Er war weg, und ich kam bei bestem Willen nicht mehr drauf. Auch jetzt nicht mehr.

Ich musste an Simonides denken. Über ihn habe ich schon einmal geschrieben. Er geht in die Geschichte ein als der erste Schriftsteller, der Geld für seine Lyrik verlangt hatte, der erste also, der das Wort als Ware erachtete (Siehe „Das Wort als Ware“).

Manche Kenner halten ihn für den größten Lyriker der griechischen Antike. Von seinem umfangreichen Werk haben allerdings nur wenige Fetzen dem Zahn der Zeit widerstanden. Stellen Sie sich vor, es gäbe Goethe nur noch in Fragmenten!

Simonides war aber in der Antike auch aus einem anderen Grund bekannt. Er galt als Erfinder der Gedächtniskunst – der Kunst sich Dinge und Worte zu merken und zu wiedergeben.

Diese Kunst war in Griechenland und Rom besonders bei den Rhetoren beliebt. Denn sie haben ihre ellenlangen Plädoyers stets auswendig rezitiert.

Die Technik funktionierte ungefähr so: Zuerst musste der Rhetor eine genau gegliederte Rede schreiben. Das war die Voraussetzung. Dann stellte er sich vor, dass jede Säule und jede Kassette der Halle, wo er seine Rede vortragen sollte, einem Teil dieser Gliederung entspräche. Es handelte sich also um ein sehr raffiniertes Eselsbrückensystem, Die Elemente der Architektur dienten als die Aufhänger.

Es gibt übrigens eine andere Methode, Texte auswendig zu lernen. In meinen jungen Jahren habe ich geschauspielert und mitunter sehr lange Texte aus dem Gedächtnis vortragen müssen. Wir lernten aber Wort und Bewegung zu vereinen. Jeden Handgriff, jeden Schritt haben wir mit den entsprechenden Worten verlinkt. Es hat großartig geklappt.

Nun werden Sie zwei Techniken der Gedächtniskunst meistern können. In der Antike erzählte man, dass Simonides vorhatte, dem Feldherrn Themistokles die Gedächtniskunst beizubringen. Woraufhin Themistokles geantwortet haben soll : „Ich würde lieber die Kunst des Vergessens lernen. Denn mir fällt immer das ein, woran ich nicht erinnert werden möchte. Ich kann nicht vergessen, was ich vergessen möchte.“

Ich wäre der perfekte Lehrer für Themistokles gewesen. Denn ich vergesse fast alles, und das schon seit Jahrzehnten. Doch auch diese Kunst kann man sehr schnell meistern: Dafür braucht man nur in der Gegenwart zu leben. Ja, so einfach ist es. Somit kann man alles vergessen, was keinen Bezug zur Gegenwart hat!

Wenn Sie meinten, ich würde Sie an dieser Stelle mit dem Namen, den ich heute früh vergessen habe, überraschen, dann haben Sie noch nicht verstanden, wie perfekt ich die Kunst des Vergessens beherrsche.

Es lebe das Vergessen! Ende der ersten Lektion.

Die Wahrheit über die Menschennatur

„Ich kenne keinen Guido“, sagte meine Mutter. Warum sollte sie auch? Sie ist Amerikanerin, und außerdem interessiert sie sich überhaupt nicht für die Politik – auch nicht für die amerikanische.

Dafür liest sie aber die „Arizona Republic“. „Wer kann so viel lesen?!“, sagt sie. „Das meiste schaue ich mir überhaupt nicht an. Ich werfe es gleich weg.“ Aber mit einer erstaunlichen Fingerfertigkeit extrahiert sie die „Arizona Living“-Seiten aus der Zeitungsmasse und stürzt sich auf die Rätselseite.

Kreuzworträtsel und „Jumbles“ (Buchstabensalat, aus dem man Wörter macht,) das sind ihre Lieblinge. Sudokos? Nein, danke. Auch ein paar Comics mag sie gerne lesen. Doch nur ein paar. „Der Rest ist so idiotisch.“ Gelegentlich wird sie einen Artikel über Deutschland überfliegen – z.B. dass jetzt Oktoberfest ist – , weil sie weiß, dass ich in Deutschland lebe. Aber sie verliert das Interesse am Inhalt sehr schnell.

Als ich neulich am Telefon den Namen Silvio Berlosconi fallen ließ, reagierte sie mit Unkenntnis. „Weißt du nicht, wer das ist?“ fragte ich.

„Nein, wer ist das?“

„Nicht so wichtig“, antwortete ich. Und so ist es: Für sie ist der Name Berlusconi ebenso unwichtig wie der von Guido.

Nein, nein. Kein Anzeichen von Demenz oder Alzheimer. Nur Desinteresse für das, was sie nicht direkt tangiert.

Und somit habe ich ein Problem gelöst, dass die Wissenschaft seit Jahrhunderten geplagt hat. Meine eigene Mutter ist die Antwort auf die Frage: Wie ist der Mensch, wenn er nur nach seiner ureigenen Natur lebt? Früher war in Gelehrtenkreisen von „homo ferus“ – zu Deutsch „der wilde Mensch“ die Rede.

Die Wissenschaftler haben wirklich geglaubt, es gebe Menschen, die nie Kontakt zu anderen Menschen hatten. Heute wissen wir, dass das unmöglich ist. Ohne Kontakt zu anderen geht der Mensch – erst recht als Kind – ein. (Über Wolfskinder brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Tiere machen sehr schlechte Mütter für Menschen). Meine Mutter hingegen ist der lebende Beweis, dass es den „homo naturalis“ gibt. Das heißt: Sie und Milliarden andere Menschen, deren Interesse nicht weiter als ihre unmittelbare Umwelt reicht. Diese Milliarden kennen weder Berlusconi (sorry, Silvio) noch Guido – höchstens Michael Jackson. Dennoch kämen sie nie auf die Idee, sie hätten etwas verpasst.

Hier ein bekanntes Beispiel aus der Frühzeit des Rätselratens über den „homo naturalis“: das des „Wilden Peters“. Er wurde 1724 – damals war er vielleicht dreizehn Jahre alt – in Hameln entdeckt. Stumm und nackt stand er da und trug noch Reste zerfetzter Kleider am Leib. Schnell gingen die Meinungen auseinander: Naturkind oder verblödetes Kind?

Zufälligerweise hatte der englische König Georg I – ehemals Georg Ludwig, Kurfürst von Hannover – von diesem Knaben erfahren. Er nahm Peter nach London mit, wo die angesehensten Geisteswissenschaftler dieser Zeit ihn näher untersuchen sollten.

Peters erster „Lehrer“, der Arzt und Mathematiker John Arbuthnot, kam auf die geniale Idee, dem Jungen Englisch beizubringen. Der Wissenschaftler meinte, wenn er Englisch lernt, wird er von allein über seine abenteuerliche, wilde Vergangenheit erzählen. Peter lernte kein einziges Wort, und der enttäuschte Wissenschaftler gab auf. Vorteil Peter. Er durfte den Rest seines langen Lebens auf Staatskosten auf dem Land verbringen. Ab und zu meldete sich ein Wissenschaftler, der in des „wilden“ Manns Seele zu schauen gedachte. Aber das gelang letztlich niemandem.

Ich bin überzeugt, dass Peter, wenn er heute lebte, auch wenn er sprechen könnte, nicht wissen würde, wer Silvio Berlusconi ist. Auch nicht, wer Guido ist. Dennoch kein Grund, kein schönes Leben zu haben. Nicht wahr, Mutter?

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