Ich würde gerne von den anderen Planeten erzählen, die ich während der letzten Wochen in einem schnieken Raumschiff besucht habe. Doch ich fürchte, dass ich momentan Ihre Aufmerksamkeit mit Geschichten von anderen unbekannten und exotischen Welten kaum einfangen könnte.
Denn gerade habe ich von den neuesten Wikileaks-Enthüllungen erfahren.
Haben Sie die 251.287 brisanten Depeschen der US-Botschafter schon gelesen? Ich schon, und zwar heute Vormittag.
Falls Sie auch schon dazu gekommen sind, folgende Frage: Kamen sie Ihnen ebenso langweilig vor wie mir? (Ich bitte schon jetzt um Verständnis, falls Sie anderer Meinung sind).
Besonders enttäuschend: Lediglich 15.652 werden als richtig „geheim“ eingestuft. Sie wissen schon: das saftige Zeug, das für Nervenkitzel sorgt. Das meiste hingegen erhält nur Prädikat „vertraulich“ oder ist noch lahmer. Mit anderen Worten: Pflichtübungen bezahlter Diplomaten.
Bisher haben die Medien dreißig oder so von all jenen Enthüllungen enthüllt. Das hat natürlich Gründe. Man will die Aufmerksamkeit des Lesers (bzw. des Zuschauers) nicht überstrapazieren. In Deutschland gilt als leckerstes Bisschen, dass der US-Botschafter Kanzlerin Merkel als „Teflon-Politikerin“ einschätzt und dass Frau Merkel als besonders vorsichtig wirke. Ich glaube, der Herr Botschafter hat das in der FAZ oder der SZ gelesen – bzw. in einem ins Englische übersetzten täglichen Briefing aus diesen Zeitungen. Ganz ehrlich: War das mit dem Teflon wirklich als Veriss gemeint? Oder wollte er der Bundeskanzlerin ein Kompliment machen? Zur Erinnerung: Ronald Reagan wurde seinerzeit in der US-Presse als „Teflon-Präsident“ etikettiert. Denn er konnte alles machen, und es blieb nichts an ihm kleben. Man hat ihn um diese Qualität beneidet.
Ja, und dann war zu lesen, dass Guido Westerwelle als „unerfahren“ und „arrogant“ gilt. Huch! Welch brisante Enthüllungchen!
„Alpha-Rüde Putin“? Aber bitte. Das hat Putin wahrscheinlich selbst über sich gesagt.
Ich kehre nach weiter Reise auf die Erde zurück, erfahre vom großen Skandal und verstehe die Aufregung nicht. Keine Ahnung, woher Leakmeister Assange seine Infos bezieht. Ist aber egal. Das Absurde: In ein paar Jahren hätten die Autoren besagter Depeschen von alleine den Inhalt in ihren „kiss and tell“-Memoiren veröffentlicht.
Gibt es keine richtigen Enthüllungen mehr – wie einst in der „Watergate“-Zeit oder damals bei der „Guillaume-Affäre“, als die Wahrheit noch schockieren konnte? Kaum. Nicht einmal pädofile Priester machen großen Eindruck auf uns.
Fakt ist: Im Informationszeitalter sind „Leaks“ (undichte Stellen) und sonstige Enthüllungen letztlich ein Auslaufmodel. Man kann nur eine gewisse Menge Info verdauen, und die hat ohnehin eine sehr kurze Haltbarkeit. Der Kunde wird stets mit Frischem bombardiert, um den längst erstarrten Appetit zu erregen. Pornographie funktioniert ähnlich. Man braucht die neuen Bilder, um das Interesse wachzuhalten.
Wer glaubt wirklich, dass sich nächste Woche noch jemand für die dieswöchigen Blamagen interessieren wird – mit Ausnahme vielleicht einiger Historiker oder nimmersatter Journalisten?
Können Sie sich an die Wikileaks-Enthüllungen über Irak vom vorigen Monat noch erinnern? Dass waren etwa 400.000 gruselige Fakten, Geschichten und bildliche Darstellungen. Können Sie nur zwei von diesen Ereignissen spontan aus dem Gedächtnis aufrufen?
Wahrscheinlich nicht, und das ist nicht einmal so schlimm. Nein. Die Welt geht nicht zugrunde, weil ein Botschafter preisgibt, dass gewisse Saudis Al Qaida unterstützen oder dass die Golfstaaten den Iran am liebsten auf den Mond schießen lassen würden, oder dass keiner weiß, was wirklich in Nordkorea los ist.
Schade, dass ich Ihnen heute nicht von dem erdähnlichen Planeten erzählen kann, den ich auf meiner jüngsten Reise entdeckt habe. Er ist so groß wie unsere Erde und hat ein ähnliches Klima, nur viel schöner, weil die Temperaturen stets zwischen 15°C und 22° C pendeln, und es weht eine leichte Brise. Grund für dieses mässiges Klima: Dieser Planet kursiert zwischen zwei Sonnen und umkreist im Laufe eines Jahres beide, indem er eine Art „8“ zeichnet. Vielleicht erzähle ich ein anderes Mal über die dortigen Menschen, aber das tue ich erst, wenn bei uns weniger enthüllt wird.
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