Es ist mir peinlich, folgende Begebenheit zu schildern, aber jeder liest gerne Peinlichkeiten. Oder?
Eine Zufallsbegegnung mit Frau F. am Samstag vor dem Haus. Sie ist ein liebenswürdiger Mensch und eine gute Nachbarin. Es war gegen halb eins. Die Sonne schenkte letzte Herbstwärme. Man freut sich über das schöne Wetter, und man redet gerne mit den Nachbarn übers Wetter. Was auch nicht schlimm ist. Im Gegenteil. Über das Wetter zu reden ist Metasprache und bedeutet: „Sie sind in Ordnung, es herrscht Friede zwischen uns.“ Man darf nicht alles wörtlich nehmen.
Aber nun fragte mich Frau F., ob ich heute zur Großdemo ginge. Gemeint war die Demonstration in München gegen die Verlängerung des Atomkraftwerkevertrags. Man wollte an diesem Tag eine Menschenkette durch ganz München formieren.
„Nein, habe ich nicht vor“, antwortete ich. „Wozu auch? Die paar Jahre Atommüll werden eh nicht viel an der Sache ändern. Es besteht ohnehin Konsens, dass es mit der Atomenergie nicht so weiter gehen kann. Mittlerweile ist jedem klar, dass die Atomenergie eine vorübergehende Lösung ist.“ (Achtung: Das Wort „Lösung“ ist hier zu beachten).
„Ja, sicher“, antwortete Frau F. „Die Endlagerung des Atommülls bleibt nach wie vor ein unlösbares Problem.“ (Achtung: Das Wort „Endlagerung“ ist hier zu beachten).
„Genau“, erwiderte ich, „bis man auf eine Endlösung der Atommüllagerung kommt…“
Upps. Haben Sie es gemerkt? Es rutschte aus mir einfach so heraus. Ich wollte nur „bis man auf eine Lösung der Endlagerung“ sagen. Daraus wurde eine „Endlösung der Atommülllagerung“.
Mir war sofort klar, wie sehr ich gegen die Gepflogenheiten der deutschen Sprache gesündigt hatte. Schade. „Endlösung“ wäre wirklich das passende Wort dafür gewesen. Nur: Diese Vokabel ist nicht weniger vergiftet als die Stadt Tschernobyl oder das von roten Erdmassen überschwemmten Koluntar und Umgebung in Ungarn.
Ich bin wahrlich nicht zimperlich, was Sprache betrifft. Einmal habe ich über „Jedem das Seine“ geschrieben und für dessen Freilassung aus dem Sprachgefängnis plädiert. „Jedem das Seine“ habe, so meinte ich, lange genug gesessen, sei ohnehin in anderen Sprachen gebräuchlich („chacqu’un son goût“, „to each his own“) usw.
„Endlösung“ ist aber anders. Erheblich anders. Eine Erfindung des Obernazis Reinhard Heydrich, glaube ich. Dieses Wort kann und will man nicht aus dem Sprachgefängnis entlassen. Es nimmt seine Mahlzeiten mit anderen hartgesottenen Knastis wie „Arbeit macht frei“ und „unwertes Leben“ ein. Allen wurde die Sicherungsverwahrung aus guten Gründen auferlegt.
Dennoch gibt der große Duden (Jahrgang 1976) „Endlösung“ als „normale“ Vokabel im Sinne von „endgültige Lösung“ an, allerdings mit dem Hinweis „selten“. Sonst heißt es nach Duden „Plan zur Ausrottung der europäischen Juden“.
Ich weiß nicht, wie viele Wörter und Begriffe heute im Sprachgefängnis noch sitzen. Ich glaube nicht, dass es viele sind. Es muss eine gemütliche Großanlage sein. Wie einst Spandau. Lebenslänglich haben ohnehin nur die wenigsten Wörter bekommen. Vielleicht sitzen auch dort die einen oder anderen politisch unkorrekten Sprüche mit. Die meisten von ihnen dürfen aber am Wochenende nach Hause gehen.
Nicht die „Endlösung“. Armes Wörtchen. Eigentlich selbst das Opfer. Es waren Menschenzungen und kranke Hirne, die es zum Delinquenten machten. Aber was heißt „lebenslang?“ Wenn ich noch hundert oder noch besser zweihundert Jahre lebe, kann ich diese Frage genauer beantworten. Vielleicht werden eines Tages auch Tschernobyl und Koluntar wieder bewohnbar sein. Alles ist möglich.
Die gute Nachricht: Meine kleine Indiskretion ist Frau F. wohl nicht aufgefallen. Wenn ja, hat sie nichts verlautbaren lassen. So ist es bei guten Nachbarn. Man überhört ganz unauffällig vieles.
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