Vergangenen Freitag habe ich mich widerwillig in die Münchner U-Bahn gezwängt – wie jeder andere, der wegen der draußen liegenden Schneemassen auf das restlos überfüllte öffentliche Verkehrssystem angewiesen war. (Meine Frau würde sagen: „Sei nur froh, dass wir ein so gutes öffentliches Vehrkehrssystem haben! Denke an die USA.“ Sie hat recht.).
Ich sage trotzdem „widerwillig“, weil ich momentan an einem Drehschwindel leide, der am vergangenen Freitag besonders akut war. Aber mehr darüber unten.
Neben mir stand eine junge Frau eingequetscht und unterhielt sich mit einem jungen Mann, der etwa drei Menschenkörper von ihr entfernt und ebenso eingefangen war wie sie. „Ja, und auch die Birgit war da“, sagte er der jungen Frau. „Sie spricht alle und jeden an.“
„Das weiß ich. Die Birgit ist eine eingeschworene Partymaus“, antwortete sie.
„Und war auch der Robert da?“ fragte sie nach einer kleinen Denkpause.
„Nee, der ist kein Partytier“, sagte er.
„Und was war mit Jens?“
„Ach, weißt du. Er mag keine Partys. Er ist ein An-der-Bar-Mensch.“
„Trotzdem schwärmen alle Mädel um ihn herum“, sagte sie.
Sie sehen. Man fährt U-Bahn im Gedränge. Dazu auch widerwillig. Es ist einem (das heißt mir) mulmig, und dennoch hat man Gelegenheit, Neues dazuzulernen. Zum Beispiel, dass man im Deutschen Partygänger mit Tierwörtern beschreiben kann. Das war mir bisher nie so ganz bewusst. Indirekt gilt das übrigens auch für die Mädel, die den „An-der-Bar-Menschen“ Jens umschwirrten wie die Motten das Licht . Nein wie Bienen den Blütenstängel. Seit etwa einhundert Jahren wird „Biene“ im Deutschen im Sinne von „junge Frau“ verwendet. (Nebenbei ein bisschen Kulturgeschichte: Im 19. Jahrhundert stand das Wort für „Prostituierte").
Warum so viel Getier auf der Feier? Ist doch klar. Man geht auf die Party – zumindest, wenn man jung ist – mit Paarungsabsichten.
In der Tierwelt zwitschern die Vögel ihre einsamen Melodien, um den (die) Partner(in) anzulocken. Panther und Geparden hecheln und stöhnen, wenn es so weit ist, Grillen sägen zirpende Rhythmen mit den eigenen Beinen. Menschen hasten, wenn die uralten Sehnsüchte erwachen, zu Partys.
Zugegeben: Das ist nicht der einzige Grund, warum Menschen auf Partys gehen. Man möchte auch den Bekanntenkreis erweitern oder sich mit lieben Freunden unterhalten. Schließlich sind wir Menschen mehr als nur Triebtiere. Schauen Sie Jens an. Er ist ein „An-der-Bar-Mensch“.
Aber jetzt zu meinem Tier: dem Drehwurm, der mich seit letzter Woche fest im Griff hat.
Seit einer Woche wird mir schwindlig, wenn ich mich vom Liegen aufrichte oder vom Sitzen hinlege. Was heißt schwindlig? Es ist wie auf dem Karussell, wenn die Bremsen versagen und der Schausteller Sadist ist. Mediziner bezeichnen diesen Zustand als einen „Lagerungsschwindel“. Er entsteht, wenn aus unerklärlichen Gründen die Signale im Innenohr aufgemischt werden. „Ist eigentlich harmlos, nur äußerst fies“, sagte mir mein Arzt. Auch die Übungen, die einem aufoktroyiert werden, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, sind fies. Man setzt sich aufs Bett und wirft sich schnell in die horizontale Lage. Damit weckt man den Drehwurm ins Leben. Ein komisches Gefühl. Es passiert zunächst nichts. Dann erhebt er sich wie alle vier apokalyptischen Reiter und beginnt durch den Kopf zu galoppieren. Es ist ein Leben wie in der Windhose. Gesicht sagt Rücken Hallo. Es gibt nirgends Halt. Der Wurm hebt sich auf, dass es dir angst und bange wird. Man lässt die Sache lediglich über sich ergehen. Mehr kann man ohnehin nicht tun als den Angriff des wild gewordenen Wurms aussitzen und einen Punkt an der Wand mit den Augen fixieren, bis sich das Tier ausgetobt hat. Dann Zack! Auf einmal ist alles wieder ruhig. Der Drehwurm legt sich völlig ermattert wieder hin. Er ist weg. Ja, liebe Spinner, diese Übung macht man so lange, bis er irgendwannmal ganz aufgibt. Das hoffe ich jedenfalls. Dann werde ich feiern. Ich habe vor, auf die Party zu gehen, um nach der Birgitt-Maus oder nach Jens und Robert zu suchen und das Leben wieder zu genießen.
Ich würde gerne von den anderen Planeten erzählen, die ich während der letzten Wochen in einem schnieken Raumschiff besucht habe. Doch ich fürchte, dass ich momentan Ihre Aufmerksamkeit mit Geschichten von anderen unbekannten und exotischen Welten kaum einfangen könnte.
Denn gerade habe ich von den neuesten Wikileaks-Enthüllungen erfahren.
Haben Sie die 251.287 brisanten Depeschen der US-Botschafter schon gelesen? Ich schon, und zwar heute Vormittag.
Falls Sie auch schon dazu gekommen sind, folgende Frage: Kamen sie Ihnen ebenso langweilig vor wie mir? (Ich bitte schon jetzt um Verständnis, falls Sie anderer Meinung sind).
Besonders enttäuschend: Lediglich 15.652 werden als richtig „geheim“ eingestuft. Sie wissen schon: das saftige Zeug, das für Nervenkitzel sorgt. Das meiste hingegen erhält nur Prädikat „vertraulich“ oder ist noch lahmer. Mit anderen Worten: Pflichtübungen bezahlter Diplomaten.
Bisher haben die Medien dreißig oder so von all jenen Enthüllungen enthüllt. Das hat natürlich Gründe. Man will die Aufmerksamkeit des Lesers (bzw. des Zuschauers) nicht überstrapazieren. In Deutschland gilt als leckerstes Bisschen, dass der US-Botschafter Kanzlerin Merkel als „Teflon-Politikerin“ einschätzt und dass Frau Merkel als besonders vorsichtig wirke. Ich glaube, der Herr Botschafter hat das in der FAZ oder der SZ gelesen – bzw. in einem ins Englische übersetzten täglichen Briefing aus diesen Zeitungen. Ganz ehrlich: War das mit dem Teflon wirklich als Veriss gemeint? Oder wollte er der Bundeskanzlerin ein Kompliment machen? Zur Erinnerung: Ronald Reagan wurde seinerzeit in der US-Presse als „Teflon-Präsident“ etikettiert. Denn er konnte alles machen, und es blieb nichts an ihm kleben. Man hat ihn um diese Qualität beneidet.
Ja, und dann war zu lesen, dass Guido Westerwelle als „unerfahren“ und „arrogant“ gilt. Huch! Welch brisante Enthüllungchen!
„Alpha-Rüde Putin“? Aber bitte. Das hat Putin wahrscheinlich selbst über sich gesagt.
Ich kehre nach weiter Reise auf die Erde zurück, erfahre vom großen Skandal und verstehe die Aufregung nicht. Keine Ahnung, woher Leakmeister Assange seine Infos bezieht. Ist aber egal. Das Absurde: In ein paar Jahren hätten die Autoren besagter Depeschen von alleine den Inhalt in ihren „kiss and tell“-Memoiren veröffentlicht.
Gibt es keine richtigen Enthüllungen mehr – wie einst in der „Watergate“-Zeit oder damals bei der „Guillaume-Affäre“, als die Wahrheit noch schockieren konnte? Kaum. Nicht einmal pädofile Priester machen großen Eindruck auf uns.
Fakt ist: Im Informationszeitalter sind „Leaks“ (undichte Stellen) und sonstige Enthüllungen letztlich ein Auslaufmodel. Man kann nur eine gewisse Menge Info verdauen, und die hat ohnehin eine sehr kurze Haltbarkeit. Der Kunde wird stets mit Frischem bombardiert, um den längst erstarrten Appetit zu erregen. Pornographie funktioniert ähnlich. Man braucht die neuen Bilder, um das Interesse wachzuhalten.
Wer glaubt wirklich, dass sich nächste Woche noch jemand für die dieswöchigen Blamagen interessieren wird – mit Ausnahme vielleicht einiger Historiker oder nimmersatter Journalisten?
Können Sie sich an die Wikileaks-Enthüllungen über Irak vom vorigen Monat noch erinnern? Dass waren etwa 400.000 gruselige Fakten, Geschichten und bildliche Darstellungen. Können Sie nur zwei von diesen Ereignissen spontan aus dem Gedächtnis aufrufen?
Wahrscheinlich nicht, und das ist nicht einmal so schlimm. Nein. Die Welt geht nicht zugrunde, weil ein Botschafter preisgibt, dass gewisse Saudis Al Qaida unterstützen oder dass die Golfstaaten den Iran am liebsten auf den Mond schießen lassen würden, oder dass keiner weiß, was wirklich in Nordkorea los ist.
Schade, dass ich Ihnen heute nicht von dem erdähnlichen Planeten erzählen kann, den ich auf meiner jüngsten Reise entdeckt habe. Er ist so groß wie unsere Erde und hat ein ähnliches Klima, nur viel schöner, weil die Temperaturen stets zwischen 15°C und 22° C pendeln, und es weht eine leichte Brise. Grund für dieses mässiges Klima: Dieser Planet kursiert zwischen zwei Sonnen und umkreist im Laufe eines Jahres beide, indem er eine Art „8“ zeichnet. Vielleicht erzähle ich ein anderes Mal über die dortigen Menschen, aber das tue ich erst, wenn bei uns weniger enthüllt wird.
Ein Mann steht neben seinem Wort. Genauer: Ein Strichmännlein steht neben einem gestrichelten Quadrat, das aussehen soll wie ein Mund. So schreibt man „Wahrheit“ auf Chinesisch.
Schon habe ich meine Kenntnisse der chinesischen Schriftzeichen (fast) vollständig erschöpft.
Und doch habe ich Ihnen die – momentan – gefährlichste Vokabel der chinesischen Sprache erläutert. Dieses Schriftzeichen bedeutet nämlich „Wahrheit“.
Sind Sie auch auf einen kurzen Text gestoßen, der vor ein paar Tagen in vielen Zeitungen – meistens auf Seite 23 neben der Werbung für Billigflüge – veröffentlicht wurde? Es ging um eine Demarche (Diplomatensprache für „Einspruch“), die die chinesische Regierung an diverse europäische Botschaften verteilen ließ: der eindringliche Appell, die Nobelpreisverleihung an Liu Xiaobo am 10. Dezember in Oslo als Zeichen der Solidarität mit China fernzubleiben. Befreundete Regierungen wurden fürderhin gebeten, Liu nicht zu gratulieren und dafür zu sorgen, dass in der Presse die Sache unerwähnt bleibe.
Und haben Sie von der Schanghai „Flusskrebsaffäre“ erfahren? Das chinesische Schriftzeichen „Flusskrebs“ bedeutet auch „Harmonie“. „Harmonie“ wiederum sagt man auf Chinesisch schönrednerisch für „Zensur“. Es ging um Folgendes: Künstler Ai Weiwei wollte vor kurzem eine Party schmeißen, um seinen Rauswurf aus seinem Schanghaier Atelier zu „feiern“. Passend zu dieser Abendgesellschaft sollten Flusskrebse serviert werden. Zugegeben: eine milde Provokation. Prompt hat ihn die Polizei unter Hausarrest gestellt.
Mit Worten wie „Tibet“, „Ai Weiwei“ oder „Liu Xiaobo“ – geschweige denn „Platz des himmlischen Friedens“ – macht man sich im heutigen China schnell verdächtig.
Armes China. Solcher Aufwand, um das dürre Strichmännchen, das neben seinem Mundwerk steht, zu ersticken. Als wäre das im Zeitalter der Inforevolution überhaupt möglich!
Ein kurzer Rückblick. Wir schreiben das Jahr 1567. Die protestantischen Niederlande sind Besitz der spanischen Habsburger. König Philipp II schickt Álverez de Toledo, den Herzog von Alba, einen langen Strich von einem Menschen, als Statthalter in die Niederlande. Der eifrige Herzog will mit den lästigen niederländischen Reformisten endgültig aufräumen, um das Land für den katholischen Glauben zurückzugewinnen.
Alba kennt die neuralgischen Punkte seiner Welt ebenso präzise wie Hu Jintao, Staatspräsident Chinas, die seiner Welt. Folglich lässt er alle Drucker, Verleger und Buchhändler umbringen und ihre Geschäfte dem Erdboden gleich machen. (Schließlich schreiben wir die Zeit der Gutenbergrevolution). Für Alba war freilich das allergefährlichste Buch das Buch der Bücher, die Bibel. Wie jeder heute weiß: Die römische Kirche hat damals die Ausgabe der heiligen Schriften für Unbefugte als außerordentlich gefährlich erachtet.
Es kam aber, wie es kommen musste, ganz anders. Albas Eifer machte die Niederländer keinesfalls gefügig. Im Gegenteil. Der Widerstand potenzierte sich schlagartig. Der nicht gerade zimperliche Herzog reagierte schnell: Er ließ Tausende von Widerständlern abschlachten und hinrichten. Doch auch diese beherzte Reaktion erbrachte die erwünschte Wirkung nicht.
Inzwischen watete Alba bis zu den Schienbeinen in Blut. (Das ist nur Bildersprache. Soviel Blut ist bestimmt nicht geflossen). Bald wurde die Sache aber dem medienbewussten Philipp zu peinlich. 1573 pfiff er seinen Alba zurück. Die spanische Herrschaft über die Niederlande war trotz alledem bald zu Ende.
Am liebsten würde ich diese Glosse als Demarche an die chinesische Regierung schicken. Leider habe ich die Adresse nicht, und ich kann auf Chinesisch lediglich „China“, „Mann“, „gut“ und „Wahrheit“ schreiben.
Ich hoffe, Präsident Liu Xiaobo wird mehr Verständnis für diese Demarche zeigen. Wer zweifelt noch daran, dass er eines Tages Präsident wird?
In eigener Sache: Die nächsten zwei Wochen keine Glossen. Bin schon wieder in Ihrem Dienst auf Reise. Werde dann wie immer von der Innen- und Außenwelt bunt berichten.
Ich habe Cousin Michael (Notabene: Englisch auszusprechen, also „Maikell“) seit 30 Jahren nicht mehr gesehen. Nun erfahre ich, dass vor einem Monat seine Memoiren erschienen sind: eine sehr persönliche Geschichte über seine Selbstverwirklichung.
Er war viele Jahre in Indien auf der Suche nach sich selbst und hat sich offenbar gefunden. Als Stellvertreter seines geistigen Lehrers (Gurus) verwaltet er nun mehr dessen amerikanische Niederlassungen. Das habe ich aus zweiter Hand erfahren. Sein Buch habe ich selbst noch nicht gelesen.
Vor kurzem hat er meine Mutter besucht. Sie hat Michael das letzte Mal vor 25 Jahren gesehen. Vorab hatte er ihr sein Buch geschickt. Auch sie werde im Buch erwähnt, ließ sie mich wissen . Inzwischen hat sie das Buch zu Zweidrittel gelesen. Ein Wunder, weil sie sonst nur kitschige Romane liest. „Manchmal schreibt er sehr witzig“, berichtete sie mir am Telefon. „aber er erzählt viel zu viel über seinen Guru. Ich verstehe das alles nicht.“ Das Wort „Guru“ spricht sie „GuRU“ aus. Sowohl dieser Begriff wie auch „Selbstverwirklichung“ sind für sie Fremdwörter.
Cousin Michael hat sie letzte Woche besucht. „Er ist wirklich sehr charmant und sieht immer noch so jung aus. Ein sehr netter junger Mann. Wir haben uns drei Stunden lang unterhalten. Hauptsächlich hat er mich über seine Mutter ausgefragt.“
Seine Mutter, meine Tante Clare, ist vor etwa 40 Jahren gestorben. Damals war Cousin Michael erst 16. Meine Mutter ist der allerletzte Mensch, der Cousin Michael über seine Mutter fundiert informieren kann. Immerhin hat sie Tante Clare gekannt, als diese noch ein Kind war. Lebte meine Tante noch, wäre sie beinahe 100 Jahre alt. Meine Mutter ist 93.
„Cousin Michael hatte Glück“, sagte ich meiner Frau. „Meine Mutter ist die letzte Person, die ihn über seine Mutter informieren kann.“
„Wieso die letzte?“ fragte sie. „Warum kann sie ihm über seine Mutter nichts erzählen?“
Sind Sie noch da, liebe Leser? Oder kommt Ihnen obigen kurzen Dialog plötzlich sehr chinesisch vor? Nebenbei: Wir haben unser Gespräch auf Englisch geführt. Ich sagte: „She’s the last person able to inform him about his mother.“
„Wie bitte? Habe ich nicht eben gesagt, dass sie die letzte ist, die ihn informieren kann?“
„Genau das hast du gesagt. Aber das bedeutet, dass sie ihn nicht informieren kann.“
„Nein, ich habe nicht gemeint, sie sei die LETZTE, sondern die letzte.“
Mit Sicherheit haben Sie die Schwierigkeit schon erraten. „Letzte“ in diesem Zusammenhang hat zwei Bedeutungen – so wohl auf Deutsch wie auch auf Englisch. Ich meinte, meine Mutter sei der einzige noch lebende Mensch, der Michael über seine Mutter Bescheid sagen kann. Meine Frau hat „letzte“ als „ungeeignetste“ verstanden.
„Aber du redest manchmal so gerne ironisch.“
Später habe ich über dieses Missverständnis nachgedacht und mich gefragt, wie man während des Sprechens diese zwei „letzte“ unterscheidet. Der Unterschied fiel mir sofort ein: Wenn man „letzte“ im Sinne von „ungeeignetste“ sagt, wird das Wort anders betont, als wenn man „letzte“ im Sinne von „einzige“ ausspricht. Genauer gesagt: Beim ersteren steigt die Tonhöhe.
Ähnliches stellt man fest, wenn man „das rote Kreuz“ sagt und damit ein Kreuz, das rot ist, meint und nicht den Namen einer Hilfsorganisation. Erstes „rote“ erfordert eine leichte Erhebung der Tonhöhe (oder das zweite eine leichte Vertiefung?).
Zum ersten Mal habe ich verstanden, wie Chinesisch, eine Tonsprache, funktioniert und wie selbstverständlich diese Sprache für Chinesen sein muss. Im Chinesischen kann fast jedes Wort unterschiedlich betont werden, was auch erhebliche Bedeutungsunterschiede signalisiert. Das chinesische Ohr achtet automatisch auf diese Unterschiede.
Was passiert aber, wenn ein Chinese die falsche Tonlage heraushört – wie, z.B., beim Gespräch zwischen meiner Frau und mir? Das könnte theoretisch zu erheblichen Missverständnissen führen. Oder? Ich bin sicher, dass dies bereits abertausend Mal in China der Fall war. Wer weiß, wie oft die Geschichte der Welt dadurch verändert wurde?
Wer kann das Gastarbeiterdeutsch noch?
Ich! Ich! liebe Deutschmuttersprachler. Mich hat man häufig in diesem Idiom angesprochen. „Nein, nein. Du nix hier unterschreiben. Du dort unterschreiben. Verstehen?“
Jo, mei. Dös waren ja Zeiten. Ausländer waren noch Ausländer und Daitsche Daitsche.
In meinem Ausländerkreis – wir waren hauptsächlich Engländer, Amerikaner und Schotten – haben wir gerne über diese Sprache gescherzt. Hat uns jemand auf Gastarbeiterdeutsch angesprochen, so antworteten wir: „Entschuldigung, können Sie kein Deutsch? Brauchen Sie Hilfe oder vielleicht ein Wörterbuch ?“
Ja, auch wir waren lustige Kerle.
Das Gastarbeiterdeutsch ist heute so gut wie tot. So tot wie das Lateinische und das Kornische. Junge Leute machen keine Erfahrungen mehr mit der Sprache, und die Alten möchten sie am liebsten vergessen. So sehr ist sie aus der Mode gekommen.
Dabei war sie auf dem besten Weg, einmal eine richtige Sprache zu werden. Ich denke, zum Beispiel an den Titel des Fassbinderfilms „Angst essen Seelen auf.“ Ich nix verstehen damals, , dass dieser Titel falsches Deutsch war. Ich habe den Satz gedankenlos hingenommen, als hätte ich gelesen „Angst isst Seelen auf“ oder „Ängste essen Seelen auf“. Wenn das nicht Sprache ist…
Ich schreibe diese Erinnerungen aber nicht aus Gründen der Sentimentalität nieder. Nein, so weich ist meine Birne noch nicht. Ich schreibe über das Thema, weil es höchste Zeit ist, dass sich jemand endlich mit ihm befasst.
In der Sprachwissenschaft bezeichnet man das Gastarbeiterdeutsch als ein „Pidgin“. Pidginsprachen wurden früher von Kolonialisten gebraucht, um sich mit Eingeborenen zu verständigen. Ein Pidgin ist eine Vereinfachung der eigenen Sprache – und das war das Gastarbeiterdeutsch auch.
Pidginsprachen sind nützlich, wenn man sich mit Untertanen oder Sklaven unterhält. Zu bemerken: Sprache ist ein Machtinstrument. Solange ein Sklave die Hochsprache nicht beherrscht, kann er sich nicht einbilden, dass er kein Sklave ist. Eine Pidginsprache ist also, genau genommen, eine textilfreie Gefängnisuniform. Man wird deutlich gekennzeichnet.
Manchmal passiert es aber, dass eine Pidginsprache an die eigenen Kinder weitergegeben wird. Im Nu verwandelt sie sich in eine richtige Muttersprache. Dieses Phänomen nennen die Sprachwissenschaftler Kreolisierung. Eine Pidginsprache wird also zu einer Kreolsprache.
Das passierte, zum Beispiel, in Haiti. Das verballhornte Französisch der Sklavenhalter wurde peu à peu zu einer reichhaltigen Muttersprache namens „Kreyòl ayisyen“. Vordergründig scheint sie eine Vereinfachung des Französischen zu sein, tatsächlich ist sie aber ein vollblutiges Vehikel, um auch die ausgefeiltesten Ideen und Seelenregungen auszudrücken.
Die „Gettosprache“ der Afroamerikaner in den USA ist gleichfalls eine Kreolsprache mit eigener Grammatik. Wer die Sprache nicht perfekt beherrscht, wird von den native speakers leicht als Ausländer geoutet. („ahm hipp“, d.h. „ich verstehen“).
Stellen Sie sich vor: Das Gastarbeiterdeutsch hätte auch zu einer Kreolsprache werden können. Das ist aber nicht passiert, weil es in Deutschland Schulpflicht gibt und weil „Gastarbeiter“ keine Sklaven waren. Außerdem: Die Deutschen stellten fest, dass sie gerne Döner, Thai-Takeout, Hamburger und Indisch essen. Erster Schritt der Integration. Heute spricht keiner mehr Gastarbeiterdeutsch. Außerdem gibt es keine „Gastarbeiter“ mehr. Dieses Wort ist restlos veraltet. Auch die „Ausländer“ verschwinden allmählich. Wir sind alle Migrationshintergründler geworden.
Ich habe mich ohnehin nie als „Gastarbeiter“ verstanden. War auch keiner. Fragte mich einer, was ich in Deutschland mache, so antwortete ich mit Vorliebe: „Ich bin da, um einem Deutschen den Arbeitsplatz wegzunehmen.“ Jo mei, ein lustiger Kerl war ich mal.
Schon sind zwei Wochen vergangen, seit der neue Bundespräsident seine mit Spannung erwartete Rede zum 3. Oktober gehalten hat und längst kann sich fast niemand mehr an einen einzigen Satz erinnern – mit Ausnahme von einem: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“
Fast jeder kennt diesen Satz, weil kaum ein Tag vergeht, ohne dass er in den Medien zitiert wird.
Wer hätte gedacht, dass sich dieser Satz zum Brennpunkt einer großen Kontroverse mausern würde? Die einen halten ihn für richtig, die anderen für völlig inakzeptabel.
Ich vertrete weder die eine noch die andere Meinung. Ich halte den Satz für eine Fehlgeburt.
Falls Sie meinen, ich beabsichtigte nun, dem Bundespräsidenten (oder seinen Redenschreibern) brutal auf den Schlips zu treten, irren Sie sich. Schließlich hat ein Sprachbloggeur die Pflicht, sich Gedanken über Sprache zu machen, auch wenn der eigene Sprachgebrauch weit von perfekt ist. Perfekt ist nur die Natur. Dahlien, Pfingstrosen und Mangos, zum Beispiel, sind perfekt. (Auch das meint nicht jeder. Das ist aber ein anderes Thema).
Doch zur Sache. Der Satz, „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, ist aus folgendem Grund eine Fehlgeburt: Er propagiert genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich will. Genauer gesagt: Er untergräbt das Konzept der Leitkultur.
Ja, ja, ich weiß. Da Stoiba, da Schlawina, hod amol große Radau mit dem Wort gemacht. Und jetzt provozieren Seehofer und die Bundeskanzlerin die Gemüter mit dem gleichen politisch unkorrekten Konzept. (Dass machen sie natürlich aus politischem Kalkül, denn der Union laufen die Wähler davon). Aber egal. Fakt ist: Es gibt in Deutschland tatsächlich eine Leitkultur. Das sollte nicht überraschen. Es gibt auch in England, in Frankreich, in Italien, in Marokko, in der Türkei und in Gaza eine. Auch in den USA.
In seiner Rede wollte der neue Bundespräsident mit dem Begriff der „judäo-christlichen Kultur“ auf diese Leitkultur hindeuten. Auch hier wurde er unabsichtlich unpräzise. Schade. Nie haben die Juden an der Leitkultur dieses Landes teilgenommen. Im Gegenteil. Ihnen wurde vielmehr die Rolle der Leidkultur zugewiesen, was nicht bedeutet, dass sie über die Jahrhunderte übermäßig gejammert hätten. Sie haben gelitten und trotzdem ihren Platz zu finden versucht.
Diese Lage trifft nicht nur auf die Juden zu. Jeder Zuzügler macht irgendwie eine Leidenszeit durch. Das liegt in der Natur der Dinge. Die der Juden war freilich etwas extrem. Muslime sind hierzulande nicht die „neuen Juden“. Dafür sind sie viel zahlreicher als es die Juden jemals waren. Trotzdem kommen auch manche von ihnen mit ihrer vorübergehenden Rolle als Angehörige der Leidkultur nicht zurecht. Das Jammern wäre aber die falsche Strategie. Man sucht lieber fleißig nach dem eigenen hart errungenen Platz.
Aber zurück zur Rede des Bundespräsidenten. Besagter Satz, „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ ist aus einem einfachen Grund eine Fehlgeburt: Herr Wulff wollte in Wirklichleit mit seiner Aussage etwas ganz anders ausdrücken. Er meinte eigentlich: „Aber Muslime gehören inzwischen auch zu Deutschland.“ Nota bene: „Muslime“ ist nicht identisch mit „der Islam“. Gleiches hätte er über Juden (im Unterschied zum jüdischen Glauben), Italiener, Jugoslawen, Amerikaner und alle, die sich hier heimatlich gemacht haben, sagen können. Alle gehören zu Deutschland, wenn sie sich hier niederlassen.
Die Leitkultur in Deutschland bleibt so wie sie immer war: christlich mit römischen, keltischen und germanischen Wurzeln. Das ist nicht schlimm. Wer zu Deutschland gehört – auch wenn er kein Christ ist oder sein Stammbaum nicht nach Rom oder zu den Westgoten führt – , darf Ramadan feiern, Koscher essen und alle sonstigen Gepflogenheiten seines ursprünglichen Kulturkreises pflegen, solange sie nicht in Konflikt mit dem Grundgesetz kommen. Und er darf an der Leitkultur teilnehmen. Diese pauschal abzulehnen, ist immer ein Fehler.
Wenn Herr Wulf bereit ist, anständig zu zahlen, schreibe ich ihm gerne seine nächste Rede zur Nation.
Hilfe! Ich bin in einer Wolke gefangen!
Augenblicklich könnte dieser Text verschwinden, wenn er nicht schon jetzt verschwunden ist. Paff! Und dennoch: Für den Fall, dass diese Worte doch noch sichtbar sind, hier meine dringliche Warnung vor der Wolke:
Ja, die Wolke. „Clouding“ heißt das bei den Techies: das Speichern von Daten auf großen Servers. Haben Sie gemerkt, wie die Wolke eine immer größere Rolle als Speichermedium einnimmt? Festplatte, USB-Sticks ade, wird es bald heißen. Alles Wissen wird in der Wolke schweben. Nur: Was passiert, wenn einer den (oder die) Stecker zieht? Oder wenn ein Trojaner alles vernichtet oder die Neutronbombe einschlägt?
(Hmmm. Sind diese Worte überhaupt sichtbar? Oder schreibe ich schon jetzt für den Katz? Miaaauu?)
Ich stelle diese Fragen aus persönlichen Gründen. Fakt ist: Die Existenz dieser Webseite hängt im Augenblick an einem dünnen Stromkabel. Vielleicht ist Ihnen das Problem bereits aufgefallen: Seit beinahe zwei Wochen stimmt beim Sprachbloggeur etwas mit der Technik nicht. Ein Knacks rumort durch den Server, und ich kann ihn nicht einmal annäherend sachlich erläutern.
Einzig weiß ich: Die Programmuhr meiner Seite ist außer Betrieb, ist folglich irgendwo in der Vergangenheit stehen geblieben. Das Resultat: Wenn ich einen Beitrag hochzulade, erscheint er gar nicht auf dem Bildschirm. Für den Server werde die Gegenwart als Zukunft gedeutet, wurde mir erklärt. Meine Beiträge existieren für den Server also nur in der Zukunft, seien de fakto nicht aufrufbar. Alles klar? Mir nicht. Nur durch ein Kunststück ist es jedes Mal möglich, einen neuen Beitrag hochzuladen. So war es schon letzte Woche. Und weil ich dieses Kunststück selbst nicht beherrsche, muss ich warten, bis einer vom Server mich durch diese Zeitlupe führt.
Der verkorkste Server verhindert nicht nur die Veröffentlichung meiner Beiträge. Auch Ihre Kommentare kommen nicht zum Vorschein. Mittlerweile erhalte ich böse Post sogar von meinen Spammern. Sie beschweren sich, weil sie erhebliche Schwierigkeiten haben, ihre Werbung für Potenzmittel, Kasinos, polnische Ferienwohnungen usw. mir aufzuzwingen. Die Situation ist also sehr ernst.
Immerhin ist die Lage nicht ganz hoffnungslos. Mein Provider hat mir versichert, dass er dabei ist, etwas, wovon ich keine Ahnung habe, zu richten. Hoffen wir das Beste.
Und was, wenn der Sprachbloggeur digital erstirbt? Wissen Sie, dass es fast nirgends (so weit ich weiß) papierne Ausdrücke der vielen Sprachbloggeur-Beiträge gibt? Das heißt: Sollte der Server tatsächlich hopps machen, wird diese Seite nur noch in der Erinnerung seiner Leser existieren.
In der Wolke lauert große Gefahr.
Und es kann noch schlimmer werden. Nun will Facebook Ihr ganzes Leben (Bilder, Tagebucheinträge, Erinnerungen usw.) in der Wolke speichern, damit Sie jederzeit im Jahr 2072 die Dummheiten von 2011 aufrufen können (gähn). Amazon bietet seinen Kindle-Kunden die Wolke als private Bibliothek für gekaufte E-Bücher an.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Technikfeind. Im Gegenteil. Ich habe selbst mal erwägt, ein E-Buchlesergerät oder ein Tablett zu erwerben. Nur: Was passiert, wenn einer den – bzw. die – Stecker wirklich zieht? Und was geschieht, wenn der raffinierte Trojaner eines Geltungsgetriebenen alle Daten aller Menschen mit einem Mal doch vernichtet?
Als Kind hat mir der Film „The Incredible Shrinking Man“ („der unglaubliche schrumpfende Mann“), deutsche Titel „Die unglaubliche Geschichte von Mister C.“, Angst gemacht. Er erzählte von einem Mann, Mister C., der sich an einem sonnigen Sommertag auf dem Bug eines Motorbootes aalte. Plötzlich verschwand das Boot – nur kurz – in einer tiefhängenden Wolke. Mister C. dachte sich nichts dabei – bis er feststellte, dass er zu schrumpfen begann. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Seine Hose schienen ihm zu lang geworden zu sein. Doch bald musste er auf Stühle klettern. Dann war er so groß wie sein Hund. Er wurde immer kleiner – bis er winziger als eine Stubenfliege wurde. Am Schluss konnte er durch ein Nadelöhr schlüpfen. Ein erschreckender Film für ein Kind, das sich freut, mal größer zu werden. Lange hatte ich wegen dieses Films Angst vor Wolken. Und nun verspüre ich die alte Angst schon wieder.
Haben Sie gewusst, dass wir heute besser informiert sind über das tägliche Leben der Babylonier als über das der uns zeitlich näher liegenden Römer? Warum? Weil die Babylonier ihre Briefe, Schulbücher, Verträge, Gerichtsurteile, Literatur usw. auf Tontafeln schrieben. Diese Tafeln sind beinahe unverwüstlich. Die Römer hingegen speicherten ihre Archiven auf Papyrus oder Pergament. Diese Unterlagen halten zwar einige Jahrhunderte lang, nicht aber Jahrtausende. Wenn sie nicht kopiert werden, sind sie weg.Was können wir uns von den Digitalspeichern erhoffen?
Noch immer weiß ich nicht, wer diese Warnung zu Augen bekommt. Vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht habe ich schon jetzt nur für die Katz geschrieben. Miaaauu.
Es ist mir peinlich, folgende Begebenheit zu schildern, aber jeder liest gerne Peinlichkeiten. Oder?
Eine Zufallsbegegnung mit Frau F. am Samstag vor dem Haus. Sie ist ein liebenswürdiger Mensch und eine gute Nachbarin. Es war gegen halb eins. Die Sonne schenkte letzte Herbstwärme. Man freut sich über das schöne Wetter, und man redet gerne mit den Nachbarn übers Wetter. Was auch nicht schlimm ist. Im Gegenteil. Über das Wetter zu reden ist Metasprache und bedeutet: „Sie sind in Ordnung, es herrscht Friede zwischen uns.“ Man darf nicht alles wörtlich nehmen.
Aber nun fragte mich Frau F., ob ich heute zur Großdemo ginge. Gemeint war die Demonstration in München gegen die Verlängerung des Atomkraftwerkevertrags. Man wollte an diesem Tag eine Menschenkette durch ganz München formieren.
„Nein, habe ich nicht vor“, antwortete ich. „Wozu auch? Die paar Jahre Atommüll werden eh nicht viel an der Sache ändern. Es besteht ohnehin Konsens, dass es mit der Atomenergie nicht so weiter gehen kann. Mittlerweile ist jedem klar, dass die Atomenergie eine vorübergehende Lösung ist.“ (Achtung: Das Wort „Lösung“ ist hier zu beachten).
„Ja, sicher“, antwortete Frau F. „Die Endlagerung des Atommülls bleibt nach wie vor ein unlösbares Problem.“ (Achtung: Das Wort „Endlagerung“ ist hier zu beachten).
„Genau“, erwiderte ich, „bis man auf eine Endlösung der Atommüllagerung kommt…“
Upps. Haben Sie es gemerkt? Es rutschte aus mir einfach so heraus. Ich wollte nur „bis man auf eine Lösung der Endlagerung“ sagen. Daraus wurde eine „Endlösung der Atommülllagerung“.
Mir war sofort klar, wie sehr ich gegen die Gepflogenheiten der deutschen Sprache gesündigt hatte. Schade. „Endlösung“ wäre wirklich das passende Wort dafür gewesen. Nur: Diese Vokabel ist nicht weniger vergiftet als die Stadt Tschernobyl oder das von roten Erdmassen überschwemmten Koluntar und Umgebung in Ungarn.
Ich bin wahrlich nicht zimperlich, was Sprache betrifft. Einmal habe ich über „Jedem das Seine“ geschrieben und für dessen Freilassung aus dem Sprachgefängnis plädiert. „Jedem das Seine“ habe, so meinte ich, lange genug gesessen, sei ohnehin in anderen Sprachen gebräuchlich („chacqu’un son goût“, „to each his own“) usw.
„Endlösung“ ist aber anders. Erheblich anders. Eine Erfindung des Obernazis Reinhard Heydrich, glaube ich. Dieses Wort kann und will man nicht aus dem Sprachgefängnis entlassen. Es nimmt seine Mahlzeiten mit anderen hartgesottenen Knastis wie „Arbeit macht frei“ und „unwertes Leben“ ein. Allen wurde die Sicherungsverwahrung aus guten Gründen auferlegt.
Dennoch gibt der große Duden (Jahrgang 1976) „Endlösung“ als „normale“ Vokabel im Sinne von „endgültige Lösung“ an, allerdings mit dem Hinweis „selten“. Sonst heißt es nach Duden „Plan zur Ausrottung der europäischen Juden“.
Ich weiß nicht, wie viele Wörter und Begriffe heute im Sprachgefängnis noch sitzen. Ich glaube nicht, dass es viele sind. Es muss eine gemütliche Großanlage sein. Wie einst Spandau. Lebenslänglich haben ohnehin nur die wenigsten Wörter bekommen. Vielleicht sitzen auch dort die einen oder anderen politisch unkorrekten Sprüche mit. Die meisten von ihnen dürfen aber am Wochenende nach Hause gehen.
Nicht die „Endlösung“. Armes Wörtchen. Eigentlich selbst das Opfer. Es waren Menschenzungen und kranke Hirne, die es zum Delinquenten machten. Aber was heißt „lebenslang?“ Wenn ich noch hundert oder noch besser zweihundert Jahre lebe, kann ich diese Frage genauer beantworten. Vielleicht werden eines Tages auch Tschernobyl und Koluntar wieder bewohnbar sein. Alles ist möglich.
Die gute Nachricht: Meine kleine Indiskretion ist Frau F. wohl nicht aufgefallen. Wenn ja, hat sie nichts verlautbaren lassen. So ist es bei guten Nachbarn. Man überhört ganz unauffällig vieles.
„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.
„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“
„Trotzdem.“
Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.
Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.
Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.
Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.
„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“
„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.
„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“
Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“
Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“
An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“
„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“
„Die drei Fs?“
„Ficken, Fressen und Freizeit.“
Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?
Nächste Woche etwas weniger Pathos.
„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.
„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“
„Trotzdem.“
Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.
Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.
Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.
Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.
„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“
„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.
„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“
Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“
Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“
An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“
„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“
„Die drei Fs?“
„Ficken, Fressen und Freizeit.“
Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?
Nächste Woche etwas weniger Pathos.
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