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Warum ich meinen Namen trage – oder nice guys finish last*

Wissen Sie, wie man Liebkind spielt?

Ich schon. Ich habe Jahre lang Liebkind gespielt. Ja, es ist ein Spiel, wie Schach oder Mühle. Und ich, wenn ich’s so sagen darf, habe ein besonderes Talent dafür gehabt.

Liebkind spielen ist eine Uberlebensstrategie, eine von vielen. Das Konzept ist einfach zu vermitteln: Wenn ich lieb und nett bin, dann werden die anderen lieb und nett zu mir sein.

Das klingt ein bisschen wie die Nächstenliebe. Ist es aber nicht. Liebkinder – nicht mit „Liebeskinder“ zu verwechseln – spielen gerne den Harmlosen. Das macht sie entweder langweilig oder zur idealen Besetzung für den heimtückischen Mörder in einem Horrorfilm.

Wie gesagt: Liebkind spielen ist nur eine Strategie, eine von vielen. Man kann auch Bengel, Bock, Schlingel – auch Psychopathen – spielen und bestens zurecht kommen.

Gaddafi, zum Beispiel. Er spielt Psychopathen. Absolut genial. Auch wenn er geschasst wird (das wird sicherlich auch passieren), wird er noch lange weiter toben dürfen. Es lohnt sich Psychopathen zu spielen. Aber nur, wenn es ein Spiel ist.

Westerwelle reihe ich unter die Böcke ein. Seine Bockigkeit hat ihm lange Jahre gut gedient. Und er hat sich ihrer nie geschämt. In Amerika sagt man: When things get tough, the tough get going. Etwa: Die Zähen kommen erst richtig in Gang, wenn das Gehen zähflüssig wird. Bald geht er kaum fünfzigjährig mit beneidenswerter Rente in den einstweiligen Ruhestand. Hat Zeit für Reisen, Business und sogar um ein durch die Blume erzählendes Buch zu schreiben. Darf außerdem jederzeit für Aufregung sorgen. Es lohnt sich durchaus bockig zu sein.

Oder Schlingel: Freund S., ein Schotte, war in der Sprachschule mein Kollege. Das ist viele Jahre her. Einmal kam er verkatert zum Unterricht – kommt vor, wenn man Schotte ist und die ganze Nacht gezecht hat – und ließ auf seine Klasse (die meisten mittelständische bayerische Hausfrauen) eine Schimpftirade los: „Ihr seid alle Gnomen, ihr Bayer mit eurem lächerlichen Gamsbarthütchen und dergleichen.“ Sagte er allerdings alles auf Englisch.

Wie hat man auf diese Schimpfkanone reagiert? Manche Schülerinnen kamen nach der Klasse zu mir, also zum Liebkind, um ihrem Entsetzen Ausdruck zu geben. „Das ist ja allerhand. Er hat uns alle als Gnomen beschimpft!“

„Was? Gnomen? Warum?“ antwortete ich äußerst liebenswürdig.

Entsetzen? Ha, sie liebten ihn – ab dann sogar abgöttisch. Ich glaube er hat mit der Hälfte der Frauen geschlafen.

Kein Wunder, dass Liebkinder die Schlingel, die Psychopathen und die Böcke bewundern. Liebkinder sind ja eigentlich nur möchtegernschlingel, -psychopathen und -böcke. Sie trauen sich bloß nicht.

Sie haben Angst, man werde das Liebkind nicht mehr lieben.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich diesen spannenden Diskurs über die Menschentypologie über Sie ergieße. Erbauliches habe ich wirklich nicht im Sinne. Nein, ich habe mich an ein Ereignis erinnert, und plötzlich plätscherte diese Meditation heraus. Es geschah vor vielen Jahren auf einem Fest. Ich stand da mit zwei Kollegen, und wir unterhielten uns. Alle waren lieb und nett zu mir. „Sag mal, PJ, wie kommt es, dass du PJ heißt? Das sagten sie so lieb, so interessiert, dass ich folgende Geschichte erzählte:

„Ich war zwölf Jahre alt und wusste schon damals, dass ich Schriftsteller werden wollte. Damals hatte ich viele Kurzgeschichten eines englischen Schriftstellers namens Saki gelesen. „Saki“ war sein nom de plume. Ich meinte: Auch ich brauche einen Schriftstellernamen und kam auf die Idee mich „Pujab“ (sprich „pu-dschab“) zu nennen. Doch damals gab es einen Comic in der Sonntagsbeilage der Zeitung. Er hieß „Little Orphan Annie“…

Zack! Meine Zuhörer wechselten das Thema. Ich war noch mitten im Satz. Keine Ahnung, worüber sie dann redeten. Sie waren jedenfalls nicht mehr interessiert, den Rest meiner schönen Anekdote zu erfahren. Dabei hätte ich noch so viel zu erzählen gehabt.

Zwei Lehren habe ich aus diesem Abend gezogen: 1.) Liebkind? Nein Danke. Lieber höflich und frech (was nicht mit psychopathisch, bockig usw. zu verwechseln ist – ganz andere Kategorie also) 2.) Ein Schriftsteller muss lernen, sich zu mäßigen. Weniger ist immer mehr. Wer interessiert sich wirklich, warum ich PJ heiße? Das Geheimnis um meinen Namen ist allemal spannender als der Name selbst.

 

*Liebkinder stehen unter Ferner liefen

Variationen auf dem Buchstaben „n“ und andere Bedrohungen

„Jetzt sind wir schon wieder mittemang im Herbst, bis ich es schaffe, Dir zu antworten.“

Das hat mir E. schon im vorigen Oktober geschrieben. Erst gestern habe ich endlich an sie zurrückgeschrieben. Immerhin sind wir noch nicht ganz mittemang im Frühling.

Hand aufs Herz: Ist Ihnen das Wort „mittemang“ geläufig? Mir war es völlig unbekannt. Ich witterte zunächst einen Tippfehler, genauer gesagt, eine Fingerverschiebung auf der Tastatur, wie wenn man „dp eor ford“ für „so wie dies“ schreibt. (Gilt nur für diejenigen die, wie ich, blind tippen).

Prompt langte ich nach dem vierten Band meines Großen Duden („Kam bis N“) und suchte gespannt nach „mittemang“. Ergebnislos, was mich irritierte. Also googelte ich nach dem Wort. Wieder ohne Erfolg. Eine Webseite gab folgende Botschaft: „Übersetzung für mittemang nicht gefunden. Neue Übersetzung für mittemang vorschlagen.“ Nun war ich noch irritierter.

Doch dann wurde ich auf der Webseite „Lexikon der bedrohten Wörter“ fündig. Dort verfolgte ich eine lebhafte Diskussion über die gesuchte Vokabel. Achtung: Der Begriff „bedroht“, wenn es um Wörter geht, führt schnell zu unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten. So bin ich, zum Beispiel, im „Lexikon“ auf eine Diskussion über „gelackmeiert“ gestoßen, das dort als ein dem Grabe nahes Wort aufgeführt wird. Auch „Philister“ und „Ober“ (wie in „Herr Ober!“) werden auf dieser Webseite aus dem aktiven Wortschatz verabschiedet.

Doch jetzt der Clou: „Mittemang“ wird, so erfuhr ich in der lebhaften dafür aber nichtsagenden Diskussion über diese Vokabel, meistens in der Form „mittenmang“ wiedergeben. In E.s Version fehlte also das „n“.

Nun googelte ich die „n“-Form, und welch Wunder. Vonwegen bedroht: „Mittenmänge“ so weit das Auge sehen konnte. Auch im Duden war „mittenmang“, also das „n“-Wort, kein Unbekannter, wenn auch hauptsächlich im Norden beheimatet. Bedroht. Ha. Dieses Wort besstimmt nicht. Vielleicht die Schreibvariante E.s ist bedroht. Wer hier allgemein von einer Bedrohung spricht, ist letztlich der Gelackmeierte.

E. ist offensichtlich mit einer Variante groß geworden, die – zumindest in der Schriftsprache – von der Form mit dem „n“ abgelöst wurde – was ihr „mittemang“ partout nicht fehlerhaft macht.

Heute, liebe Leser, keine hochgestochenen Gedanken über die Weltpolitik. Der Schuster (ich) kehrt zu seinem Leisten (dem Wort) zurück. Dennoch möchte ich an dieser Stelle konstatieren, wie sehr ein einziger fehlender – bzw. fehlplatzierter – Buchstabe zu den größten Missverständnissen führen kann.

Ich saß einmal mit B., einem alten Freund aus New York, in einem Restaurant in Paris . Der Ober stand neben uns und wartete ungeduldig auf unsere Entscheidung. Ich bestellte zuerst, dann nach langem Zögern B.  Er sagte: „Je veux lapine“. Der Ober wäre fast zu Boden gefallen. Er kugelte sich vor Lachen, konnte sich kaum noch einkriegen.  B. schaute mich verdutzt an: „Wenn man Englisch redet, sind sie gleich sauer, diese Franzosen. Wenn man versucht Französisch zu reden, lachen sie nur.“

Was B. nicht wusste: Er wollte „Kanninchen“, also „Lapin“, bestellen. Stattdessen hatte er nach einem Penis, „la pine“, verlangt .

Mir ist mal Ähnliches passiert. Es war 1972 auf der Isla Mujeres, einer Insel nahe der Yukatan-Küste; ich stand damals etwas wacklig auf den Beinen, weil ich mir einen „fiebre tifoidea“, geholt hatte. Das hat mir jedenfalls der Arzt eingebläut. Zu Deutsch: Paratyphus. Meine Freunde schliefen in Hängematten. Ich durfte, krankheitsbedingt, die Nacht auf einer Matratze verbringen. Ich lernte damals ein französisches Ehepaar kennen und wollte mit meinen Französischkenntnisse ein bisschen brillieren. „Je dort sur un matelot“ sagte ich. Das sollte bedeuten, dass ich auf einer Matratze schlafe. Doch Matratze heißt auf Französisch „matelas“ (sprich „ma-te-la“). Matelot (sprich „ma-te-lo“) ist der „Matrose“.

Ja die Kleinigkeiten, die den großen Unterschied ausmachen. Hat nicht die Alice Schwarzer mal ein Buch irgendwie so betitelt? Habe ich vielleicht schon wieder in knappen Worten die Geschichte der Welt erzählt? Bitte halten Sie mich nicht für einen Philister.

„Liveticker“ und „Deadticker“ – zum Beispiel: Knut und die Hamas

Tickticktickticktick. Knut ist tot. Leblos wie ne Reichswasserleiche trieb er in seinem Becken im Berliner Zoo. „Liebster Knut, warum musstest du sterben?“ Diese rührende Botschaft hat ein Fan bei Facebook hinterlassen. Hab alles in „Spiegel-Online“ gelesen – aber nur flüchtig. Ich kann also nicht bestätigen, dass für Knut eine eigene Kondolenzseite eingerichtet wurde.

Tickticktickticktick. Nun scheint Reaktor drei (Daisan) in Fukushima wieder am Rande des GAUs zu stehen. Daiichi, Daini usw. seien wieder ans Stromnetz angeschlossen. Alles aber weiterhin ungewiss. Notabene: „ichi“, „ni“, „san“ – Japanisch für „eins“, „zwei“, „drei“. „Dai“ bedeutet wohl „Reaktormeiler“.

Tickticktickticktick. Die Reaktorfirma übernimmt die Verantwortung für die verschlampte Wartung der Reaktoren in Fukushima. Habe vergessen, ob sich dies auf „ichi“, „ni“ oder „san“ bezieht.

Tickticktickticktick. „Amerikanischer Kampfjet abgestürzt“ (Spiegel-Online), Gaddafi-Treue werden zu „menschlichen Schutzschilden“ (ein sehr hässlicher Begriff) umfunktioniert.

Etc.

Habe ich schon wieder etwas verschlafen, oder hat es  die deutsche Vokabel „Liveticker“ bis vor kurzem nicht gegeben?

Mein „Duden“ (2006) kennt „Ticker“: „vollauatomatischer Fernschreiber zum Empfang von [Börsen]nachrichten.“ Aber „Liveticker“?

Ich gebe zu: Ich habe die Nachrichtenquellen der deutschen Medien nicht systematisch abgesucht. Erst neulich fiel mir der „Liveticker“ bei „Spiegel-Online“ auf. In ZDF- und ARD-Nachrichtensendungen wird stets auf den „Liveticker“ hingewiesen.

In der englischen und amerikanischen Umgangssprache bedeutet „Ticker“ auch „Herz“. Seit wann ist der „Liveticker“ zum Herzen der Unmittelbarkeit geworden? Ich muss hier passen. Ich kenne die Antwort nicht. Eines Tages war der „Liveticker“ da. Puff! Das erinnert an die „breaking news“. Die waren, glaube ich, eine Erfindung von CNN. Auch „Liveticker“? Keine Ahnung. Mir kommt CNN momentan zu wenig innovativ vor, um etwas zu erfinden.

Egal. Wir werden den „Liveticker“ ganz sicher nicht mehr los. Da die Nachrichten ohnehin zunehmend zum Unterhaltungs- und Propagandamittel mutieren, ist der „Liveticker“ ein nutzliches Werkzeug, um Spannung und um Nervenkitzel zu erzeugen.

Doch jetzt zum „Deadticker“. Nein, über den werden Sie (außer bei mir) nirgends etwas erfahren. Wo es einen „Liveticker“ gibt, kann der „Deadticker“ nicht fern sein, meine ich. Hier ein Beispiel eines „Deadticker“-Berichts: Am 19. März wurden in Gaza City Reporter der Associated Press, Reuters und anderer Nachrichtenagenturen misshandelt, manchen wurden die Kameras zerstört. Der Grund: Sie filmten eine Demonstation, die eine Versöhnung zwischen der Fatah und der Hamas forderte. Am gleichen Tag demolierten bewaffnete Banden die Büroräume von Reuters in Gaza City. (Hinterher hat sich ein Hamasnik entschuldigt). Das wissen Sie wahrscheinlich nicht, weil am Wochenende in den deutschen Medien darüber nicht berichtet wurde – zumindest nicht auf den Netzseiten die ich untersucht habe: „Spiegel-Online“, „Zeit“, „Welt“, „FAZ“. Auf englischen, amerikanischen, kanadischen und auch auf französischen Seiten wurde ich schnell fündig.

Warum landete diese Story in dem „Deadticker“? Keine Ahnung. Vielleicht war sie nicht unterhaltsam genug.

Schade, dass es den lieben Knuti nicht mehr gibt. Stimmt nicht. Bald werden wir erfahren, woran er verendet ist. Ich freue mich auf die schöne Ablenkung.

Gaddafis Bäumlinge – und die meinen

Kleine Probleme helfen sehr, die großen zu vergessen.

In diesem Fall geht es um den „Bäumling“.

Beinahe schäme ich mich, über meinen „Bäumling“ zu berichten. Die Katastrophen, die unsere schöne Welt in jüngster Zeit heimsuchen, bedrücken mich so sehr, dass mir Worte für anderes zusehends fehlen. In Japan wüten momentan drei apokalyptische Reiter. Sie heißen Erdbeben, Tsunami und Atom-GAU. In Libyen wütet der vierte: Er heißt Muammar Gaddafi. Der vierte Reiter ist freilich keine Naturgewalt, sondern ein gewissensloser Gangster, der die mediale Aufmerksamkeit, die zunehmend auf die anderen Reiter gerichtet ist, geschickt ausnutzt, um die eigenen Pfründen durch Mord aufrecht zu erhalten.

Ich werde trotzdem die Sache mit dem „Bäumling „ erörtern. Das kleine Problem soll zu einer kurzen Erholung von den großen werden.

Gestern kam Karl zu Besuch. Er hatte vor kurzem und mit großem Vergnügen mein noch nicht veröffentlichtes „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“ gelesen. (Den „Prolog auf dem Olymp“ werden Sie auf dieser Seite unter der Rubrik „Wer bin ich“ finden).

Das Buch spielt in der griechischen Antike. Erzähler Diagoras, ein Gedächtniskünstler, sitzt im Jahr 432 v.Chr. in Olympia auf einer steinernen Bank und sinniert über die Vergangenheit – genauer gesagt: über einige ihm wichtige Ereignisse aus den Jahren 452 v.Chr. und 472 v.Chr., die eines Tages weltbewegende Einflüße auf die Menschheitsgeschichte haben sollten.

Diagoras zeigt im Jahr 432 v.Chr. auf die stattlichen Bäume, die in Olympia nahe dem Spielgelände wachsen, und er erinnert sich, wie sie im Jahr 452 v.Chr. noch „Bäumlinge“ waren. Das heißt natürlich, dass ich als Autor diese Jungbäume als „Bäumlinge“ bezeichnet habe.

Warum „Bäumlinge“? Weil ich das Wort mochte. Ich fand es schöner als „Bäumchen“ oder „Bäumlein“, Vokabel, deren Niedlichkeit mir an dieser Stelle nicht passte.

„Im Deutschen gibt es keinen ‚Bäumling’“, sagte mir Karl.

„Womöglich habe ich an ‚Sprössling’ gedacht“, antwortete ich. „‚Bäumchen’ + ‚Sprößling’ = ‚Bäumling’. Schön, nicht wahr?

„Die Rechnung gehe aber nicht auf, weil es keine 'Bäumlinge' gibt.“

„Darf ich der deutschen Sprache kein neues Wort schenken?“ fragte ich.

„Naja“, sagte er etwas zögerlich. „Dann kann der Leser eventuell denken, du benutzt das Wort nur, weil deine Deutschkenntnisse imperfekt sind oder der Lektor faul war.“

„Wenn ich Deutscher wäre, dann würden die Leser vielleicht meinen: ‚Mei, ist das ein schöner Neologismus.’ Diesen Doppelstandard finde ich schlichtweg ungerecht.“

„Tja“, sagte Karl.

Nun frage ich mich, ob ich meine „Bäumlinge“ trotzdem stehen lasse, auf die Gefahr hin, dass manche Leser meine Deutschkenntnisse in Zweifel ziehen werden, oder ob ich die „Bäumlinge“ lieber in „junge Bäume“ verwandele. Schließlich ist es mein Ziel, meine Sprache – dem Inhalt zuliebe – so unsichtbar wie möglich zu machen.

(Nebenbei gesagt: Würde ich den Spieß umdrehen, das heißt: Würde ich den englischen Text eines Nichtmuttersprachlers lesen und auf eine Ungereimtheit stoßen, wäre es denkbar, dass ich genauso reagieren würde wie Karl. Allerdings ist außer Karl noch niemandem aufgefallen, dass meine „Bäumlinge“ keine gültige Aufenthaltsgenehmigung haben!).

Das Leben ist halt ungerecht.

Aber jetzt habe ich Sie lange genug von den großen Problemen abgelenkt. Mit Japan kann man nur mitfühlen und mithoffen. Übrigens: Momentan ist mein Nachbar dort, ich weiß aber nicht genau, wo. Und stellen Sie sich vor: Ich gieße während seiner Abwesenheit seinen Bäumling und hoffe inständig, dass bald alle Bäumlinge in Japan wieder in den Himmel wachsen. Gaddafi besitzt, wie jeder weiß, keine Bäumlinge, sondern lediglich Erdöl. Nur deshalb darf er und seine Söhne – das weiß auch jeder – so lange wüten. Doch irgendwann wird auch das Kuschen der Ölhungrigen peinlich werden. Hoffentlich aber bald.

Auf Erden ist nichts für die Ewigkeit usw.

250 Bücher. Alte Weggefährten. Manche haben mich über vierzig Jahre durch das Leben begleitet. Am Wochenende habe ich sie in drei Kartons gepackt und zack! Deckel zu. Nein, nicht ganz. Mein Sohn hat schnell wieder aufgemacht und drei Bücher herausgefischt, die er haben wollte. Meinetwegen.

„Ausmisten“, sagt man. Bücher als Mist.

Ade „The Medicis“! Ade „Chang und Eng“! Ade „Meine Autobiographie“ von Leon Trotzki! Ade…Komisch. Mir fallen nach so vielen intimen Jahren nur noch zehn oder fünfzehn Titel ein.

Ich habe sie gestern auf eine Sackkarre gehievt, mit Gummibändern gefestigt, und durch die Straßen Schwabings zum nächsten Antiquariat geschoben. War sehr anstrengend.

Ich war aber überzeugt, dass der Ladenbesitzer mit meiner Auswahl höchstzufrieden sein würde. Meine Bücher passten gut in sein Sortiment.

Ich kam mir allerdings vor wie der Biobauer, der seine liebgewonnenen Schweinderl zum Markt karrt. Jedes Tier hat seinen Namen: „Grunzi“, „Heloise“, „Knickschwanzerl“, „Flappsi“ usw. In wenigen Stunden würde jemand den Weggefährten die Kehle durchschneiden.

Sie meinen vielleicht, Bücher seien keine Schweine und hätten erst recht keine Kehle. Haben Sie eine Ahnung.

Ein nüchterner Typ, der Ladenbesitzer. Noch nie habe ich ihn lächeln gesehen. Lieblos wühlte er durch die Kartons und legte diverse Bücher auf einen oder den anderen Stapel. Was haben diese Stapel zu bedeuten? sinnierte ich. Eine Selektion? Nein, ich habe nicht an Auschwitz gedacht. Im Gegenteil. Ich meinte, er ordne alles nach Sachgebieten oder nach Wert ein: die Fünf-Euro-Bücher, die für zehn Euro, die Luxusware für zwanzig Euro. Auf einem Stapel landete mein Fraktur-Spinoza, auf einem anderen mein englischer Marcus Aurelius, auf einem dritten die Karl Steinbuch-Bücher.

Beim zweiten Karton machte er noch schneller. Er mag doch alles! Das habe ich gedacht. Erst beim dritten begann ich allmählich zu zweifeln. Einen Henri Pirenne „Economic and Social History of Medieval Europe“ hat er einfach plumpsen lassen. Das Cover bekam sofort einen Knick. Ruppiger Kerl. Liebt er seine Bücher nicht? Vielleicht doch ein Bücherauschwitz.

„Das meiste kann ich gar nicht gebrauchen“, nuschelte er schließlich.

„Aber genau solche Bücher sehe ich immer wieder in Ihrem Laden.“

„Die bringen bloß zwei Euro, wenn es gut geht. Fast alles wertlos, Ihre Bücher. Schrott.“

„Du liebe Scheiße. Ich kann das alles aber nicht wieder nach Hause karren. Ich will es alles nicht mehr sehen.“ „‚Flappsi’, ‚Knickschwanzerl’, ‚Heloise’, Ihr bleibt bei dem netten Mann, der euch bald die Kehle aufschlitzen wird.“

Er zuckte aber gleichgültig mit den Achseln. „Das meiste schmeiße ich ohnehin weg. Keine Sau interessiert sich doch heute für Karl Steinbuch und seine dröge Informatik aus den 60er Jahren. Alles nur Ladenhüter. Müll.“

„Und Trotzkis Autobiographie? Herder? Spinoza?“

Er schaute mich nur finster an. „Nehmen Sie sich ein Buch im Wert von 20 Euro. Dann sind wir quitt.“

Ich gebe zu. Ich habe schon die ganze Zeit nicht viel erwartet, hatte allerdings gehofft, dass ich wenigstens vier Bücher im Kaufwert von etwa hundert Euro im Tausch bekäme.

Stracks ergriff ich „Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla“. Noch nie davon gehört? Isidor von Sevilla lebte im 6. und 7. Jahrhunderten und gilt als letzter Autor der Antike, von dem man behaupten kann, seine Muttersprache sei Lateinisch gewesen. Seine Enzyklopädie entstand in einer Zeit des Zusammenbruchs. Sie war im Grunde die Quintessenz von Tausenden von verschollenen Büchern der Antike – so wie mein Exemplar seines Werkes zum Ersatz für meine 250 Bücher werden sollte.

„Flappsi“, „Knickschwanzerl“, „Heloise“ und Co., meinetwegen sollt ihr verrecken. Ich überlasse euch eurem Schicksal. Sentimentalität ade.

Schließlich ist auf Erden nichts für die Ewigkeit.

PS: Im letzten Augenblick habe ich eine Schubert-Biographie aus einem Karton gerettet. So ist es halt mit dem Schicksal der Dinge.

Der Sprachbloggeur und Robert diskutieren über die Wahrheit

Sprachbloggeur: Entschuldigung.

Robert (nicht sein richtiger Name): Du hast nichts Falsches getan. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.

Sprachbloggeur: So habe ich es auch nicht gemeint. Eine Entschuldigung wird oft als Höflichkeitsfloskel gebraucht. Ich wollte etwas ganz anders sagen.

Robert: Und du meinst, dass auch zu Guttenberg bloß eine Höflichkeitsfloskel ausgesprochen hat, als er sich entschuldigte?

Sprachbloggeur: Nein, das habe ich nicht behauptet. Zu Guttenberg ist ohnehin nicht mein Thema. Er ist Politiker, und der ist eh schon zurückgetreten. Ich mache mir nur ein paar Gedanken übers Lügen.

Robert: Also doch zu Guttenberg. Alle (mit Ausnahme von 87% der „Bild“-Leser und mehreren CSU-Wählern – aber auch die schwinden dahin) meinen, er habe gelogen.

Sprachbloggeur: Dein zu Guttenberg kann mir gestohlen bleiben. Ich denke an etwas ganz anderes: etwas, das ich in der „Weltwoche“ über den Film, „The King’s Speech“, gelesen habe. Notabene: Ich schreibe hier kein Plagiat, ich zitiere hier aus der „Weltwoche“. Soll ich dir den Autor des Artikels verraten? Er heißt Hanspeter Born.

Robert: Ich bin nicht dein Doktorvater, aber bitte. Ich käme sowieso nicht darauf, wenn du ein Zitat aus der „Weltwoche“ als eigenes Wissen verkauft hättest.

Sprachbloggeur: Ich verkaufe nichts. Ich teile lediglich mit.

Robert: Dann teile mit.

Sprachbloggeur: Born schreibt, dass „The King’s Speech“ ein hervorragender Film sei, aber unter einem kleinen Schönheitsfehler leide .

Robert: Und der ist?

Sprachbloggeur: dass die Geschichte reine Fantasie ist. Mit einer Ausnahme.

Robert: Und die wäre?

Sprachbloggeur: „Bertie“, also Albert, der dann König George VI. wurde, war tatsächlich ein Stotterer.

Robert: Keine Kleinigkeit, wenn die Geschichte ums Stottern geht.

Sprachbloggeur: Nur, sein Sprechhindernis wurde schon in den 1920er Jahren behoben. Ja, und es stimmt, dass sein Lehrer ein unkonventioneller Australier war. Der Film spielt hingegen in den dramatischen Vorkriegsjahren 1936 bis 1939. Mit anderen Worten: Das Ganze ist eine aufgebauschte Geschichtsklitterung. Ich mag das Wort „Geschichtsklitterung“. Wenn ich es benutze, denkt jeder, dass ich Deutsch akzentfrei spreche.

Robert: Bitte nicht kokettieren. So stark ist dein Akzent auch wiederum nicht. Und jetzt gehst du den Film nicht sehen, weil der König im falschen Jahrzehnt gestottert hat.

Sprachbloggeur: Das habe ich nicht behauptet. Ich meine nur: Die meisten Menschen gehen in den Film und sind überzeugt, sie bekommen Geschichtsunterricht. Außerdem, sagt Born, sei es nicht Winston Churchill gewesen, der „Bertie“ (klang zu Deutsch) dazu riet, sich „George“ zu nennen. „Bertie“ und Winston wurden erst während des Krieges Freunde. Wo kommen wir hin, wenn alle alles behaupten dürfen, nur um sich besser zu verkaufen?

Robert: Du meinst wirklich, dass zu Guttenberg nicht dein Thema ist.

Sprachbloggeur: Hältst du mich für einen Lügner? Immerhin bin ich Amerikaner. Wir lernen als Kinder (zumindest zu meiner Zeit), dass George Washington den Kirschbaum seines Vaters gefällt und dies, als sein Vater fragte, wer es getan habe, unverzüglich zugegeben hat. Zitat: „Father, I cannot tell a lie. It was I who cut down your cherry tree.” Dieser George war für uns ein großes Vorbild – auch wenn ich später erfuhr, dass die Geschichte nur eine Legende war.

Robert: Im „Spiegel-Online“ habe ich gelesen, dass Adlige öfters schummeln. Siehst du: Auch ich zitiere meine Quellen.

Sprachbloggeur: In Amerika gibt es keinen Adelstitel.

Robert: Man schummelt trotzdem. Hat nicht Clinton gesagt, „Ich habe mit der Frau nicht geschlafen.“

Sprachbloggeur: Das war keine Lüge. Amerikaner unterscheiden sehr streng zwischen Kopulation und Fellatio.

Robert: Jetzt spricht der Latinist.

Sprachbloggeur: Entschuldigung. Ich wollte nicht angeben. Ich suche lediglich nach der Wahrheit und finde sie nicht.

Robert: Schon wieder entschuldigst du dich. Ich möchte allmählich behaupten, dass zu Guttenberg doch dein Thema ist.

Sprachbloggeur: Hältst du mich für einen Lügner? Mich beschäftigt nur die Geschichtsklitterung und die habe ich schon ausreichend erörtert.

Der nächste Gottschalk? Ich! Ich! Ich!

Schade, dass Thomas Gottschalk geht. Ich verstehe seine Beweggründe aber gut. Es spricht für ihn, dass er sich jetzt so entschieden hat.

Nach dem schrecklichen Schicksalschlag des Samuel Koch (ihm wünsche ich eine vollständige Genesung) kann es für Gottschalk ab jetzt nur noch ein Vorher und ein Nachher geben.

Das Vorher mutet wie ein goldenes Zeitalter an. Man denkt mit Nostalgie daran. Dieses Erinnern schmerzt aber sehr. Denn man lebt im Nachher, dem Nachher eines Ereignisses, das sich vor dem geistigen Auge in Zeitlupe immer wieder abspielt. Man will den Film stoppen, die Bilder ungeschehen machen. Geht aber nicht.

Ich verstehe Gottschalk, weil ich am letzten Samstagabend um ein Haar das Gleiche erlebt hätte. Zum Glück geht meine Geschichte glimpflich aus. Der achtjährige Sohn eines Freundes spielte am Treppengeländer. Ich stand auf der Treppe eine Ebene tiefer. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht, rutschte vom Geländer ab, flog an mir vorbei und prallte gegen mich oder das Geländer  oder beides. Hektisch versuchte ich ihn aufzufangen. Alles ging natürlich sehr schnell vor sich - dennoch wie in Zeitlupe. Ich griff fiebrig nach ihm, umklammerte seine Haare . Alles vergebens. Er schlug eine Treppe weiter unten auf, blieb auf dem Rücken liegen.

Ich verstehe deshalb sehr genau, was Vorher und Nachher bedeutet. In diesem Fall hatte der Junge Glück. Er konnte gleich reden und weinen, war in der Lage, Zehen und Hände zu bewegen. Er kam zur Beobachtung gleich ins Krankenhaus. Es geht ihm, Gott sei dank, gut.

Wenn ich Thomas Gottschalk wäre, würde ich auch eine Pause einlegen, mir alle Optionen offen halten. Zum Glück ist er aufs Geld nicht angewiesen.

Heute habe ich mir eine neue Hose gekauft. Sie hat 69 Euro gekostet. Für Thommy ein kleines Taschengeld. Für mich eine leichte Prasserei. Eine schöne, wollene Hose, die ich tragen will, wenn ich mich formell anziehen muss – was ohnehin nur selten vorkommt.

Nachdem ich die Hose bezahlt hatte, kam mir folgender Gedanke: Eigentlich könnte ich mich als Gottschalk-Nachfolger für „Wetten dass…“ bewerben. Ich wäre der ideale Moderator: unbekannt, manchmal witzig – außerdem habe auch ich Locken – die sind allerdings nicht blond, sondern silbern, was mich aber interessant und welterfahren erscheinen lässt. Der triftigste Grund mich als Moderator zu verpflichten, wäre jedoch ein anderer: Ich habe einen Migrationshintergrund. So was ist momentan sehr „in“.

Und noch ein Vorteil: Ich habe in meinem Leben noch nie „Wetten, dass…“ geglotzt, weil ich nur selten fernsehe. Ich habe also keine Ahnung, was sich da alles abspielt. Insofern könnte ich die Show völlig neu und unvoreingenommen gestalten.

Eins verspreche ich schon jetzt: Ich werde den Zuschauerquoten nicht hinterherlaufen. Das mache ich auch als Sprachbloggeur nicht. Schnell wird man gefällig und ängstlich. Der kreative Spaß hört bald auf.

Durch meinen Einfluss würde die Show eine ganz neue Qualität erhalten. Ich könnte, zum Beispiel, eine Wette mit dem Publikum schließen, dass ich im Lauf von, sagen wir, einer halben Stunde fehlerfreies Deutsch zu reden versuchen würde. Glauben Sie mir. Ich würde mich wirklich anstrengen. Kein Mogeln. Ich bemühe mich ohnehin stets, fehlerfrei zu reden. Nur es gelingt mir nicht. Das Live-Publikum würde als Jury genau hinhören. Wer einen Fehler entdeckte, dürfte auf die Bühne kommen und über sich erzählen oder, wenn das ihm (oder ihr) zu peinlich wäre, ein Gedicht vortragen.

Klingt das nicht lustig?

Oder man könnte drei Studiogäste ganz beliebig auswählen, um an einem Wettbewerb teilzunehmen: wer den Atem am längsten anhalten kann. Der Sieger dürfte dann ein Lied vorsingen, wenn er (oder sie) wollte.

Sie sehen. Ich habe viele klasse Ideen. Und und die habe ich gerade erst aus der Luft gegriffen.

Vielleicht stößt ZDF doch zufällig auf mich. Kann man nie ganz ausschließen.  Wie man weiß, geschehen zuweilen Zeichen und Wunder.

Übrigens: Ich koste nicht so viel wie Gottschalk. Trotzdem bin ich nicht ganz billig. Sonst wird man nicht ernst genommen.

Falls das mit „Wetten, dass…“ nicht klappt, biete ich mich ebenfalls als Chef der Europäischen Zentralbank an. Ich bin nämlich unschlagbar mit dem Taschenrechner und außerdem nicht verschwenderisch. Zinsen erhöhen und senken kann jeder. Was macht der Oberbanker sonst? Man muss nur zu seinen Entscheidungen stehen.

In eigener Sache: Nächste Woche keine Glosse. Bin auf Geheimmission. In zwei Wochen wieder Neues.

Notizen zum „Wir-Gefühl“ im Deutschen

Am vorigen Samstagabend mit Freunden und Bekannten zusammen. Aus heiterem Himmel wird die deutsche Sprache zum Thema.

„Wolffsohn hat Westerwelle kritisiert, weil Westerwelle in einer Rede wir Deutsche’ anstatt ‚wir Deutschen’  gesagt hat.“

Das berichtet ein alter Freund – nennen wir ihn „Viktor“.

Gemeint waren Bundeswehrprofessor Michael Wolffsohn und Außenminister Guido Westerwelle.

„Ich würde spontan auf ‚wir Deutsche’ tippen“, sage ich. „Mein Ohr ist fremd, aber ich bilde mir ein, dass ich kaum ‚wir Deutschen’ höre.“

„Mein fremdes Ohr schließt sich dir an“, sagt – nennen wir ihn „Robert“, der als Kind nur Polnisch sprach.

„Vielleicht wird ‚deutsch’ hier als Adjektiv gebraucht“, fügt E. hinzu, er ist Amerikaner wie ich, „Man versteht dann implizit 'deutsche Menschen’ .“

„N-e-e-i-i-n“, sagen alle unisono.

„Was meinst du`“ frage ich G. „Du bist einer der wenigen Muttersprachler in der Runde.

„Ich bin Österreicher. Wir sagen: ‚Wir Österreicher’. Ich habe noch nie in meinem Leben nach ‚wir’ das Wort ‚deutsch’ über die Lippen gebracht.“

„Ich sehe das Problem folgendermaßen“, sagt der Sprachbloggeur, „Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen dem bestimmten Artikel, also ‚der’, ‚die’, ‚das’ und dem unbestimmten, also ‚ein’ ‚eine. ein’. Man sagt ‚der Deutsche’ und ‚die Deutschen’, aber ‚ein Deutscher’ und ‚einige Deutsche’. Die Frage muss lauten: Wird ‚wir’ als bestimmt oder unbestimmt erachtet?

„Sehr richtig, Herr Sprachbloggeur“, sagt „Robert“. „Denkst du an ein bestimmtes Wir oder ein unbestimmtes?“

„‚Wir Deutsche’, ‚wir Deutschen’. Sagt man beides oft genug, findet man bald keinen Unterschied mehr“, sage ich. „Ich werde im Internet nachschauen.“

„Das hättest du seit Tagen tun können. Es ist das große Thema in der Blogosphäre“, sagt „Viktor“.

„Ich hab’s. Ein ‚Wir-Gefühl’ kann beides sein, ‚bestimmt’ und ‚unbestimmt’“, sagt „Robert“.„Vielleicht ist das das Problem.“

„Oder Wolffsohn hat sich geirrt“, sagt der Sprachbloggeur.

„Wolffsohn hat immer recht“, pariert „Viktor“.

Ich bin trotzdem der Sache auf den Grund gegangen und wurde im Internet ohne große Mühe fündig. Die Antwort habe ich bei Kollegen Bastian Sick gefunden. „Zwiebelfisch“ hat das Thema schon 2005 aufgegriffen – also lange vor dem Wolffsohn-Westerwelle-Streit. Auch er sieht das Phänomen der „bestimmten“ und „unbestimmten“ Wörter als Basis für seine Überlegungen. Er hat die Sache wie immer sehr lustig erzählt. Ich werde aber seine Witze hier nicht zum Volksgut machen.

Meine Schlussfolgerung habe ich „Viktor“ als Mail geschickt: Ich zitiere:

Lieber „Viktor“,

et Homerus nudit. Das heißt nicht, dass Homer sich auszieht, sondern dass auch er nickt – sprich nicht unfehlbar ist.

Auch Wolfssohn ist nicht unfehlbar.

Hier ein Link zu „Zwiebelfisch“ (2005) über "Wir Deutsche – wir Deutschen".

Kurz gefasst: Beide Formen sind möglich. Der Duden ist allerdings der Meinung, dass "Deutschen" auf dem Vormarsch und „Deutsche“ im Rückzug begriffen ist. Das war jedenfalls der Stand der Dinge 2005. Ich halte das Urteil des Dudens für verfrüht.

Grüße

PJ

Notabene, liebe Leser. Den Link zu „Zwiebelfisch“ gebe ich hier nicht an. Das Fieseln mit „Hypertext“ ist mir noch immer zu mühsam. Googeln Sie ihn selbst unter Stichwörter „Wir Deutsche – wir Deutschen“ und „Zwiebelfisch“. Sie kommen gleich ans Ziel.

Schau mir in die verpixelten Augen, Kleines (Geht das überhaupt?)

Ach, die guten alten Zeiten. Es war vielleicht vor dreißig Jahren, kann aber auch schon länger her sein:

Mich fixierte eines Tages ein Bild in der damaligen Münchener Abendzeitung. Es zeigte einen frisch verhafteten Mann, der in der grünen Minna kauerte, das verschämte Gesicht in den Händen fest eingehüllt. Um ihm herum standen die Schaulustigen; sie glotzten hämisch in den Streifenwagen und hegten sicherlich „Geschieht-ihm-recht“-Gedanken.

Ich studierte das Bild mit Entsetzen. Wie kann die Zeitung dieses gemeine Foto veröffentlichen? Das habe ich mich gefragt – billigster Ausdruck des „Volkszornes“, dachte ich. Ja, Dorothy – wie man in Amerika damals sagte – , du bist nicht mehr in Kansas, du bist in Oz. Noch präziser: Ich war endlich mit Leib und Seele in Deutschland gelandet. Ist das die sogenannte „deutsche Mentalität“? sann ich.

Ich war immerhin Frischling auf deutschem Boden. Die Fragen waren berechtigt.

Wären meine Deutschkenntnisse damals brauchbar gewesen, hätte ich wahrscheinlich einen Leserbrief geschrieben. Ich schreibe gerne Leserbriefe. Ich war aber noch stumm wie ein Säugling. Nichts ging.

Das Foto habe ich neulich ausgegraben. Offenbar hat es mich damals sehr beeindrückt, sonst hätte ich es nicht behalten. Keine Ahnung, was der gute Mann verbrochen hatte. Diebstahl, nehme ich an.

Egal. Ich denke an dieses Bild, weil ich mich jüngst mit einer älteren Dame (damit meine ich, älter als ich) über die Verpixelung von Gesichtern in der Zeitung unterhalten habe. „Verbrecher muss man sehen können, nicht schonen“, sagte sie.

Ich hörte aus dem Ton die Erziehung einer lang vergangenen Zeit heraus und fragte mich deshalb, ob man Nazi sein muss, um die Verpixelung von Gesichtern für eine Unsitte zu halten. Denn letztendlich denke ich nicht anders als die alte Dame: Auch ich rege mich auf, wenn ich mir Fotos ohne Informationsgehalt anschaue.

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie viele fotografische Darstellungen  menschlicher Gesichter in den Medien verpixelt werden? Eine unaufhaltbare Entwicklung, wie es scheint. Aber warum?

Besser gefragt: Warum überhaupt ein Bild, wenn es nur verunstaltet? Ich gebe zu: Der Mensch in der grünen Minna aus der alten Zeitung hat selbst das Gesicht – so könnte man argumentieren – „verpixelt“. Nein, nicht verpixelt, unsichtbar gemacht, weil er sich schämte, Gegenstand des Hohns geworden zu sein. Aber gerade diese sichtbare Unsichtbarkeit macht das Bild so tatkräftig.

Schläger, Vergewaltiger, Mörder usw. erlebt man in den Medien schon lange nur noch als kubistische Verschleierungen. Sie stellen das Gegenteil von einem Bild dar. Es sind Antibilder geworden.

Ein Bild will informieren. Antibilder können nur deformieren.

Es handelt sich um eine relativ neue Unsitte. Ich glaube, man hat noch vor wenigen Jahren die Augen von Deliquenten mit schwarzen Balken unkenntlich gemacht. Vielleicht steckt etwas Juristisches dahinter – Schutz der Privatsphäre oder so? Auch Kinderaugen wurden eine Zeitlang mit schwarzem Balken versehen. Heute wird das ganze Kindergesicht verpixelt. Das soll vor Sittenstrolchen, Ent- und Verführern schützen, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber dann lieber keine Bilder.

Bin ich auf etwas gestoßen, dass lange die Informationsgesellschaft prägen wird? Ich meine: Wird das Bild immer mehr zum Schleier werden? Warum denn Bilder, wenn sie den Zweck haben, Nichts-sagend zu sein?

Wird man bald ins Museum gehen müssen, um Abbildungen des Menschengesichts zu betrachten? Und jetzt eine letzte Frage, die viele Blattmacher in Angst und Bange versetzen wird: Wenn das Bild eines Menschen aufhört einen Sinn zu haben, heißt es, dass bald das Wort allein zum Informationsträger werden muss?

Twitterer aufpassen. Die Tage der kurzen Message sind womöglich gezählt.

Werden Sie Bürgerreporter! Kostet nichts!

Über die Wutbürger habe ich erst vor wenigen Wochen berichtet. Damals fiel mir auf, dass diese, nachdem die ungarische Regierung das neue, dreiste Medienzensurgesetz verabschiedet hatte, fast völlig verstummten.

Übrigens: Falls es sich noch ein paar Wutbürger finden lässt, und diese momentan nicht auf Sarrazinjagd sind oder für Gaza sammeln, gäbe es noch immer genügend Gründe, um über die Situation in Ungarn wütend zu werden. Gerade gestern erreichte mich eine Mail aus Budapest. Ich zitiere: „Es ist momentan ganz schlimm, was in Ungarn passiert. Nur die internationale Öffentlichkeit hilft. Ich hoffe, dass Orban gebremst wird, denn viele Freunde sind vollkommen verzweifelt, manche wollen gar nicht mehr weiterleben. Der Druck ist so massiv, dass ich es auch nachvollziehen kann. Ich glaube, so müssen sich Menschen in der Weimarer Republik gefühlt haben, die nicht völkisch dachten.“

Soviel zu den Wutbürgern, und jetzt zu den „Bürgerreportern“, die heute mein eigentliches Thema sind. (Wie ich schon mal gebeichtet habe: Für mein amerikanisches Ohr klingen die „Bürger“ noch immer wie ein beliebtes Fastfoodgericht. Aber das nur nebenbei).

Ja, der Bürgerreporter. Ich komme darauf, weil ich gestern folgende Überschrift auf der Webseite der Münchner Abendzeitung entdeckt habe: „Werden Sie ein myheimatler: Die Plattform für Bürgerreporter“.

Vielleicht kennen Sie die Begriffe „Bürgerreporter“ und „myheimat“ schon. Für mich waren es Neuheiten. Ich bin halt nicht immer so sehr auf dem Laufenden wie andere Menschen.

Ich habe jedenfalls spontan mit Hohn und Entrüstung reagiert. Nach dem Motto: Das ist ja der Gipfel! Nun will die Abendzeitung die allerletzten freien Mitarbeiter (und vielleicht auch ihre Angestellten, wenn es welche noch gibt) endgültig zum Stempeln schicken oder aus ihnen Hartzvierler machen und die Seiten künftig mit den Ergüssen von „Bürgerreportern“ füllen!

Der Gedanke ist freilich nicht ganz abwegig. Hier ein Zitat aus besagtem „Werden Sie ein myheimatler“-Text: „Hobby-Reporter können Nachrichten und Fotos aus München und den Stadtteilen einstellen.“ Und weiter heißt es: .“Die Teilnahme ist kostenlos“. Kostenlos! Stellen Sie sich vor, dass „Hobbyreporter“ auch zahlen müssten, um ihre Berichterstattungen in veröffentlichter Form zu bewundern. (Eigentlich kein so schlechtes Arbeitsmodel. Vielleicht kann ich es einem Verlag – gegen Beratergeld – unterbreiten).

Genug der bösen Fantasien. Als erfahrener Schriftsteller, Stubengelehrter und Journalist weiß ich, dass man die Pflicht hat, Quellen zu recherchieren und nicht nur Sprüche zu klopfen. Also habe ich selbst die „myheimat“-Webseite besucht, um die Sache auf den Grund zu gehen. Sie kennen sie vielleicht schon. Ich nicht.

Die ist jedenfalls bunt eingerichtet und voll mit Reportagen über regionale Ereignisse. Sie wissen schon: Katze im Baum, Wohnungsbrand, Hochzeiten, Verbrechenbekämpfung u.v.a.m. Mit anderen Worten: Alles, was man erfährt, wenn man die Nase in die Angelegenheiten anderer steckt und darüber berichten will. Journalismus halt.

Aber: Meine spontane Abneigung ist schnell einer Akzeptanz gewichen. Ich habe gedacht: Eigentlich keine schlechte Idee: eine Art aktuelles Berichtserstattungsforum, das unter Umständen schneller vor Ort berichtet als die Profis von CNN und Al-Dschasira. Das ist nicht nur als Witz gemeint. Erst gestern, so erfuhr ich, stammten die ersten Berichte über das Selbstmordattentat am Moskauer Flughafen von Bürgerreportern via YouTube und TwitVid. Gleiches passierte seinerzeit während der Demos, die der geschummelten Wahl im Iran folgten.

Und dann fiel mir obendrein ein, dass auch ich heute in dieser Glosse eine Art „Bürgerreporter“-Rolle gespielt habe. Immerhin habe ich Ihnen einleitend einen wichtigen Stimmungsbericht aus Ungarn übermittelt.

Hmmm.

Haben Sie die Botschaft verstanden, liebe Medienkonsumenten des 21. Jahrhunderts?

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