Kennen Sie den alten Witz?
Das Kind ist vier Jahre alt und spricht immer noch nicht. Die Eltern machen sich verständlicherweise große Sorgen. Hilfesuchend karren sie den Knaben vom Arzt zu Arzt herum. Vergeblich. Er spricht nicht. Kein Wort.
Eines Tages ist die Familie zu Tisch. Die übliche Stille. Auf einmal sagt das Kind: „Die Kartoffeln sind kalt.“
„Du sprichst! Du sprichst! Ein Wunder ist geschehen!“ jauchzen die Eltern.
„Aber natürlich spreche ich“, sagt das Kind.
„Aber warum hast du bisher immer geschwiegen?“
„Bisher“, antwortet das Kind, „war alles in Ordnung.“
Ja, liebe Leser, die Kartoffeln sind kalt. Und damit meine ich, dass diese Webseite seit einem Monat ihren Zweck als Informationsträger nicht richtig erfüllt. Kein Wunder, dass mir jedes Posting – zu Deutsch Beitrag – wie Flaschenpost vorkommt. Flaschenposting.
Wie jeder, der jemals einen Zettel bekritzelt hat, um ihn in eine Flasche zu stecken und ins wässrige Ungewisse zu schicken, werden wöchentlich auch meine Glossen auf gut Glück ins WehWehWeh gesendet.
Auch zu besten Zeiten ist das Hochladen eines Textes ins Netz ein Glücksspiel. Man freut sich, wenn jemand das Flaschenposting rezipiert. Wenn aber die Webseite (in diesem Fall meine E-Flasche) defekt ist, wird jegliche Kommunikation erschwert, wenn nicht ganz unmöglich gemacht.
Wir schreiben das Jahr 2011. Dennoch fühle ich mich oft wie ein Schriftsteller aus der Antike, dessen Werke den Launen der Überlieferung auf einem Informationsträger (in meinem Fall ein Server) ausgeliefert ist. Die Gedichte der antiken griechischen Lyrikerin Sappho wurden, sagt die Legende, in einem einzigen Manuskript bis ca. 1000 n.Chr. am Leben gehalten. Doch dann passierte es: Das Manuskript wurde von einem prüden Leser aufgespürt und als Schweinkram vernichtet. Ende der Überlieferungskette. Die Gedichte des römischen Dichters Catull galten lange hingegen als verschollen. Plötzlich entdeckte man im 13. Jt. das letzte erhaltene Manuskript – und zwar unter einem Weinfass irgendwo in Italien (Verona?). Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Handschrift mit Gedichten des längst verschollenen Griechen Bakchylides zufällig ausgegraben. Sie war zwar ziemlich durchlöchert und zerfetzt. Aber immerhin.
Ja, ein Glücksspiel. Auch große Auflagen schützen nicht vor dem Vergessen. Wer kennt noch heute die Dieter Bohlen-Autobiographie, die erst vor wenigen Jahren als Bestseller für regen Umsatz sorgte? Nicht einmal der Titel dieses Buches fällt mir heute ein. Altpapier geworden.
Sie sehen schon. Ich bin heute etwas gereizt. Ein Schriftsteller wird stets von der eigenen Fantasie und von der Freude – oder mal der Irritation – seiner Leser beflügelt. Wenn er – bzw. ich – das Gefühl hat (habe), dass seine (meine) Texte an einer Platform erscheinen, die allem Anschein nach von einer Neutronbombe verwüstet wurde, bleibt die Freude sehr in Grenzen.
Keine Ahnung, ob Ihnen diese(s) Flaschenpost(ing) erreichen wird. Wir hoffen jedenfalls auf bessere Zeiten. Zeiten, in denen die süße Illusion der Normalität wieder vorherrscht, damit diese Seite endlich ihre gewohnte Aufgabe erfüllen kann.
Falls Sie diese(s) Flaschenpost(ing) erhalten, ist die Botschaft sehr einfach: Die Kartoffeln sind kalt. Sehr kalt.
„Ich suche Eahna a Kisterl“, sagt Frau M.
Wir befinden uns im Paradies, heute schön herbstlich ausgestattet. (Nur Zufall, dass im Herbst auch das Obst und das Gemüse gelb und orange gefärbt sind?)
„Oder vielleicht ha’m Sie a Schachtel“, fragt die Kundin.
Kurz erstarre ich, was Frau M. auch registriert. Sie fragt sich: Was hat der Sprachbloggeur nunmal wieder?
Die Kundin bekommt einen Syroporbehälter und macht sich zufrieden auf den Weg. Derweil gebe ich einer anderen Kundin den Vortritt, damit sie ihr paar Bananen rasch bezahlen kann. Nun bin ich dran. Während Frau M. die Birnen und Mandarinen wiegt, frage ich: „Vielleicht können Sie mir den Unterschied zwischen einem Kisterl und einer Schachtel sagen.“
„Ach, deshalb der verstörte Gesichtsausdruck.“
„Sind beide Begriffe gleichbedeutend – zumindest auf Bairisch? Ich kann mich nicht erinnern, ob die Dame Bairisch gesprochen hat…“
„…Nein Hochdeutsch, sie ist Schwäbin. Den Unterschied kann ich Ihnen aber erklären. Ein Kisterl ist immer was Stabiles, meistens aus Holz. Zum Beispiel da.“ Sie zeigt auf eine Orangenkiste. „Das ist ein Kisterl. Schachteln sind ja, hmm, normalerweise aus Karton.“
„Dann würde ich dazu einfach Karton und nicht Schachtel sagen. Aber vielleicht sagen die Schwaben Schachtel für Karton?“
„Hmmm. Jaaaaa, vielleiiiicht, aber das muss nicht sein. Kartons sind meist aus Pappe. Karton ist nämlich fester als Pappe. Aber a oida Schachtel soll man nicht mit einem Karton verwechseln.“ Sie lacht.
„Auch an oida Kisterl nicht, oder?“ Ich lache.
„Das ist ja nicht von Pappe, Herr Sprachbloggeur!“
„Aber das, was Sie der Frau gegeben haben, war weder aus Holz noch aus Karton und noch weniger aus Pappe, sondern aus Styropor…“
„Dann war es eben ein Kunststoff Kisterl…oder eine Kunststoffschachtel.“
„Und was ist denn ein Kasten?“
„Das ist wiederum was ganz anders. Man hat Bierkasten oder Mineralwasserkasten…“
„Es gibt aber auch Weinkisten, oder?“
„Ja, das ist aber auch was anders. Möchten Sie mich mit Ihren Fragen wirr machen?“
„Kasten können aber auch aus Karton sein, nicht wahr? Sind sie in dem Fall Schachteln?“
„Ja vielleicht schon, aber nicht ganz.“
„Und dann habe ich mal gehört, dass Kasten verschließbar sind, Kisten aber nicht.“
„Nein, umgekehrt. Umzugskisten kann man schließen. Kasten sind offen, aber nicht immer.“
„Und Schachteln?“
„Sowohl wie auch. Aber Vorsicht! Im Bairischen ist a Kasterl auch ein Schrank – a Kleiderkasterl…“
Ich werde an dieser Stelle dieses für den Ausländer endlos verwirrendes Gespräch unterbrechen. Nur zwei Punkte möchte ich hier hinzufügen: 1.) Meine Frau ist mit den Erklärungen von Frau M. vollkommen einverstanden und 2.) Der Duden erklärt die Begriffe mit ähnlichen Worten – als hätte er von Frau M. glatt abgeschrieben.
Fazit: Irgendwann wird man in der Auseinandersetzung mit der Fremdsprache allein gelassen. Dann heißt es: Untergehen oder mitschwimmen lernen.Was ich über Kasten, Kisten, Schachteln usw. erzähle, gilt ebenso für Schnur, Strick, Seil und Co. Auch diese Begriffe eine reine Tortur, um Expertise zu prüfen.
P.S. Mein Serverjammer ist noch immer brandaktuell. Das lange Warten auf eine cyberspace (Er)lösung geht weiter. Allen Lesern meinen Dank für Ihre Geduld. Der Server soll mir für meine Geduld danken. Hoffentlich sind in den vergangenen Wochen keine Kommentare verloren gegangen. Diese Glossen sind inzwischen zu einer einseitigen Kommunikation geworden – fast wie ein Buch.
Ich kannte den Namen Ludwig Reiners nicht.
Anders meine Frau. Als ich mit einem Exemplar seiner „Stilkunst“ nach Hause kam, jauchzte sie: „Ach! Ludwig Reiners’ ‚Stilkunst’.“
„Kennst du den?“
„Natürlich. Kennt jeder.“
Ich habe mein Exemplar antiquarisch erstanden, es hat drei oder vier Euro gekostet: ein hübscher Einband aus dem Jahr 1961, beim Beck’schen Verlag erschienen. 2004 wurde das Buch zum (bisher) letzten Mal (so weit ich weiß) bei Beck neu verlegt. Reiners selbst (geb. 1896) hat den fortdauernden Erfolg seines Buches nicht mehr erlebt. Er starb 1957.
Es hat ihm jedenfalls nie an namhaften Bewunderern gefehlt – zum Beispiel dem Lyriker – Eugen Roth, der auch sein Freund war. Auch Wolf Schneider, heutige Stilpapst aller deutscher Muttersprachler, hat seine Begeisterung für den beliebtenVorgänger schriftlich kundgetan.
Die freundliche Aufnahme ist verständlich – auch wenn der Autor der „Stilkunst“ manchmal komische Dinge behauptet, zum Beispiel: „Den aufgelockerten Stil Heines schreibt heute jeder mittlere Journalist“. Dennoch mag man den skurrilen Charmebolzen. Das Buch strotzt vor erbaulichen (und lustigen) Beispielen und Zitaten, die den guten Stil untermauern. Ja, ich habe mich meines Zufallskaufs sehr gefreut und habe, neugierig wie ich bin, den Namen sofort gegoogelt, um mich über den Autor ein bisschen zu informieren. Schade.
Denn gleich erfuhr ich, dass Reiners einen ganz anderen Lebensweg beschritten hatte, als ich es mir erträumt habe. Ich habe ihn nämlich als humorvollen und gelehrten Literaturwissenschaftler vorgestellt. In Wirklichkeit war er Kaufmann (an der Börse, in der Schweinindustrie usw.). Doch warum auch nicht? Um eine Stilfibel zu verfassen, braucht man keinen akademischen Grad. Eine Liebe zu und Gefühl für Sprache und natürlich die Fähigkeit, diese Talente spannend zu vermitteln, reichen allemal. Der große amerikanische Lyriker Wallace Stevens war Jahrzehnte lang bei einer Versicherungsgesellschaft als Erbsenzähler tätig.
Zugegeben seine Mitgliedschaft bei der NSDAP (seit 1933) machte mich ein bisschen stützig. Aber auch das schien mir nicht weiter tragisch. Poet Günter Eich war ebenfalls Parteimitglied, und Günter Grass diente als Jüngling, wie jeder weiß, in der SS. Es war halt die Zeit…
Kurzer Themenwechsel. Die Chancen, dass Ihnen der Name Eduard Engel (geb. 1851) geläufig ist, sind äußerst gering. Ich kenne ihn, weil ich sein Buch, „Deutsche Stilkunst“ lange besitze. Dieses Werk erschien 1911 zum ersten Mal. Engel, ein beachtungswerter Sprach- und Literaturwissenschaftler, thronte einst als großer Kenner der deutschen Sprache und Kultur. Seine „Stilkunst“ erlebte bis 1931 31 Auflagen. (Mein in Fraktur gedrucktes Exemplar stammt aus der 17. Auflage). Zwanzig Jahre war der beredsame deutschnationale Engel der Stolz seines deutschen Vaterlands. Leider besaß er einen kleinen dafür aber verhängnisvollen Schönheitsfehler: Er war Jude – wenn auch kein praktizierender.
Für die Nazis dennoch ein Horror, einen jüdischen „Sprachpapst“ feiern zu lassen. Seine vielen Werke – darunter seine „Stilkunst“ – wurden alsbald verboten und eingestampft. Engel starb 1938 verarmt und von der jungen Generation schnell vergessen.
Nicht allerdings von seinem jungen Bewunderer Ludwig Reiners…und jetzt ahnen Sie schon, wohin die Reise führt. 2004 veröffentlichte der Schweizer Philologe Stefan Stirnemann in der Zeitschrift „Kritische Ausgabe“ einen Aufsatz mit dem Titel: „Ein Betrüger als Klassiker: Eduard Engels ‚Deutsche Stilkunst’ und Ludwig Reiners“. Stirnemann ist überzeugt, dass Reiners „Klassiker“ ein reines Plagiat ist. Zitat Stirnemann: Reiners „schrieb ab und um“. Mitunter kopierte er, manchmal mit Fehlern, den reichen Vorrat an Beispielen und Zitaten aus dem Engel-Buch. 1943 – in diesem Jahr erschien Reiners’ Klassiker – wäre diese Fleißarbeit ohne Weiteres möglich, zumal Engels Werk längst von der Bildfläche verschwunden war. Ich werde an dieser Stelle nicht von Stirnemann abschreiben. Wer sich für die Details interessiert, findet sie, zum Beispiel, bei Wikipedia unter Stichwort „Reiners“ bzw. „Engel“. Übrigens: Eugen Roth hat seinen Freund Reiners einmal richtigerweise als „Feierabend- und Sonntagsschreiber“ bezeichnet. Er meinte es allerdings als Kompliment.
Mich hat es allerdings gewundert, wie schnell Engel in Vergessenheit geraten war. So schnell vergeht der Ruhm. Vielleicht war die Ursache – neben dem Verbot der Nazis – die Tatsache, dass seine Bücher in Fraktur erschienen. Nach dem Krieg kannten nur noch Spezialisten den Namen Eduard Engel.
Ich weiß nicht, warum ich hier diese Geschichte erzähle. Irgendwie tun mir beide leid: der einer weil ihm seine literarische Stimme geklaut wurde, der andere, weil er an einer verhängnisvollen Charakterschwäche litt.
Urteilen Sie aber selbst. Lesen Sie den erwähnten Stirnemann-Aufsatz (einen zweiten Text, „Ich habe gemacht ein feines Geschäft“, wurde 2007 in der NZZ veröffentlicht). Im Internet findet man – fast – alles.
PS Mein Serverleiden ist noch nicht zu Ende. Nur Geduld, sage ich Ihnen. Nur Geduld, sage ich mir. Zuallerletzt stirbt die Hoffnung.
Hilfe! Ich bin in einer Wolke gefangen!
Augenblicklich könnte dieser Text verschwinden, wenn er nicht schon jetzt verschwunden ist. Paff! Und dennoch: Für den Fall, dass diese Worte doch noch sichtbar sind, hier meine dringliche Warnung vor der Wolke:
Ja, die Wolke. „Clouding“ heißt das bei den Techies: das Speichern von Daten auf großen Servers. Haben Sie gemerkt, wie die Wolke eine immer größere Rolle als Speichermedium einnimmt? Festplatte, USB-Sticks ade, wird es bald heißen. Alles Wissen wird in der Wolke schweben. Nur: Was passiert, wenn einer den (oder die) Stecker zieht? Oder wenn ein Trojaner alles vernichtet oder die Neutronbombe einschlägt?
(Hmmm. Sind diese Worte überhaupt sichtbar? Oder schreibe ich schon jetzt für den Katz? Miaaauu?)
Ich stelle diese Fragen aus persönlichen Gründen. Fakt ist: Die Existenz dieser Webseite hängt im Augenblick an einem dünnen Stromkabel. Vielleicht ist Ihnen das Problem bereits aufgefallen: Seit beinahe zwei Wochen stimmt beim Sprachbloggeur etwas mit der Technik nicht. Ein Knacks rumort durch den Server, und ich kann ihn nicht einmal annäherend sachlich erläutern.
Einzig weiß ich: Die Programmuhr meiner Seite ist außer Betrieb, ist folglich irgendwo in der Vergangenheit stehen geblieben. Das Resultat: Wenn ich einen Beitrag hochzulade, erscheint er gar nicht auf dem Bildschirm. Für den Server werde die Gegenwart als Zukunft gedeutet, wurde mir erklärt. Meine Beiträge existieren für den Server also nur in der Zukunft, seien de fakto nicht aufrufbar. Alles klar? Mir nicht. Nur durch ein Kunststück ist es jedes Mal möglich, einen neuen Beitrag hochzuladen. So war es schon letzte Woche. Und weil ich dieses Kunststück selbst nicht beherrsche, muss ich warten, bis einer vom Server mich durch diese Zeitlupe führt.
Der verkorkste Server verhindert nicht nur die Veröffentlichung meiner Beiträge. Auch Ihre Kommentare kommen nicht zum Vorschein. Mittlerweile erhalte ich böse Post sogar von meinen Spammern. Sie beschweren sich, weil sie erhebliche Schwierigkeiten haben, ihre Werbung für Potenzmittel, Kasinos, polnische Ferienwohnungen usw. mir aufzuzwingen. Die Situation ist also sehr ernst.
Immerhin ist die Lage nicht ganz hoffnungslos. Mein Provider hat mir versichert, dass er dabei ist, etwas, wovon ich keine Ahnung habe, zu richten. Hoffen wir das Beste.
Und was, wenn der Sprachbloggeur digital erstirbt? Wissen Sie, dass es fast nirgends (so weit ich weiß) papierne Ausdrücke der vielen Sprachbloggeur-Beiträge gibt? Das heißt: Sollte der Server tatsächlich hopps machen, wird diese Seite nur noch in der Erinnerung seiner Leser existieren.
In der Wolke lauert große Gefahr.
Und es kann noch schlimmer werden. Nun will Facebook Ihr ganzes Leben (Bilder, Tagebucheinträge, Erinnerungen usw.) in der Wolke speichern, damit Sie jederzeit im Jahr 2072 die Dummheiten von 2011 aufrufen können (gähn). Amazon bietet seinen Kindle-Kunden die Wolke als private Bibliothek für gekaufte E-Bücher an.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Technikfeind. Im Gegenteil. Ich habe selbst mal erwägt, ein E-Buchlesergerät oder ein Tablett zu erwerben. Nur: Was passiert, wenn einer den – bzw. die – Stecker wirklich zieht? Und was geschieht, wenn der raffinierte Trojaner eines Geltungsgetriebenen alle Daten aller Menschen mit einem Mal doch vernichtet?
Als Kind hat mir der Film „The Incredible Shrinking Man“ („der unglaubliche schrumpfende Mann“), deutsche Titel „Die unglaubliche Geschichte von Mister C.“, Angst gemacht. Er erzählte von einem Mann, Mister C., der sich an einem sonnigen Sommertag auf dem Bug eines Motorbootes aalte. Plötzlich verschwand das Boot – nur kurz – in einer tiefhängenden Wolke. Mister C. dachte sich nichts dabei – bis er feststellte, dass er zu schrumpfen begann. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Seine Hose schienen ihm zu lang geworden zu sein. Doch bald musste er auf Stühle klettern. Dann war er so groß wie sein Hund. Er wurde immer kleiner – bis er winziger als eine Stubenfliege wurde. Am Schluss konnte er durch ein Nadelöhr schlüpfen. Ein erschreckender Film für ein Kind, das sich freut, mal größer zu werden. Lange hatte ich wegen dieses Films Angst vor Wolken. Und nun verspüre ich die alte Angst schon wieder.
Haben Sie gewusst, dass wir heute besser informiert sind über das tägliche Leben der Babylonier als über das der uns zeitlich näher liegenden Römer? Warum? Weil die Babylonier ihre Briefe, Schulbücher, Verträge, Gerichtsurteile, Literatur usw. auf Tontafeln schrieben. Diese Tafeln sind beinahe unverwüstlich. Die Römer hingegen speicherten ihre Archiven auf Papyrus oder Pergament. Diese Unterlagen halten zwar einige Jahrhunderte lang, nicht aber Jahrtausende. Wenn sie nicht kopiert werden, sind sie weg.Was können wir uns von den Digitalspeichern erhoffen?
Noch immer weiß ich nicht, wer diese Warnung zu Augen bekommt. Vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht habe ich schon jetzt nur für die Katz geschrieben. Miaaauu.
„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.
„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“
„Trotzdem.“
Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.
Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.
Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.
Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.
„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“
„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.
„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“
Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Jonasbuch“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“
Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“
An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“
„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“
„Die drei Fs?“
„Ficken, Fressen und Freizeit.“
Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?
Nächste Woche etwas weniger Pathos.
Mit Hand auf Herzen verspreche ich, dass dies das letzte Mal ist, dass ich das leidige Thema „verschwinden in die/der Wolke“ bespreche. Denn nun habe ich das Problem endlich gelöst. Wirklich.
Meine Begeisterung im letzten Beitrag war leider etwas verfrüht. Zur Erinnerung: Ich wollte dort erklären, warum ein Flugzeug im Deutschen nur „in der Wolke“ und nicht „in die Wolke“ verschwinden kann (obwohl ich selbst nicht ganz überzeugt war, dass es so ist). Doch dann bekam ich zwei ausführliche Kommentaren zum Beitrag: einen von langjähriger Leserin Lola und einen von Anonym. Beide erläuterten, dass sowohl „das Flugzeug verschwindet in die Wolke“ wie auch „das Flugzeug verschwindet in der Wolke“ richtig seien, Es hänge nur davon ab, ob das Flugzeug in die Wolke hineinfliege oder schon drinnen sei – was auch mein ursprünglicher Standpunkt war.
Diese Erklärung ist auch logisch. Nicht anders als wenn man sagt, „er geht ins Zimmer“ und „er ist im Zimmer“.
Doch warum sind manche fest davon überzeugt, dass nur „das Flugzeug verschwindet in der Wolke“ zum guten Ton zählt?
Nach Erscheinen meiner Glosse ging ich ins Paradies. Sie wissen schon: mein Lieblingsgemüseladen, wo diese Woche die sizilianischen Pfirsische himmlisch schmecken – und nur zwei Euro fünfundneunzig das Kilo kosten! Ein Herbstwunder.
Ich hatte schon Diverses (mitunter ein Kilo sizilianische Pfirsische) auf den Ladentisch gelegt und die Rechnung schon bezahlt. Frau M. war dabei, mir die Sachen in meiner mitgebrachten Einkaufstasche zu verstauen (notabene – in „meiner“ und nicht in „meine“). Nun fragte ich: „Liebe Frau M., ist Ihre Hand gerade in der oder in die Tasche verschwunden?“
„In der Tasche“, antwortete sie spontan.
Ein krasser Widerspruch zu der Meinung von Lola und Anonym.
Wohl merkte mir Frau M. das Unbehagen an. „Aber wir können auch die anderen hier im Laden fragen“, schlug sie gutmütig vor –– und wandte sich an eine in der Nähe stehende Kündin. „Ist meine Hand gerade in die oder in der Tasche verschwunden?“
„In die Tasche“, antwortete die Kündin selbstbewusst.
„Und was meinen Sie?“ fragte Frau M. eine andere Kündin.
„In die Tasche.“
„Oje“, sagte ich. „Jetzt bin ich völlig durch den Wind. Auch ich würde lieber ‚in die Tasche’ sagen.“
„Oje“, sagte Frau M., „Ich verstehe kein Deutsch mehr. Vielleicht ist mein ‚in der Tasche’ nur Bayrisch?“
Pure Konfusion im Laden, als ich mit meinen leckeren sizilianischen Pfirsischen nach Hause ging. Zuhause fragte ich nun meinen Sohn, ob das Flugzeug, wenn es die Wolke anpeilt, in die oder in der Wolke verschwunden sei.
„In der Wolke“, antwortete er nach kurzem Überlegen.
Gleiche Antwort bekam ich am Abend von meiner Frau.
Nun blieb mir nichts anders übrig. Ich rief meinen Sprachguru an, der gerne namenlos bleiben möchte und sich momentan in der Reha befindet. Es geht ihm übrigens viel besser. Ich schilderte ihm das Problem mit dem Flugzeug und der Wolke. „In der Wolke“, sagte er. „Das ist eindeutig. Ich weiß, du denkst an die Bewegung, die im Deutschen normalerweise durch den Akkusativ ausdrückt wird, aber eine Sprache ist nie ganz logisch konstruiert.“
Nun erläuterte ich ihm meine Theorie, dass das „Verschwinden“ fürs deutsche Ohr als Zustand zu verstehen sei.
„Klingt vernünftig“, erwiderte er, man merkte, dass er auf seinen Zauberlehrling stolz war, „Aber schau lieber in den sechsbändigen Duden, den ich dir mal geschenkt habe. Da findest du alles.“
Das tat ich auch und las auf Anhieb den Beispielsatz: „Der Zug verschwand in der Ferne“ – nicht also in „die“ Ferne. Hmm. Und dann stieß ich endlich auf die lang gesuchte Antwort. Duden bringt das Beispiel: „Er verschwand im/ins Haus.“ Das erinnert sehr an mein Flugzeug und die Wolke. Duden erklärt allerdings, dass „verschwinden“ in diesem Fall „gehen“ bedeutet (wie: „ich verschwinde schnell, ich muss mal“). Und noch wichtiger: dass „Verschwinden“ im Sinne von „gehen“ ausschließlich Umgangsprache sei. Das heißt: Man kann nur in der Umgangsprache in „eine“ Wolke verschwinden. Wenn man hochgestrochen schreibt, muss man in „einer“ Wolke verschwinden.
Aber wer weiß: Die Umgangsprache von gestern kann durchaus mal die Hochsprache von morgen werden.
Fazit: Alle haben recht. Was könnte schöner sein! Ein Schluss wie das Paradies selbst. Noch schöner: Das Problem des Verschwindens verschwindet nun endgültig. Über die „Wolke“ hingegen gibt es noch einiges zu sagen. Das aber ein anderes Mal.
Das Thema ist schier unerschöpflich – jedenfalls mir. Für Muttersprachler hingegen gar kein Thema.
Ich werde es folgendermaßen formulieren: Ist „Waldjunge“ Ray im Wald oder in den Wald verschwunden?
Die Frage ist freilich eine rein grammatikalische. Über Ray habe ich schon letzte Woche ausführlich berichtet – und es gibt darüber kaum Neues zu sagen. Ray hat sich mittlerweile im Jugendheim in Berlin, wo er vorübergehend haust, bestens angepasst. Er schaut mit den anderen Jugendlichen fern, raucht Zigaretten, geht gerne unter die Dusche. Umso klarer wird es, dass es sich hier nicht um einen wilden Menschen handelt. Sein Englisch scheint übrigens britisch zu sein. Dennoch wollen manche einen kaum spürbaren fremden Akzent heraushören.
Aber zurück zum „Verschwinden“.
Abermals auf dieser Seite habe ich die Frage gestellt (und keine befriedende Antwort erhalten), warum sich der deutsche Muttersprachler, wenn einer verschwindet, die Frage: „wo“ und nicht „wohin“ er verschwunden ist, stellt.
„Tja, es ist einfach so“, sagte mir letzte Woche meine Nachbarin, Frau S.
„Ja, aber stellen Sie sich vor: Sie schauen in den Himmel. Sie sehen ein Flugzeug, das in Richtung einer Wolke fliegt. Und zack! Plötzlich ist das Flugzeug nicht mehr zu sehen. Ist es in die oder in den Wolken verschwunden?“
„In den Wolken, natürlich.“
„Aber warum? Versinkt ein Mensch im Wasser oder ins Wasser? Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um einen Ortswechsel.“
„Im Wasser.“
„Sagt man aber nicht, dass ein Flugzeug in die – und nicht in den – Wolken fliegt? Und springt ein Mensch ins Wasser und nicht im Wasser? Verschwinden, fliegen, versinken, springen – es handelt sich bei allen diesen Wörtern um einen Ortswechsel, eine Bewegung. Oder?“
„Ja, schon, aber…Ja! Ich kann mir vorstellen, dass einer sagen könnte: ‚Guck! Das Flugzeug! Es verschwindet! In die Wolken!’ Ja, das könnte man sagen.“
Frau S. hat sich sehr bemüht, mir ein Erfolgserlebnis zu gönnen. Letztlich konnte sie nicht über den eigenen sprachlichen Schatten springen.
Mit Sicherheit verstehen Sie meine Frust…
Aber halt! Ein Wunder ist geschehen! Stellen Sie sich vor: Während ich diese Klage hier niederschreibe, geht mir plötzlich ein Lichtlein auf. Ja, ich glaube allmählich zu verstehen, warum Ray im Wald und nicht in den Wald verschwunden ist. Ja, liebe Leser, Sie sind in diesem Moment Augenzeugen eines Denkprozesses geworden. Denn gerade jetzt habe ich das lästige Problem gelöst. Sie erleben die Lösung also synchron mit mir.
Und hier ist sie, die schöne Lösung: Für das deutsche Sprachempfinden ist ein Verschwinden stets ein Zustand und keine Tätigkeit. Ja, so ist es! Auch „Sein“ ist ein Zustand. Man sagt: „Er ist im Wald“. Keiner käme auf die Idee, „er ist in den Wald“ zu sagen. Der deutsche Sprachsinn fragt sich, wenn es um Zustände geht, nur Wo und nie Wohin. Und weil eben das „Verschwinden“ und das „Versinken“ als Zustände empfunden werden, kann die Wolke, wo verschwunden wird, nur als Ort verstanden werden; dito das Wasser, wo versunken wird.
Alles klar?
Falls nicht, ist auch egal. Sie gehen das Risiko ohnehin nicht ein, diesen Fehler zu machen. Hauptsache weiß ich, warum das Flugzeug in den Wolken verschwunden und der Mensch im Wasser versunken ist.
An dieser Stelle wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir zurufen würden: „Willkommen in der deutschen Sprache, lieber Sprachbloggeur.“ Nota bene: Man sagt hier in „der“ und nicht in „die“ Sprache. Für den Deutschen ist auch ein „Willkommen“ nur ein Zustand.
Als ich Sonntag nach den Stichwörtern „Ray“, „Berliner“ und „Waldjunge“ googelte, stieß ich auf ca. zehn Treffer. Ein mickriges Ergebnis. Gestern waren es schon das Dreifache.
Doch bevor ich über Ray erzähle, zuerst ein kurzer Rückblick: 1531 trat im Hasperger Wald bei Salzburg ein „Forstteufel“ in Erscheinung. Nur Folgendes ist über ihn bekannt: dass sein Körper mit einem rötlichen Fell bedeckt war und dass er auf allen vieren ging. Er starb, kurz nachdem er dingfest gemacht wurde. Immerhin existiert ein Bild von ihm. Es zeigt ein Wesen mit Löwenkrallen und Vogelbeinen, mit einem Schwanz wie ein Hund und einem bärtigen Gesicht. Natürlich ein Fantasieporträt, trotzdem sehr beeindrückend. Der Schweizer Naturwissenschafter Conrad Gesner hat uns den einzigen bekannten Bericht über den Forstteufel in seiner „Historia Animalium“ (1552) überliefert.
Aber zurück zu Ray. Er wurde nicht dingfest gemacht. Er ist schnurstracks allein ins Rote Rathaus nahe dem Alexanderplatz gegangen, wo er seine abenteuerliche Geschichte erzählte – und zwar auf fließendes Englisch. Seine Deutschkenntnisse scheinen hingegen rudimentär zu sein.
Sein Erscheinungsbild wirkt – im Gegensatz zu dem des Forstteufels vom Hasperger Wald –ganz normal. Ich habe im Internet ein Bild in Passfotoformat von ihm gesehen. Natürlich war das Gesicht – wie immer heute, wenn man neugierig wird – stark verpixelt. Dennoch scheinen seine Gesichtszüge wohlproportioniert zu sein, die gefransten Haare rotblond und glänzend, die Schultern breit, der Gesamteindruck anmutig. Kein Glockner von Notre Dame ist Ray, der angibt, 17 Jahre alt zu sein. Offenbar kennt er auch seinen Geburtstag.
Er berichtete, dass er seit fünf Jahren mit seinem Vater Ryan durch die Wälder streifte. Diese Odyssee begann, kurz nachdem seine Mutter Doreen gestorben sei. Zwei Wochen bevor er in Berlin auftauchte, sei sein Vater durch einen Sturz im Wald tödlich verunglückt worden. Ray habe die Leiche unter Steinen verscharrt. Er wisse aber nicht mehr, wo.
Immerhin hatte Vater Ryan seinem Sohn stets eingbläut, dass Ray für den Notfall auf den Kompass schauen und nach Norden, nach Berlin, marschieren sollte. Genau das hat Ray getan. Als er das Rote Rathaus betrat, besass er – neben Kompass und einer Landkarte – ein Zelt, einen Schlafsack und einen Rücksack, der mit Wintersachen gefüllt war. Der Jüngling machte einen gesunden, unverwahrlosten Eindruck. Die Polizei sucht jetzt über Interpol nach Verwandten usw. Weil Ray minderjährig ist, kam er in die Obhut eines Vormunds.
Mehr weiß ich nicht über den Fall Ray. Mehr steht in den Texten der verschiedenen online Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften nicht. Ein ungenannter Polizist halte die Geschichte für „glaubhaft“ – zumindest nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen. Nur in einem Text erfuhr ich, dass zumindest ein Polizist skeptisch ist. Vor allem wegen Rays zu gepflegten Aussehens.
Als Autor von „Kaspar Hausers Geschwister“ bin ich selbst ziemlich expert auf dem Gebiet der „Wolfskinder“. Folgende Fragen würden mich interssieren: 1.) Was für ein Englisch spricht Ray? Damit meine ich nicht nur, ob er Engländer oder Amerikaner ist. Es gibt auch regionale Schattierungen der englischen Sprache. 2.) Kann er lesen und schreiben? Wenn ja, wo hat er das Lesen und Schreiben gelernt? Kennt er Lieder? Nach dem bisherigen Stand der Dinge heißt es, dass er sich nur etwa fünf Jahre zurückerinnern kann. Sein Leben beginnt also um die Zeit, als er mit dem Vater in den Wald ging. 3.) Woher stammen seine Kleider– inklusiv Unterwäsche und Strümpfe und selbstverständlich Schuhe? Ich würde Ray viele Fragen über das Leben im Wald, übers Kochen, Waschen usw. stellen.
Ray erschien am Roten Rathaus nahe Alexanderplatz am 5. September. Die ersten Berichte waren erst etwa zwei Wochen später zu lesen – genügend Zeit, so meine ich, um viel über Ray zu erfahren – gesetzt den Fall, man stellt die richtigen Fragen.
Auch dem Forstteufel hätte ich gerne Fragen gestellt, falls es sich nicht um einen elenden Verblödeten gehandelt hatte. Seine Geschichte ist leider so gut wie unbekannt. Was heißt es, zum Beispiel, genau, dass er behaart war? Dass er nackt durch den Wald gelaufen ist? Wenn er wirklich ein Nackerter war, wäre dies eventuell ein Indiz, dass man ihn im Sommer erspäht und dingfest gemacht hat und dass er vielleicht nur wenig Zeit im Wald verbracht hatte. Konnte er reden oder zumindest Sprache verstehen? Die Geschichte, die uns überliefert wurde, ist aber leider nur eine Ausgeburt der Fantasie. Fantastisches erzählt man aber gerne weiter, weil es oft interessanter ist als die Wirklichkeit.
Auch über Ray wird momentan fantasiert. Nur: In seinem Fall könnte man noch immer an die Fakten kommen. Ich persönlich gehe davon aus, dass Ray nur ein Teilzeit-Waldjunge war. Noch aber wissen wir zu wenig. Am Ende wird die Geschichte etwas weniger spektakulär klingen dafür aber nicht unbedingt weniger interessant. Fortsetzung folgt.
„He Mann, willst du mich blickficken oder was?“
So ähnlich war der Text, den meine Frau mir an einem gemütichen Sonntagnachmittag aus der Zeitung vorlas. „Kennst du diesen Ausdrück?“ fragte sie.
„Ob ich was kenne?“ Natürlich habe ich zunächst nur halb zugehört. Typisch Mann.
„‚Blickficken’. Hast du das Wort mal gehört?“
„Nein, noch nie. Aber ich kann mir was darunter vorstellen. Man zieht jemanden mit den Augen aus.“
„Das ist aber ein Schlägertyp, der es sagt, bevor er zuschlagen will.“
„Was liest du da?“
„Einen Artikel in der SZ.“
Ich erzähle diese kurze Anekdote aus der häuslichen Gemütlichkeit nur wegen dieses Wortes. Vielleicht kennen Sie es schon. Ich nicht.
Spontan tippte ich auf eine Verdeutschung aus dem Amerikanischen. Zu meiner Zeit sagte man „fucking someone with your eyes“. Das ist natürlich sehr derb, hat die Leichtigkeit des „Blickfickens“ nicht und kommt einem bestimmt nicht vor einer Schlägerei über die Lippen. Was mir aber besonders gefällt, ist das Echo der zwei „ick“-Laute. Nein, das „Blickficken“ hat bestimmt eine andere Herkunft als diese.
Gibt es vielleicht im Englischen ein „look fuck“? fragte ich mich. „Look fuck“ wäre ein passendes Äquivalent fürs „Blickficken“ War nur eine Idee, aber neugierig googelte ich diese Wortschöpfung, für den Fall dass es sie tatsächlich gibt.
Jawohl! Meine Sprachinstinkte funktionieren noch immer. Folgendes Zitat entdeckte ich auf einer „Facebook“-Seite: “your picture is beautiful LOL..jk you look fuck ugly :)”.
Die Freude währte nur kurz. Hier geht es nicht um ein „look-fuck“, sondern um ein „fuck-ugly“. Zu Deutsch: „Du siehst grottenschlecht aus.“
Doch dann stieß ich auf folgendes Zitat aus einem Hiphoplied, „Cashmere Thoughts“, von JayZ. Ich zitiere: „I pimp hard on a trick: look fuck if your leg broke bitch, hop up on your good foot.”
Fragen Sie bitte nicht, was der Satz bedeutet. Es genügt zu sagen, dass das Bild sehr aufgesext ist – zumindest das mit dem „pimp hard on a trick“. „Look fuck“ scheint hier aber etwas wie „intensiv gucken“ zu bedeuten. Dass würde auch gut zu dem deutschen Schläger aus der SZ passen.
Meine Theorie: Der Begriff „look fuck“ stammt aus der Hiphopszene und wurde von einem sprachbegabten Atzen in ein „blickficken“ verwandelt.
Schöne Theorie aber letztendlich nicht mein eigentliches Anliegen. Ich stelle hier das „Blickficken“ aus einem anderen Grund vor: Ich möchte nämlich für seine langfristige Aufnahme in die deutsche Sprache plädieren und bin sogar bereit, die Patenschaft zu übernehmen.
Ich weiß. Ich mache es mir mit diesem Vorhaben nicht gerade leicht. Derbheiten haben es schwer, wenn sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung ersuchen, sie sind so unbeliebt wie Asylsuchende aus Afrika.Die Frage soll eher lauten: Ist das „Blickficken“ überhaupt integrationsfähig? Warum nicht? sage ich. Immerhin: „Fick mich ins Knie“, jene bunte Halbübersetzung fürs sehr unanständige „go fuck yourself“ hat es geschafft, wenn auch noch nicht in die Unterhaltungen der vornehmsten Kreise vorgedrungen.
Fürs „Blickficken“ bin ich momentan weniger hoffnungsvoll. Schade. Wissen Sie: Für manches sucht man lange und vergeblich nach dem passenden Wort. Mit dem „Blickficken“, kann man beinahe die ganze traurige Geschichte der Gegenwart mit einem Begriff zusammenfassen. Ist das nicht komisch? Manchmal hat man das Wort, das man braucht, um etwas zu beschreiben und weiß es gar nicht.
„He Mann, willst du mich blickficken oder was?“
So ähnlich war der Text, den meine Frau mir an einem gemütichen Sonntagnachmittag aus der Zeitung vorlas. „Kennst du diesen Ausdrück?“ fragte sie.
„Ob ich was kenne?“ Natürlich habe ich zunächst nur halb zugehört. Typisch Mann.
„‚Blickficken’. Hast du das Wort mal gehört?“
„Nein, noch nie. Aber ich kann mir was darunter vorstellen. Man zieht jemanden mit den Augen aus.“
„Das ist aber ein Schlägertyp, der es sagt, bevor er zuschlagen will.“
„Was liest du da?“
„Einen Artikel in der SZ.“
Ich erzähle diese kurze Anekdote aus der häuslichen Gemütlichkeit nur wegen dieses Wortes. Vielleicht kennen Sie es schon. Ich nicht.
Spontan tippte ich auf eine Verdeutschung aus dem Amerikanischen. Zu meiner Zeit sagte man „fucking someone with your eyes“. Das ist natürlich sehr derb, hat die Leichtigkeit des „Blickfickens“ nicht und kommt einem bestimmt nicht vor einer Schlägerei über die Lippen. Was mir aber besonders gefällt, ist das Echo der zwei „ick“-Laute. Nein, das „Blickficken“ hat bestimmt eine andere Herkunft als diese.
Gibt es vielleicht im Englischen ein „look fuck“? fragte ich mich. „Look fuck“ wäre ein passendes Äquivalent fürs „Blickficken“ War nur eine Idee, aber neugierig googelte ich diese Wortschöpfung, für den Fall dass es sie tatsächlich gibt.
Jawohl! Meine Sprachinstinkte funktionieren noch immer. Folgendes Zitat entdeckte ich auf einer „Facebook“-Seite: “your picture is beautiful LOL..jk you look fuck ugly :)”.
Die Freude währte nur kurz. Hier geht es nicht um ein „look-fuck“, sondern um ein „fuck-ugly“. Zu Deutsch: „Du siehst grottenschlecht aus.“
Doch dann stieß ich auf folgendes Zitat aus einem Hiphoplied, „Cashmere Thoughts“, von JayZ. Ich zitiere: „I pimp hard on a trick: look fuck if your leg broke bitch, hop up on your good foot.”
Fragen Sie bitte nicht, was der Satz bedeutet. Es genügt zu sagen, dass das Bild sehr aufgesext ist – zumindest das mit dem „pimp hard on a trick“. „Look fuck“ scheint hier aber etwas wie „intensiv gucken“ zu bedeuten. Dass würde auch gut zu dem deutschen Schläger aus der SZ passen.
Meine Theorie: Der Begriff „look fuck“ stammt aus der Hiphopszene und wurde von einem sprachbegabten Atzen in ein „blickficken“ verwandelt.
Schöne Theorie aber letztendlich nicht mein eigentliches Anliegen. Ich stelle hier das „Blickficken“ aus einem anderen Grund vor: Ich möchte nämlich für seine langfristige Aufnahme in die deutsche Sprache plädieren und bin sogar bereit, die Patenschaft zu übernehmen.
Ich weiß. Ich mache es mir mit diesem Vorhaben nicht gerade leicht. Derbheiten haben es schwer, wenn sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung ersuchen, sie sind so unbeliebt wie Asylsuchende aus Afrika.Die Frage soll eher lauten: Ist das „Blickficken“ überhaupt integrationsfähig? Warum nicht? sage ich. Immerhin: „Fick mich ins Knie“, jene bunte Halbübersetzung fürs sehr unanständige „go fuck yourself“ hat es geschafft, wenn auch noch nicht in die Unterhaltungen der vornehmsten Kreise vorgedrungen.
Fürs „Blickficken“ bin ich momentan weniger hoffnungsvoll. Schade. Wissen Sie: Für manches sucht man lange und vergeblich nach dem passenden Wort. Mit dem „Blickficken“, kann man beinahe die ganze traurige Geschichte der Gegenwart mit einem Begriff zusammenfassen. Ist das nicht komisch? Manchmal hat man das Wort, das man braucht, um etwas zu beschreiben und weiß es gar nicht.
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