Vorstandsvorsitzender: (Seine teuer beschuhten Füße liegen auf seinem großen Schreibtisch in seinem Büro oben auf der Chefetage) Wer sind Sie? Wie sind Sie in mein Büro gekommen?
Der Tod: Ich klopfe nie an.
Vorstandsvorsitzender: (richtet sich auf) Werden Sie nicht frech. Wissen Sie, wer ich bin?
Der Tod: Ja.
Vorstandsvorsitzender: Wurm! Wurm! Kommen Sie sofort! Holen Sie die Polizei!
Der Tod: Er kann nichts hören.
Vorstandsvorsitzender: Seien Sie nicht so sicher. Er springt, wenn ich nur laut vor mich hinflüstere. Fast kann er meine Gedanken lesen – zumindest die Gedanken, die er lesen darf. Dafür bezahle ich ihn. Arbeiten Sie für mich?
Der Tod: Gewissermaßen ja.
Vorstandsvorsitzender: Ach, jetzt verstehe ich. Sie sind von einer Outsourcingfirma. Druckerei, oder? Sieht man Ihnen fast an, ich meine die schwarze Kleidung. Aber ohne Anmeldung kommt keiner zu mir. Verstehen?
Der Tod: Siehst du mein Schwert nicht, o Sterblicher. Ich halte es über dein Gesicht…
Vorstandsvorsitzender: …Unverschämt! Was erdreisten Sie sich! Mich zu duzen! Eine Frechheit! Wurm! Kommen Sie sofort!
Der Tod: Wenn ein Mensch mein Schwert erspäht, macht er seinen Mund vor Entsetzen weit auf. In dem Augenblick tröpfelt von meinem Schwert eine bittere schwarze Perle meines Gallensaftes in seinen Mund, und er folgt mir willfährig in die nächste Welt.
Vorstandsvorsitzender: Sie sind entlassen! Verstehen Sie „entlassen“? Machen Sie, dass Sie wegkommen, oder ich schwöre, ich werde von meinem Hausrecht Gebrauch machen. Darauf können Sie Gift nehmen. Wurm! Wo sind Sie verdammt nochmal.
Wurm: (tritt eilig in den Raum) Sie haben gerufen, o Herr?
Vorstandsvorsitzender: Werfen Sie diesen, diesen Menschen raus! Rufen Sie die Polizei! Sofort! Ja, und seine Firma soll sofort gekündigt werden.
Wurm: Welchen Menschen, o Herr?
Vorstandsvorsitzender: Der da mit dem komischen Schwert…Hoppla! Er ist weg! Hmmm. Das verstehe ich nicht.
Wurm: Vielleicht haben Sie nur geträumt, o Herr.
Vorstandsvorsitzender: Geträumt! Träume sind für Schläfer. Ich träume nie – erst recht nicht bei der Arbeit! Irgendwo muss er doch sein. Schauen Sie hinter die Gardinen.
Wurm: (schaut hinter die Gardinen) Tut mir leid, o Herr. Ich sehe niemanden.
Vorstandsvorsitzender: Komisch. Vielleicht habe ich doch nur geträumt. So was ist mir noch nie passiert.
Wurm: Es ist bestimmt das Wetter. Gestern hatten wir fünfzehn Grad. Heute plötzlich achtundzwanzig. Es kommt manchmal vor, wenn man…
Vorstandsvorsitzender: …wenn man alt wird?
Wurm: Nein, o Herr. Wenn man überarbeitet ist.
Vorstandsvorsitzender: Nein, es war ein Zeichen. Ja, genau. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ich muss wieder die Gewinne maximieren. Das ist es. Holen Sie mir die Liste, Wurm.
Wurm: Meinen Sie die Liste?
Vorstandsvorsitzender: Ja, die Liste. Heute stelle ich drei Blätter ein und kündige ein Zehntel der Belegschaft. Geld sparen, Gewinne maximieren. Das tut gut. Niemand soll behaupten, es gebe kein Heilmittel gegen schlechte Träume.
Warum schlagen sich die Leute die Köpfe ein, liebe Inseratenschleicher? Ganz klar! Weil sie sich gegenseitig nicht verstehen.
Pfingsten, zum Beispiel. Das Wort ist eine Verballhornung des griechischen „Pentakoste“, zu Deutsch „Fünfzigste“, d.h., der fünfzigste Tag nach Ostern. Genauer gesagt, der fünfzigste Tag nach dem jüdischen Passachfest. Denn das Pfingstfest wurde von einem jüdischen und nicht von einem christlichen Fest abgeleitet, das in der Antike auf Griechisch „Pentakoste“ hieß. So steht es jedenfalls in der „Apostelgeschichte“.
Genug der Religionsgeschichte. Die Frage lautet, liebe Inseratenschleicher: Warum schlagen sich die Leute die Köpfe ein?
Die Antwort: Weil sie sich nicht verstehen.
Pfingsten will genau das Gegenteil. Denn die Leute haben an diesem Tag, so heißt es, die Sprachen der anderen verstanden – so unterschiedlich sie auch waren. „Sie haben in Zungen geredet.“
„In Zungen geredet?“. Komisch. Auf Englisch ist die „Zunge“ nicht nur ein glitschiger Fleischkloß im Mund, sondern die „Sprache“ selbst. Dito auf Französisch („langue“), Spanisch („lingua“), Italienisch („lengua“) usw. Nur der Deutsche ist ohne „Mutterzunge“; dafür hat er eine „Muttersprache“ – in meinem Fall ist es eine „Schwiegermuttersprache“. Deutsch kennt den „Zungenkuss“, die „spitze Zunge“, die „Schuhzunge“, die „herausgestreckte Zunge“, den Zungenbrecher.
Die ersten germanischen Christen fragten wohl: „Wie heißt dieser Feiertag?“
Antwort: „Pentakoste, meine Lieben.“
„Pfenkostn?“ radebrechte der Häuptling, das Wort ein rechter Zungenbrecher.
„Ja, mein Sohn“, antwortete der Pfarrer gütig. Neunmalkluge gewinnen keine Konvertierten.
Ist das nicht ulkig, dass der Name dieses Festes der Verständigung nicht präzise verständigt werden konnte?
Komisches Pfingstwunder.
Diese knifflige Anekdote fiel mir ein, als ich heute über die Techniken der jüngsten Generation der Inseratensschleicher im Internet nachdachte. Ja, liebe Inseratenschleicher, ihr seid gemeint. Hier geht es um meine eigenen Erfahrungen. Denn die neueste Masche der Inseratenschleicher sieht folgendermaßen aus: Kleine Firmen tarnen sich als engagierte Leser, schreiben vermeintliche „Kommentare“ an mich, als interessierten sie sich für den Inhalt meiner Beiträge – wobei sie in Wirklichkeit durch pure List einen Link zu ihrem eigenen online Gewerbe erstellen möchten. Neulich habe ich mehrere solche „Kommentare“ erhalten. Manche lasse ich sogar durchgehen – vom Link allerdings gereinigt.
Mein kleiner Wortladen befindet sich, wie ich immer wieder betone, in einem Vorort des WehWehWehs. Unsere Straße sieht ein bisschen ärmlich aus, ist aber aufgeräumt, auch die Nachbarhäuser und Geschäfte sind alles andere als nobel. Man könnte unsere Nachbarschaft als gepflegte „Favela“ bezeichnen.
Wer auf meiner Seite durch Charme und List erschlichene Werbung unterzubringen versucht , ist gewissermaßen wie der Ladendieb, der im Tante-Emma-Geschäft Kekse mitgehen lässt.
Dass die Reichen die Armen beklauen, ist ein bekanntes Phänomen; dass die Armen die Armen beklauen, ist nur traurig.
Aber Achtung, liebe Inseratenschleicher: Tante Emma schläft nie. Sie kennt ihre Pappenheimer sehr gut. Noch wichtiger: Wenn sie ein Auge zumacht, dann nur, weil sie sich an dem Tag geradezu gütig fühlt.
Ende der Predigt.
„Boccaccio“? Heute muss man davon ausgehen, dass dieser Name den meisten Menschen nicht mehr geläufig ist. Man denkt vielleicht an eine putzige japanische Trickfilmfigur. Oder man tippt auf ein italienisches Kartenspiel oder eine Salatart der nouvelle cuisine. (Zum Thema Salat komme ich unten noch einmal zurück).
Gewiefte Bildungsbürger wissen aber, dass mit diesem Namen Giovanni Bocciaccio, italienischer Schriftsteller des 14. Jahrhunderts, Autor der lustigen Geschichtensammlung „Dekameron“, gemeint ist. In seinem Buch entfliehen zehn adlige junge Menschen der Pestwelle in Florenz und treffen sich auf einem schönen Landgut, wo sie sich zehn Tage lang Geschichten erzählen, um die Langeweile zu vertreiben. Notabene: Es handelt sich hier nicht um irgendeinen gewöhnlichen Pestausbruch, sondern um den berüchtigen Schwarzen Tod, der in den Jahren 1348 und 1349 ein Drittel der Bevölkerung Europas dahingerafft hat.
Letzte Woche waren wir in der Oberpflalz. Meine Reise kann man nur oberflächlich mit der Flucht der hübschen Edlen Boccaccios vergleichen. Ich war nicht auf der Flucht vor den Killertomaten -gurken und -salatblättern. Von den Killersprossen war damals noch nicht die Rede.
Ich war lediglich reif für die Insel. Zum Glück haben wir unsere Insel der Seligen (selig zumindest für die Touristen) gefunden: Runding hieß sie, ein Bergdorf zwischen Cham und Bad Kötzting. Mein Rat: Nichts wie hin. Runding ist viel näher als Rhodos, Málaga, Bangkok und Co.
In diesem kleinen Dorf haben wir viel erlebt, doch an dieser Stelle möchte ich nur über zwei Begebenheiten (oder vielleicht meine ich „Aspekte“ der Reise) berichten. Die erste wird alle Nordlichter zutiefst befriedigen – und momentan bedürfen Nordlichter dringend einer guten Nachricht. Es geht um die Abschiedsvokabel „Tschüss“. Dieses in Bayern lang verfemte Wort hat sich nämlich in der Oberpfalz fest durchgesetzt. Dass sich Einheimische von uns Touristen mit einem lockeren „Tschüss“ oder einem verkrampften „Auf Wiedersehen“ verabschieden, ist nachvollziehbar. Aber die Leute dieser Gegend sagen es auch zueinander. „Tschüß“, sagte die Kassiererin zu der Kundin. „Tschüß“ sagte der Busfahrer zu dem Schüler. Staunen Sie auch? Mein Gedanke: Wann fangen die Norddeutschen an, mit „Grüß Gott“ zu grüßen?
Die zweite Begebenheit hat mit Bier zu tun. Und damit komme ich auch zu meiner Magenverstimmung. Welch Ironie, gell? Im Zeitalter der EHEC-Plage prompt von einer Magenverstimmug befallen zu werden. Aber so spannend ist nunmal das Leben.
Wir gingen in die Wirtschaft, und ich erzählte Frau Kopp, der Wirtin von meiner Malaise, und dass ich nur Mildes essen wollte. Irgendwie sind wir dann auf das Thema Bier gekommen, und nun erfuhr ich, dass Familie Kopp eigenes Bier braut.
„Ich trinke Bier gerne“, sagte meine Frau, „mein Mann aber nicht.“
„Seit 1985 nicht mehr“, fügte ich provokativ hinzu.
Inzwischen war auch Herr Kopp mit von der Partie. „Muss man wissen“, sagte er, „dass das Bier ein Grundnahrungsmittel ist, das wertvolle Spurenelemente enthält.“
„Ja“, sagte meine Frau, „deswegen gilt es in Deutschland als Lebensmittel und nicht als Betäubungsmittel. Aber es ist nur gut, wenn man es nicht übertreibt.“
„In Maßen nicht in Massen soll man’s Bier trinken“, fügte Herr Kopp an.
„Und für Magenleidende ist’s Bier besonders geeignet“, sagte Frau Kopp und schaute in meine Richtung.
So groß wurde meine Neugierde, dass ich nun ein kleines, helles der Marke Schlossbrauerei Runding bestellte. Jawohl. Mein erstes Bier seit 1985 – und, stellen Sie sich vor: Es hat auch geschmeckt. Wie soll ich es beschreiben. Es war vollmundig, also keine dünne Flüssigkeit, und es hatte nur wenig Kohlensäure. Meine Frau sagte, es sei „untergärig“ gewesen. Für mich ein neuer Begriff. Ich weiß aber nicht, wie man Bier am besten beschreibt. Da müssen Sie selbst nach Runding fahren. Denn nur in der dortigen Umgebung ist es, so weit ich weiß, erhältlich. Sehen Sie: Jetzt habe ich gerade Werbung für ein Dorf und für ein Bier gemacht. Und zwar kostenlos. Ist das Leben nicht voller Überraschungen?
Das Bier hat meine Magenverstimmung allerdings nicht kuriert. Aber trotzdem.
Wenn Sie meinten, ich wollte heute – wie jeder anderer – die EHEC-Epidemie thematisieren, dann haben Sie sich geirrt. Mir geht es nur um das Wort „Tschüss“ und um mein erstes Bier seit 25 Jahren. Boccaccios Edlen erzählten von der Liebe, von der Eitelkeit, vom Schwindel, nicht aber von der allgegenwärtigen Pest. Ist gesunder, wenn man auch andere Interessen hat.
Doch jetzt kehre ich zum Salat zurück: Im Supermarkt in Runding wartete ein älterer Herr an der Kasse, einen Salat in der Hand. „Is mir wurscht, wenn i wegn am Salat sterb, bin oid g’nug“, sagte er.
Ich konnte mich in diesem Augenblick nicht mehr zurückhalten. Es platzte regelrecht aus mir heraus: „Sehen Sie, jetzt haben Sie den Salat“, sagte ich.
Ein Tag wie jeder andere in Runding.
Als die Welt am 21. Mai wider Erwarten nicht zu Ende ging, habe ich gedacht: Kein Wunder. Wie sollte das in einer globalisierten Welt überhaupt funktionieren?
Ich hatte nämlich irgendwo gelesen, dass es um 17.30 in Kalifornien losgehen sollte. Das hat mich gleich stutzig gemacht. Denn um diese Zeit wäre in Mitteleuropa schon der 22. Mai. Und in China wäre man längst dabei, den Geschäften nachzugehen und die Regimekritiker niederzuknüppeln.
Irgendwie ist der Wurm drin, sagte ich mir.
Inzwischen verstehe ich die Handhabe dieses Weltuntergangs bestens. Und ehrlich gesagt: Noch nie wurde uns eine so logisch durchdachte Endzeit versprochen. Urheber dieser Prophezeiung ist der 89jährige amerikanische Radioprediger Harold Camping. Ihm zufolge soll der Untergang rund um die Welt jeweils um 18h Ortszeit vonstatten gehen. Ist das nicht raffiniert?
Bedenknen Sie: Am 21. Mai gab es ein Erdbeben in Neuseeland, einen Vulkanausbruch auf Island und noch dazu einen verheerenden Tornado im US-Bundesstaat Missouri. Ach ja, und die Taliban begannen im Ernst die Atommacht Pakistan zu destabilisieren.
Nun werden Sie entgegnen, dass der 21. Mai schon vorbei ist und dass wir offensichtlich noch immer da sind. Ich warne aber vor voreiliges Ins-Fäustchen-Lachen.
Herr Camping hat seinen Untergang meisterhaft ausgeheckt. Er behauptet nämlich, dass der 21. Mai erst der Anfang des Endes sei. Ihm zufolge geht die Welt scheibchenweise zugrunde. Der echte Schluss findet am 21. Oktober 2011 statt. Erst dann fahren alle Sünder in die Hölle, während Gottes Treueste – zu denen wahrscheinlich auch Mr. Camping zählt – in den Himmel kommen. Das haben Sie wahrscheinlich nicht gewusst, oder?
Und damit komme ich zum eigentlichen Thema: Ich will nämlich über meinen eigenen Untergang berichten. Ohnehin (für mich) interessanter als jede pauschale Vernichtung.
Ende 1963 oder Anfang 1964 hatte ich einen Traum: „Du wirst am soundsovielten April 1964 sterben“, hieß es. Ich hatte sogar ein Kalenderblatt im Visier. Notabene: Im Traum war das kein „soundsovieltes“, doch kaum hatte ich die Augen aufgeschlagen, war das Datum aus meinem Gedächtnis verschwunden. So was kennen Sie bestimmt auch. So sind nunmal die Träume. Ich war damals noch ziemlich jung und hatte, ehrlich gesagt, wenig Lust zu sterben. Doch bald schrieb man April 1964, und ich rechnete täglich damit, dass das Ende kommen würde. Komischerweise verspürte ich keine Angst, eher Neugier. Die Tage vergingen der Reihe nach, und ich fragte mich jedes Mal: „Wird es heute sein? Sterbe ich heute?“ Ich bin aber nicht gestorben. Als der Monat zur Neige ging und ich noch immer am Leben war, dachte ich, hmm, hier stimmt etwas wohl nicht. Dann war Mai. Die ganze Chose habe ich schnell wieder vergessen.
Anfang 2011 hatte ich wieder einen Traum. Abermals ging es um die Zahl 64, den Monat April und das Sterben. Da ich in diesem Jahr 64 Jahre alt bin, fragte ich mich: Kann es sein, dass ich 64jährig im April sterbe? Nun wurde ich neugierig und zack! Im Nu hatten wir den April. Die Tage gingen einer nach dem anderen dahin, und ich lebte fort. Ich war außerdem sicher, dass ich am 15. April nicht sterben würde, weil ich da nämlich Hochzeitstag habe. Sterben tut man normalerweise an so einem Tag nicht. Zudem war ich im ganzen April damit beschäftigt, an meinem neuen Buch zu polieren – auch keine zumutbare Zeit zu sterben. Denn ich wollte dieses Buch unbedingt fertig schreiben. Natürlich kann man das eigene Sterben nicht so ohne Weiteres steuern (jedenfalls, wenn man kein Gunter Sachs und Co. ist). Es war mir trotzdem wichtig, das neue Buch zu beenden. Die Tage vergingen – wie immer – im Flug. Gestorben bin ich aber nicht.
Nur gegen Ende des Monats erlitt ich tatsächlich eine körperliche Schwäche. Hopla, habe ich gedacht. Vielleicht sterbe ich doch noch in diesem Monat. Pusteblume. Am 1. Mai war ich quietschfidel. Erst dann erzählte ich meiner Frau die ganze Geschichte. Sie kennt mich viel zu lange, um beeindrückt zu sein und meinte nur, ich spänne.
Ich hatte jemandem gesagt: „Wenn ich den April 2011 überlebe, dann werde ich noch 20 Jahre leben.“ Inzwischen bin ich nicht mehr so sicher. Meine Fähigkeiten als Wahrsager lassen doch zu wünschen übrig.
Meine Glaubwürdigkeit habe ich also verspielt. Herr Camping – bzw. Reverend Camping – hat noch bis Oktober Zeit, die seine unter Beweis zu stellen. Wenn er Glück hat, wird er recht behalten. Wie heißt es so schön: Als Letztes stirbt die Hoffnung.
Toi toi toi, Reverend – bzw. Mr. – Camping. Von einem Wahrsager zum verehrten Kollegen: Alles Gute im neuen Leben!
P.S. Nächste Woche keine Glosse. Ich mache mich kurz unsichtbar. Wo bin ich? Vielleicht sehen Sie mich ganz plötzlich in Ihrer Straße.
Wäre es nicht schön, wenn wir alle nett zueinander wären und kein Mensch mehr über Krieg redete nur noch über den Frieden?
Im Paradies habe ich jemanden kennengelernt, der nach dieser Devise zu leben scheint.
Sie wissen vielleicht schon: „Paradies“ ist der Name meines Lieblingsobstundgemüseladens. (Oder sagt man: „Lieblingsobst- und Gemüseladen? Das nur nebenbei gefragt).
Ich hatte eine Avokado, einen Kopfsalat, Erdbeeren und, glaube ich, eine Flasche Granatapfelessig (sehr lecker, nur zu empfehlen), gekauft. Die Kasse registrierte elf Euro und elf cent. Frau M. bestand darauf, den Betrag auf elf Euro abzurunden. Manchmal tut sie das, vielleicht weil ich über den Laden so gerne schreibe. Schriftstellerrabatt also.
Trotzdem war ich plötzlich bei der Zahl „elf elf“ hängengeblieben. Diese Zahl hat nämlich bei mir die Erinnerungsmaschine in Gang gesetzt. In Bayern erweckt „elf elf“, bzw. „Elfter Elfter“, automatisch Gedanken an den Faschingsanfang. In meiner Kindheit mussten wir jedes Jahr am elften November um elf Uhr elf Minuten in meiner Grundschule in der Bronx stillschweigend aufstehen, um eine Minute lang des Endes des Ersten Weltkriegs zu gedenken. Denn an diesem Tag und zu dieser Stunde und in dieser Minute hatten 1918 alle Kriegführenden die Waffen niedergelegt. Bei uns hieß dieser Tag fortan „Armistice Day“, also „Tag des Waffenstillstands“. Den Feiertag gibt es schon lange nicht mehr in den USA.
Während ich lange und wahrscheinlich viel zu ausführlich in dieser Erinnerung schwelgte, betrat eine Kundin das Paradies. Sie war bestimmt nicht viel älter als ich, schob aber einen Rollator vor sich her. Man kann nur von Glück reden, wenn man selbst noch keinen Rollator vor sich herzuschieben hat. Ich kannte die Dame nur vom Sehen, hatte mit ihr noch nie ein Wort gewechselt. „Ich erzähle grad vom Ende des Ersten Weltkriegs“, erklärte ich, „der am Elften Elften zu Ende ging.“
Sie schaute etwas skeptisch drein.
„Nicht der Zweite Krieg, sondern der Erste“, fügte Frau M. hilfreich hinzu.
„Wahrscheinlich haben junge Leute heute keine Ahnung, wann der Erste Weltkrieg war oder dass es ihn überhaupt gegeben hat“, sagte ich ein bisschen altklug.
„Besser so“, sagte die Frau streng. „Man soll jeden Krieg vergessen und nur über den Frieden reden.“
„Aber ohne Geschichtskenntnisse sind wir praktisch vorverurteilt, die gleichen Fehler zu wiederholen“, antwortete ich gewissenhaft.
„Die Menschen sollen nett zueinander sein und alles miteinander teilen und in Liebe zueinander leben…“
Ich gebe hier nur den Anfang ihrer Rede wieder. Bald legte sie sich ganz heftig ins Zeug. Ein endloser Monolog über Frieden, Freude, Eierkuchen – auch Jesus fehlte nicht, wenngleich sein Auftritt in ihren Argumenten für den Frieden nur sehr kurz war. Sie war mit ihren Ausführungen lange nicht fertig , als ich mich mitten im Satz friedlich und freundlich verabschiedete. Selbstverständlich hatte ich Frau M. schon die elf Euro bezahlt.
Mir fiel dieses Gespräch am Abend wieder ein, während ich eine lange Liste von Kommentaren an den Sprachbloggeur studierte, Kommentare, die Sie als Leser selten zu sehen bekommen. Es sind eigentlich keine Kommentare, sondern peinlich dumme Werbetexte von Spammern, die versuchen auf meine Kosten Turnschuhe, Potenzmittel, Elektronik, Ferienhäuser in Polen, Esoterikwochenenden und Spielkasinos an den Mann und an die Frau zu bringen.
Ich bin täglich damit beschäftigt, diese falschen Freunde zu eliminieren. Der neueste Trick: Spammer registrierte sich ganz normal als „Benutzer“ dieser Seite. Das machen sie, weil registrierte Benutzer Kommentare ohne vorherige Kontrolle ihrer Texte veröffentlichen dürfen. Nun bin ich dabei, die Mitgliedschaft dieser neuen „Benutzer“, die bestimmt kein Wort Deutsch lesen, zu blockieren. Diese neue Generation von Spammern stammt übrigens (fast) ausnahmslos aus China.
Ich dachte an die Dame im Paradies, die den Krieg verbieten und die Welt in ein kuscheliges Liebesfest verwandeln möchte. Hätte sie eine Webseite, wie sähe diese aus, habe ich überlegt. Ein müßiger Gedanke. Denn ich weiß: Es wird immer Menschen geben, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen, die den Tod Osama bin Ladens als einen entsetztlichen Verstoß gegen seine Bürgerrechte verschreien und die gerne vergessen, dass es Kriege gegeben hat und geben wird. Hauptsache Ruhe.
Kaum blitzte das Schwarz-Weiß Foto des alten „Lebemanns“ über den Bildschirm, schon habe ich den Sinn des Ikons begriffen. „Gunter Sachs ist tot“ sagte die Nachrichtensprecherin mit einer gewissen Pietät. Das ist immer der Tonfall im Fernsehen, wenn ein „Prominenter“ von der Bühne abtritt.
Am nächsten Tag skandierte die Münchener Abendzeitung: „Trauer um den letzten Playboy“. Ab sofort konnte man sich in die erste Folge einer mehrteiligen Serie über Leben und Werdegang des Verstorbenen vertiefen. Dass man manche Tote besonders gut vermarkten kann, weiß jeder Boulevardblattmacher. Gunter Sachs (Sie wissen schon: Brigitte Bardot, Nacktfotos usw.) ist so ein Blickfang.
Trotzdem muss ich’s sagen: Gunter Sachs ist als „wuss“ gestorben. (Notabene: Dieses Wort spricht sich fast wie im Deutschen aus, nur mit einem englischen „Dabbelju“anstatt eines stimmhaften deutschen „W“ im Anlaut). Und zwar, weil er sich erschossen hat, was die Abendzeitung als „seinen dramatischen Selbstmord“ bezeichnete.
Der Grund für diesen Akt der Verzweifelung? Er stellte „durch die Lektüre einschlägiger Publikationen“ fest, dass er „an der ausweglosen Krankheit A.“ leide. Sein logisches Denken sei noch in Ordnung, konstatierte er. Was ihn aber beunruhige, sei seine wachsende Vergesslichkeit und die Verschlechterung seines Gedächtnisses. „Diese führt schon jetzt zu gelegentlichen Verzögerungen in Konversationen.“
„Der Verlust der geistigen Kontrolle“ sei für ihn „ein würdeloser Zustand“. Peng! und weg.
Schade, dass er sich nicht erst mit mir über dieses Thema unterhalten hat. Ich hätte ihm gesagt: „Gunter, du machst einen Fehler. Viele Leute sind vergesslich oder kommen mit ihren Sätzen nicht weiter, weil sie das Wort nicht finden, wonach sie verzweifelt suchen. Ich zum Beispiel. Und das seit Jahren und zwar in zwei Sprachen.“
Und dann hätte ich ihm gesagt: „Tut mir leid, altes Haus, aber meiner Meinung nach bist du ein ‚wuss’ geworden.“
„Ein ‚wuss’, lieber Sprachbloggeur?“ Vielleicht hätte er das Wort mit deutschem Akzent ausgesprochen. Dann wäre sein „Dabbelju“ zu einem „W“ geworden.
„Jawohl, ein ‚wuss’.“
„Und was ist, bitte schön, ein ‚wuss’?“
„Eine neuenglische Vokabel, lieber Gunter, die in etwa ‚Memme’ bedeutet.“ „Vielleicht möchtest du mir als Sprachbloggeur Nähleres über das Wort sagen.“
„Gerne. Es ist mit ‚pussy’ verwandt.“
„Dieses Wort kenne ich als alter Lebemann und vormaliger Playboy natürlich sehr gut. Es bedeutet zwar ‚Kätzchen’ ist aber die Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil – ähnlich dem französischen ‚chatte’. Habe ich recht?“
„Volltreffer! Manches vergisst man also doch nicht, siehst du. Nur: ‚pussy’ hat eine dritte, politisch sehr unkorrekte – genauer gesagt, eine ausgesprochen sexistische – Bedeutung. Man bezeichnet damit einen verweiblichten, nicht unbedingt homosexuellen Mann, einen Mann, der keinen Widerstand leistet. Eine besonders fiese Form des Wortes ist ‚pussy-wussy`. Der ‚wuss’ wird also vom ‚wussy’ in ‚pussy-wussy’ abgeleitet. Nun habe ich dir alles über den ‚wuss’ erklärt, damit du den Begriff besser verstehst.“
„Nur eins verstehe ich nicht: Warum hältst du mich für einen ‚wuss’?“
An dieser Stelle, liebe Leser, werde ich den Dialog abbrechen. Gunter hätte die Antwort ohnehin nicht verstanden – und nicht wegen der heimtückischen Krankheit. Wie erklärt man einem, der ein Luxusleben geführt und nun Angst hat, die Kontrolle zu verlieren, dass fast nur reiche Leute Teile ihres Daseins unter „Kontrolle“ haben – und auch dann nur äußerst selten. Ein Glückspilz warst du, Gunter. Naja fast. Und wie erklärt man einem, dass die Entscheidung, sich umzubringen, fast wie die nüchterne Entscheidung klingt, Behinderte – also „unwertes Leben“ – eliminieren zu lassen? Denn so denken manche Leute wirklich.
Tut mir leid, wenn mir hier keine anderen Worte einfallen. Die obigen kommen mir nämlich viel zu polemisch vor. Vielleicht fallen mir mal andere, ja mildere ein. Ich habe schon gesagt: Mein Kampf mit den Worten war mit Sicherheit schon immer ärger als alles, was der begnadete Lebemann a.D. zu beklagen hatte.
Bevor ich meine Kenntnisse über den Tod Osama bin Ladens preisgebe, muss ich unbedingt die englische Vokabel „to upstage“ erklären. Man übersetzt dieses Zeitwort am schönsten mit „jemandem die Schau stehlen“.
Dieser Begriff hat seinen Ursprung im englischsprachigen Theaterjargon. Die Bühne („stage“) wird nämlich in Quadranten eingeteilt: „downstage“ (Richtung Publikum), „upstage“ (nach hinten) „stage left“ und „stage right“.
Stellt sich ein Schauspieler zwischen Publikum und einem Kollegen, so dass der Kollege im Zuschauerraum unsichtbar wird, so hat er seinen Kollegen „ge-upstage-t“. Das „upstaging“ gilt als eine der schlimmsten Berufssünden der Schauspielerei.
Das weiß ich so genau, weil auch ich in meinen jungen Jahren geschauspielert habe. Einem jungen Schauspieler wird schnell eingeschärft, das „upstaging“ tunlichst zu vermeiden.
Nun zu meinen Kenntnissen über den Tod von Osama bin Laden. Ich weiß: Heute schreiben alle über bin Laden. Aber nur wenige verfügen über die gleichen Quellen wie ich. Diese werde ich selbstverständlich für mich behalten.
Inzwischen weiß jeder, der nicht dement ist oder gerade auf dem Amazonasfluss fährt, dass bin Laden nördlich von Islamabad im Ort Abbottabad in einer sehr feudalen Villa in großem Komfort gewohnt hat. Verständlich auch, dass er so gehaust hat. Keiner lebt freiwillig in einer Höhle in den Bergen, vor allem nicht, wenn er aus reicher Familie stammt. Was nur wenige wissen: Osama lebte in Abottabad als Rentier, hatte also viel Muße, um schöne Traumüberfälle zu planen und vielleicht auch das künftige Kalifat zu erträumen.
Außerdem weiß jeder, dass er in seinem noblen Domizil weder Internet noch Telefon hatte. Denn er hatte Angst, man könnte ihn via GPS aufspüren oder ihn, falls er auf ein „Phishing“-Angebot eingegangen wäre, schnappen. Auch ein Fernseher fehlte im schnieken Haus. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen war seine Losung. Das Leben ohne TV konnte er aber gut ertragen. Das Programm in Pakistan ist für seine Einfältigkeit bekannt. Man bekommt nicht einmal „Tatort“ oder „Der Bulle von Tölz“ zu sehen.
Am 29. April hätte er aber gerne geglotzt. Denn er wollte – wie mehr als die Hälfte der Welt – unbedingt die Prachthochzeit der Royals William und Kate am Bildschirm mitverfolgen. Jeder weiß – auch Osama bin Laden – , dass kein Spektakel auf der ganzen Welt so prunkvoll ist wie eine königliche Hochzeit in England. Nicht einmal die Chinesen sind in der Lage (zumindest noch nicht), diese englische Spezialität zu klonen oder billiger zu produzieren.
Was machte Osama also? Er ging zu den Nachbarn, klopfte an und fragte, ob er bei ihnen die Hochzeit gucken dürfe. In Abbottabad sind Leute mit wuschligem grauem Bart und Turban keine Seltenheit. Keiner kam darauf, dass es der „Terrorfürst“ war, der auf der Matte stand. Dies war übrigens sein erster Ausflug aus der Villa, seitdem er im August 2010 in Abbottabad eingetroffen war. Im Orient wird die Gastfreundschaft sehr groß geschrieben. Man hat den Erzterroristen a.D. willkommen geheißen. Er bekam Coca Cola und Erdnussknabberli und schaute sich mit den Nachbarn die einmalige englische Hochzeit mit großen Augen an.
Was Osama nicht wusste: Seit Monaten hatten ihn diverse Geheimdienste im Visier. Jeder vermutete, dass er in der Villa in Abbottabad war. Doch niemand hatte ihn bisher gesichtet.
Und nun die Bestätigung. Im Nu hatten die Geheimdienste unter Führung der Vereinigten Staaten ihre Pläne für den Ernstfall ausgeheckt. Man war bereit, den Führer des Weltterrorismus endgültig unschädlich zu machen. Er wiederum war noch ahnungslos, als er, von den schönen Bildern beflügelt, nach Hause schlenderte.
Den Rest dieser Geschichte können Sie auf tausenden Webseiten oder in ebenso vielen Zeitungen und Fernsehberichten im Überfluss erfahren. Ich brauche nicht darüber zu informieren.
Nur auf eins will ich hier aufmerksam machen: Osamas Tod war faktisch sein letzter Terrorakt. Damit meine ich nicht den Angriff gegen ihn, sondern sein Sterben selbst. Wie komme ich darauf? Er hat es nämlich mit seinem Tod geschafft, William und Kate die Show zu stehlen, was schade ist, denn die Royals hatten sich diese Werbung für die Monarchie viel kosten lassen und natürlich gehofft, die Medien würden über Willi und Kate noch tagelang weiter berichten. Dann plötzlich klassisches Upstaging seitens Osamas, wenn auch diesmal wahrscheinlich ungewollt. Man sieht: Wer einmal Terrorist wird, kann kaum mehr aufhören, egal was er tut, das Leben anderer zu versauen.
Zeit meines Lebens bin ich eine betriebswirtschaftliche Niete gewesen. An dieser Stelle hatte ich ursprünglich vor, einen Brief an den Aufsichtsrat der Commerzbank zu schreiben, um Aufnahme in dieses Gremium zu bitten. Eine schöne Arbeit. Man tut wenig und bekommt dafür viel. Stattdessen habe ich mich entschlossen, Ihnen eine kostenlose Lektion über die Gedächtniskunst zu bieten. Wie gesagt: Was das Geschäftliche betrifft, war ich schon immer eine Niete.
Fangen wir mit den Hethitern an. Wer nicht weiß, wer die Hethiter waren, der soll bitte selbst darüber nachschlagen. Ich habe keine Lust mit der Linkvorrichtung dieser Software lang herumzufuchteln. Über die Hethiter habe ich ohnehin nur Folgendes zu sagen: Sie waren in Wirklichkeit keine Hethiter. Damit meine ich: Sie haben sich nie als Hethiter bezeichnet.
Das habe ich erst gestern erfahren. Es hat mich so dermaßen interessiert, dass ich prompt vergessen habe, dass ich hier meinen Brief an den Aufsichtsrat der Commerzbank veröffentlichen wollte.
Dieses antike Volk der Hethiter heißt nur so, weil es einst ein Volk erobert hatte, das„Hethiter“ oder so ähnlich hieß. Eine laxe ägyptische Schreibkraft hat die Nachricht aus dem fernen Anatolien erhalten und prompt den Namen der Eroberer mit dem der Eroberten durcheinandergebracht. Diesen Fehler baden wir bis heute aus.
In Wirklichkeit nannten sich die „Hethiter“ „Neschi“. Ja, „Neschi“. Jetzt wissen Sie es. Und ich möchte beinahe wetten, dass Sie dieses nutzlose Faktoïd nie wieder vergessen werden.
Für den Fall, dass Sie es doch tun könnten, bringe ich Ihnen jetzt eine Technik bei, die es Ihnen unmöglich machen wird, jemals zu vergessen, dass die Hethiter in Wahrheit Neschi hießen.
Dazu brauchen Sie nur, wie man früher sagte, einen Gedächtnispalast zu bauen.
Das ist freilich kein echter Palast. Es kann Ihre Wohnung bzw. Ihr Haus sein. Es kann Ihr Zuhause aus der frühen Kindheit sein. Es kann eine Kirche, ein Büro, eine Schule sein. Es muss nicht einmal ein Gebäude sein. Es kann auch eine Gartenanlage sein, eine Straße, die Sie intim kennen. Egal.
Wichtig ist nur, dass Sie diese Räumlichkeit in Ablageeinheiten unterteilen. Wenn es, zum Beispiel, Ihre Wohnung ist, dann können Sie jeden Raum zu einer Ablageeinheit machen: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Toilette. Ich weiß nicht, wie viele Räume Sie haben. Auch ein Einzimmer Appartement kann man bestens in Einheiten einteilen: Bücherregal, Bett, Tisch, Lampe, Küchenschrank, Backofen, Spülbecken usw.
Das Gedächtnis will aber Ordnung. Ihre Ablageeinheiten müssen also eine klare Reihenfolge einhalten, wenn Sie sie in Gedanken besuchen.
Und jetzt der Trick: Sie können bei jeder Ablagestelle etwas, das Sie sich merken wollen, ablegen. Sagen wir, zum Beispiel, Sie wollten sich in Ihrem „Gedächtnispalast“ die „Neschi“ einprägen. Ich würde empfehlen, dass Sie sie im Spülbecken ablegen. Warum dort? Weil es dort oft Nässe gibt. „Neschi“ und „Nässe“ klingen sehr ähnlich. Die Hirnneuronen mögen gerne Assoziationen, die das Gedächtnis wachrütteln.
Besonders lieben die Neuronen überraschende Bilder. Beispiel: Sie möchten sich für alle Zeiten den Hochzeitstag, den 29. April, von William und Kate merken. Mein Vorschlag: Gehen Sie ins Schlafzimmer Ihres Palasts und legen Sie das Prinzenpaar in Ihr Bett. Denken Sie dann an 29 Wolken, die auf das Paar regnen – ein Aprilschauer!
Je bunter, wilder – auch perverser – , desto wirksamer die Einprägung. Die Neuronen mögen Schräges, Ungewöhnliches.
Wie schon gesagt: Es handelt sich hier nur um eine erste Lektion über die Gedächtniskunst. Aber Sie haben immerhin schon eine Vorstellung, wie es geht – und den wahren Namen der Hethiter haben Sie gewiss nicht vergessen.
Für den Anfang bitte ich Sie darum, einen eigenen Gedächtnispalast zu errichten. Notabene: Je mehr Ablagestellen in Ihrem Palast, umso mehr Dinge können Sie dort ablegen! Keine Sorge: Man kann den Gedächtnispalast zu jeder Zeit wieder ausräumen und neu belegen.
Alles, was man heute über diese hehre Kunst weiß, geht auf die Schriften von Quintilian, Cicero und vor allem dem anonymen Autor eines Traktats „Ad Herrenium“ zurück: drei Römer, die zwischen 80 v.Chr. und etwa 80 n.Chr. tätig waren. Diese wiederum haben für die eigenen Texte aus längst verschollenen griechischen Traktaten geschöpft. Keiner weiß, seit wann es die Gedächtniskunst gibt.
Verständlich, dass so eine Kunst zustande gekommen ist. Im Zeitalter vor dem Buchdruck musste man vieles auswendig lernen. Heute hat (bald) fast jeder ein Smartphone oder einen Tablet-PC. Man muss sich kaum mehr was merken.
Doch letztlich weiß man nicht, wann der Strom ausgehen wird. Schließlich leben wir in gefährlichen Zeiten. Deshalb meinte ich, es sei wichtiger heute über die Gedächtniskunst zu berichten als hier einen Brief an den Aufsichtsrat der Commerzbank zu veröffentlichen. Wird der Strom ausgeschaltet, ist man froh, wenn man sich ein bisschen was eingeprägt hat.
Schon seit Wochen will ich über das Schicksal Ai Weiweis schreiben – als Protest quasi gegen die Proteste in Europa usw., die, so meine ich, meistens zu lau ausfallen.
Stimmt nicht ganz. Vor diversen chinesischen Botschaften weltweit werden die Tage 1001 Stühle aufgestellt, wobei ein Stuhl leer bleibt – die natürlich von Ai. In München hängt ein großes Transparent vor der Kunstakademie: „Free Ai Weiwei“. Auch vor dem Tate in London flattert eins. Und so weiter.
Ich wollte über das Schicksal Ai Weiweis schreiben. Doch ich fand die Worte nicht. Ich fand sie nicht, weil ich mich weigere, Ai zum alleinigen lauen Posterboy eines Unrechtstaates zu instrumentalisieren, während zahllose unbekannte politische Gefangene in chinesischen Gefängnissen und Umerziehungslagern weiterhin namenlos schmoren.
Ich habe mir gestern einen Dialog zwischen dem chinesischen Staatsoberhaupt Hu Jintao und seinem Amtskollegen, dem Premierminister Wen Jiabao, fantasiert. Dieser Dialog sollte zum satirischen Herzen meines schwierigen Protests werden. Ich hatte vor, mit dem Gleichklang zwischen „Hu“ und dem englischen „who“, „Wen“ und dem englischen „when“ lustige Witze zu machen.
In einer deutschsprachigen Glosse wird das lustige Wortspiel leider zu obskur. So ist es, wenn das Herz eines Schriftstellers in zwei Sprachen schlägt.
Mein Dialog sollte im Büro von Hu stattfinden. Weil sich China noch immer kommunistisch nennt, heißt dieses Büro in meinem Dialog das „Politbüro“. Ein schlechter Witz ist besser als kein Witz. Oder? Hier ein paar Fragmente meines Dialogs. Hu spricht zuerst. Was er sagt, klingt Chinesisch – ist es auch:
Hu: Ai Weiwei Liu Xiaobo Gao Zhishang.
Wen: Wer? (Natürlich meine ich hier „who?“).
Hu: Wann (d.h., „when?“) wirst du endlich verstehen, dass du ein großes Problem hast?
Wen: Wer (who?) hat ein Problem.
Hu: Ich nicht. Ich lasse mich bald pensionieren. Du aber.
Wen: Ej weh weh.
Sie sehen: ein Dialog in deutscher Sprache und doch kein deutscher Dialog über einen chinesischen Künstler, der ohnehin nur stellvertretend für lauter politische Gefangener in China. Ej weh weh.
Bestenfalls wären meine Bemühungen schwach. Und zwar deshalb, weil China reich und mächtig ist. China darf Raubbau in Tibet oder unter Uiguren treiben, darf Taiwan zu einer Hochzeit mit dem Festland nötigen. Was sagt die UNO darüber? Nicht einmal die bissigen Tanten und Kerndlfresser vom Ostermarsch erheben die Stimme gegen China. Ihre Feinde bleiben weiterhin die easy targets: die USA, die NATO und Israel.
In meinem Dialog hat Hu folgende Idee, um die Aufmüpfigkeit der schwachen westlichen Protestler im Punkto Ai Weiwei im Keim zu ersticken:
Hu: Twitter abstellen, Internet schließen! Neue Umerziehungslager eröffnen. Todesstrafe! Todesstrafe! Senegal, Brasilien und Libyen aufkaufen! Öl billig an Europa verschleudern! Billige Spielzeuge, Handys, Tabletten. Lookalikes verkaufen! Disneyland in Schanghai bauen lassen, Bob Dylan (ohne Protestlieder) und Justin Bieber (mei ist der süß) auftreten lassen. Dann werden sie den Ei vergessen.
Wen: Wen vergessen?
Hu: Wen wird man ganz bestimmt vergessen, Hu aber nie.
Tja. Mein Dialog, führt letztlich ins Abseits – wie jeder Protest gegen die immense Paranoia Chinas.
Ich fürchte, dass der Dalai Lama mittlerweile zu alt ist, um der nächste Präsident Chinas zu werden. Ich tippe langfristig auf Liu Xiaobo. Warten Sie nur: Auch Riesen haben nur zwei Beine, über die sie – wie jeder Zweibeiner – stolpern können.
Ich wollte schon immer ein Buch über Hernando Cortes schreiben.
Genauer gesagt, ein Buch über die „noche triste“ – zu Deutsch die „traurige Nacht“. Unter diesem Namen ist ein Ereignis in die Geschichte eingegangen, das am 30. Juni 1520 geschehen ist.
An dem Abend haben die Azteken die spanischen Eroberer aus der Azteken- Hauptstadt Tenochtitlan – heute „Mexiko City“ – gejagt. Tenochtitlan war damals eine Inselstadt, die durch künstliche Dämme mit dem Festland verbunden war.
Cortes war ein dreister Kerl. Er hatte, wie die Spanier sagen cojones – also einen hohen Testosteronspiegel. Mit nur einigen hundert Spaniern gelang es diesem Haudegen das Millionenvolk der Azteken mit List und Tücke zu bezwingen. Man fragt sich heute, wie das möglich war. Das wäre das Thema eines ganz anderen Buches, das Tzvetan Todorov bereits geschrieben hat: .“Die Eroberung Amerikas – Das Problem des Anderen“. Cortes fühlte sich jedenfalls so fest am Steuer, dass er sich in der Lage wähnte, Tenochtitlan eine Zeitlang zusammen mit einigen Soldaten zu verlassen, weil er gegen spanische Rivalen an der mexikanischen Küste raufen wollte.
Sein Leutnant, Pedro de Alvarado, jung, mutig, nicht auf den Mund gefallen aber ein unerfahrener Spund, sollte Cortes während seiner Abwesenheit vertreten. Das tat er auch. Doch bald ist dem jungen Alvarado die Macht in den Kopf gestiegen. Er gebärdete sich arrogant und dumm. Ihm fehlte vor allem das politische Feingefühl eines Cortes. Das Resultat: Im Nu begehrten die sonst handzahmen Azteken auf. Die Situation wurde schnell kritisch. Die Spanier mussten sich im Palast des Aztekenkönigs verschanzen.
Unterdessen kehrte Cortes mit seinen Mannen siegreich nach Tenochtitlan zurück. Der líder stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er sich mitten in einen Aufstand begeben hatte. Mit gewohnter Kühnheit ritt er durch die Stadt und bog in den Palast ein. Nach kurzer Zeit hatte er die Ursache für die missliche Lage erkannt. Für eine öffentliche Rüge seines Zauberlehrlings Alvarado war es aber schon zu spät. Es blieb den Spaniern nichts anderes übrig als die Flucht.
Es hat Pfeile und Speere geregnet als die Spanier durch die Strassen Tenochtitlans und über den Damm zu Fuß oder hoch zu Ross flohen. Manche erlagen gleich ihren Verletzungen. Andere stürzten verletzt vom Damm und ertranken, weil sie sich mit zu viel Gold beladen hatten. Sie gingen im Wasser wie Steine unter. Dass es überhaupt Überlebende gegeben hat, grenzt an ein Wunder. Es war nur möglich, weil die Azteken sie mehr oder minder laufen ließen. Die Azteken waren fest davon überzeugt, den Spaniern endgültig eine Lektion erteilt zu haben. Sie haben sich natürlich geirrt. Die Spanier waren immer noch da. Nur außerhalb der Stadt, genauer gesagt ringsum auf dem Festland. Die meisten waren aber in dem Augenblick völlig lädiert, erschöpft und – wie wir heute sagen – traumatisiert.
Das galt auch für Cortes. Das sagt zumindest die Legende. Es heißt, dass er sich in dieser traurigen Nacht unter einen Baum setzte und auf die Stadt schaute. Plötzlich übermannte es ihn: Er weinte aus tiefster Seele, weil er erkannt hatte, dass sein Ehrgeiz allein für so viel Unheil, Leiden und Tod verantwortlich war. Seitdem heißt dieser Baum (spanisch „el arból“) „el arból de la noche triste“.
Als ich vor vielen Jahren in Mexiko City war, habe ich es für meine Pflicht gehalten, den Baum der traurigen Nacht aufzusuchen. Ich wusste, dass es ihn noch gab. Er gilt zwar nicht als Sehenswürdigkeit einer üblichen Touristenrundfahrt, doch jeder kann ihn finden. Ich war damals mit Freunden unterwegs, und ich habe sie überzeugt, wie wichtig es war für mich, diesen Baum, der einst Augenzeuge eines profunden Gewissensbisses war, zu besuchen. Ich denke mittlerweile, dass es sich hier um das einzige Denkmal auf der ganzen Welt handelt, das dem Gewissen gewidmet ist.
Wir fuhren durch ganz Mexiko Stadt – ich glaube mit der U-Bahn – und stiegen in einer etwas heruntergekommenen Wohngegend aus. Ich glaube, sie hieß Tacuba. Zumindest damals war sie heruntergekommen. Vielleicht sieht sie heute anders aus. Dann gingen wir zwei oder drei Straßen weiter. Endlich standen wir vor dem Baum der traurigen Nacht.
Er war bereits eine Mumie: so tot wie das Holz meiner Bücherregale. Der Strunk war ganz hohl und wurde zur Stütze mit Beton aufgefüllt. Ich habe aber – und ich schwöre, dass es so war – das letzte tote Blatt auf einem ausgetrockneten Zweig gesehen. Das letzte Blatt, eines Baumes, der noch lebte, als sich Cortes am 30. Juni 1520, gegen ihn lehnte und aus tiefster Seele weinte, weil er durch seinen Ehrgeiz so viel Leiden verursacht hatte. Der Baum war übrigens eingezäunt. Vielleicht war da eine Tafel zu lesen. Daran erinnere ich mich nicht mehr.
Heute habe ich mein Buch über den Baum der traurigen Nacht fertiggeschrieben. Es ist ein kurzes Buch. Das Gewissen braucht aber kein langes Werk.
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