Ex nihilo locutus. Ahhh. Endlich ein lateinischer Satz – zumindest ein Satzteilchen. Der studierte Altphilologe (und so einer bin ich) schreibt gerne lateinische Sätze. Ex nihilo locutus. Zu Deutsch: aus dem Nichts gesprochen.
Ausgerechnet fallen mir diese Worte ein, als ich die Tastatur – mein Musikinstrument – auf den Schoß setze (so schreibe ich am liebsten). Aber warum gerade jetzt?
Erster Gedanke: Fällt mir heute sonst nichts ein?
Zweiter Gedanke: Warum überhaupt noch schreiben, wenn der Server weiterhin halbkaputt ist, und der Host sich keine Mühe macht, ihn zu reparieren?
Dritter Gedanke: Ist jener bange Tag eingetroffen, an dem ich nichts zu sagen habe?
Alles Pipifax. Jedes Schöpfen ist ein Reden aus dem nichts. Ich gebe aber zu: Die Situation mit dem Server ärgert mich wirklich zusehends. Umso mehr folgende kleine Ablenkung – und zwar in Form einer netten Geschichte über das Schweigen…
Ich bin sechszehn Jahre alt, lebe im New Yorker Stadtteil Queens, bin, was das zarte (haha) Geschlecht betrifft, schüchtern, genauer gesagt, nicht gerade souverän. Hat sich in meinem Leben bis heute diesbezüglich was geändert? Natürlich nicht. Ein Freund (in der Jugend ist, wie man weiß, jeder, den du kennst, dein Freund) – keine Ahnung mehr, wer das war – hat mir dem Schüchternen ein „blind date“ organisiert. Dieser amerikanische Begriff hat sich im MTV-Zeitalter in der deutschen Sprache längst eingebürgert. Trotzdem kommt mir das deutsche „Verabredung mit einer Unbekannten“ viel zarter und sinnlicher vor.
Ich glaube, sie hieß Leslie. Daran kann ich mich komischerweise noch heute erinnern. Warum? Weil ich den Klang des Namens nicht mochte. Zu sehr ähnelte er – zumindest in meiner Fantasie damals – dem englischen Wort „lizard“, also „Echse“. Im übrigen habe ich mir eingebildet, dass diese Leslie (ich sehe das Gesicht mit scharfer Nase und noch schärferem Blick noch immer) irgendwie doch reptilienartig aussah. Nein, sie war bestimmt nicht hässlich. Wenn es zwischen uns gefunkt hätte, hätte ich mich mit Sicherheit in ihr hübsches Lächeln verliebt.
Es hat aber zwischen uns nicht gefunkt. Kommt mal vor. Ich sehe die Szene noch immer im geistigen Auge. Wir bummeln zu viert durch den Stadtteil Briarwood. Keine Ahnung, wohin (oder woher) wir gingen. Das andere „Pärchen“ (wer auch immer das war) schlendert engumschlungen vor oder hinter uns, während Leslie und ich unbeholfen nebeneinander dahinstaksen. Tunlichst vermeiden wir den direkten Blickkontakt. Ich bin schrecklich nervös und rede endlos wie ein Wasserfall, weil ich eine panische Angst vor der Stille habe. Die Stille. Die wäre für mich gleichbedeutend mit dem endgültigen Scheitern, und Scheitern will ich partout nicht. Mir ist wichtig, dass ich das fremde Reptil an meiner Seite, auch wenn ich nichts für es empfinde, mit meiner Charme becirce.
Keine Ahnung, worüber ich endlos redete, und keine Erinnerung, ob Leslie außer „mm hmm“ oder „ja“ anderes erwiderte. Plastisch bleibt mir lediglich meine wachsende Verzweifelung.
Dann passierte es: der befürchtete GAU: Endlich gingen mir die Worte aus. O Schreck o Schande. Und schließlich sagte ich in meiner Panik die verhängnisvollen Worte eines jeden ehrlichen Losers:
„Weißt du, ich habe keine Ahnung, was ich dir noch sagen soll. Eigentlich habe ich dir nichts zu sagen.“ Ja, die Luft war ausgegangen.
„Und ich dir auch nicht“, erwiderte sie ruhig und, tja, vielleicht freundlich.
Tut mir leid. Ab diesem Moment wieder Filmriss. Ich bilde mir aber ein, dass hier ein wohltuendes Schweigen einsetzte, selbstverständlich mit einem Schuss Traurigkeit gespickt. So ist es immer, wenn einer das Handtuch wirft.
Heute denke ich, dass mein ehrliches Bekenntnis die einmalige Gelegenheit gewesen wäre, neu anzufangen. Doch dazu war ich nicht fähig. Sie offenbar auch nicht.
Wir wären bestimmt ein hübsches Pärchen geworden. Aber das Leben hatte mit Leslie und mir anderes vor. Bedenken Sie die Konsequenzen, wenn wir damals als humorvolle Geliebte engumschlungen durch die Straßen Queens still und vertraut geschlendert wären. Es gäbe, zum Beispiel, heute vielleicht keinen Sprachbloggeur! Kann man nie wissen. Und womöglich hätte ich heute auch keine Probleme mit dem Server.
Aufwachen! Wir schreiben das Jahr 2011, lieber Sprachbloggeur, und sic transit gloria mundi, so vergeht der Ruhm der Welt.
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