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Ludwig Reiners „Stilkunst“ – oder „Stehlkunst“?

Ich kannte den Namen Ludwig Reiners nicht.

Anders meine Frau. Als ich mit einem Exemplar seiner „Stilkunst“ nach Hause kam, jauchzte sie: „Ach! Ludwig Reiners’ ‚Stilkunst’.“

„Kennst du den?“

„Natürlich. Kennt jeder.“

Ich habe mein Exemplar antiquarisch erstanden, es hat drei oder vier Euro gekostet: ein hübscher Einband aus dem Jahr 1961, beim Beck’schen Verlag erschienen. 2004 wurde das Buch zum (bisher) letzten Mal (so weit ich weiß) bei Beck neu verlegt. Reiners selbst (geb. 1896) hat den fortdauernden Erfolg seines Buches nicht mehr erlebt. Er starb 1957.

Es hat ihm jedenfalls nie an namhaften Bewunderern gefehlt – zum Beispiel dem Lyriker – Eugen Roth, der auch sein Freund war. Auch Wolf Schneider, heutige Stilpapst aller deutscher Muttersprachler, hat seine Begeisterung für den beliebtenVorgänger schriftlich kundgetan.

Die freundliche Aufnahme ist verständlich – auch wenn der Autor der „Stilkunst“ manchmal komische Dinge behauptet, zum Beispiel: „Den aufgelockerten Stil Heines schreibt heute jeder mittlere Journalist“. Dennoch mag man den skurrilen Charmebolzen. Das Buch strotzt vor erbaulichen (und lustigen) Beispielen und Zitaten, die den guten Stil untermauern. Ja, ich habe mich meines Zufallskaufs sehr gefreut und habe, neugierig wie ich bin, den Namen sofort gegoogelt, um mich über den Autor ein bisschen zu informieren. Schade.

Denn gleich erfuhr ich, dass Reiners einen ganz anderen Lebensweg beschritten hatte, als ich es mir erträumt habe. Ich habe ihn nämlich als humorvollen und gelehrten Literaturwissenschaftler vorgestellt. In Wirklichkeit war er Kaufmann (an der Börse, in der Schweinindustrie usw.). Doch warum auch nicht? Um eine Stilfibel zu verfassen, braucht man keinen akademischen Grad. Eine Liebe zu und Gefühl für Sprache und natürlich die Fähigkeit, diese Talente spannend zu vermitteln, reichen allemal. Der große amerikanische Lyriker Wallace Stevens war Jahrzehnte lang bei einer Versicherungsgesellschaft als Erbsenzähler tätig.

Zugegeben seine Mitgliedschaft bei der NSDAP (seit 1933) machte mich ein bisschen stützig. Aber auch das schien mir nicht weiter tragisch. Poet Günter Eich war ebenfalls Parteimitglied, und Günter Grass diente als Jüngling, wie jeder weiß, in der SS. Es war halt die Zeit…

Kurzer Themenwechsel. Die Chancen, dass Ihnen der Name Eduard Engel (geb. 1851) geläufig ist, sind äußerst gering. Ich kenne ihn, weil ich sein Buch, „Deutsche Stilkunst“ lange besitze. Dieses Werk erschien 1911 zum ersten Mal. Engel, ein beachtungswerter Sprach- und Literaturwissenschaftler, thronte einst als großer Kenner der deutschen Sprache und Kultur. Seine „Stilkunst“ erlebte bis 1931 31 Auflagen. (Mein in Fraktur gedrucktes Exemplar stammt aus der 17. Auflage). Zwanzig Jahre war der beredsame deutschnationale Engel der Stolz seines deutschen Vaterlands. Leider besaß er einen kleinen dafür aber verhängnisvollen Schönheitsfehler: Er war Jude – wenn auch kein praktizierender.

Für die Nazis dennoch ein Horror, einen jüdischen „Sprachpapst“ feiern zu lassen. Seine vielen Werke – darunter seine „Stilkunst“ – wurden alsbald verboten und eingestampft. Engel starb 1938 verarmt und von der jungen Generation schnell vergessen.

Nicht allerdings von seinem jungen Bewunderer Ludwig Reiners…und jetzt ahnen Sie schon, wohin die Reise führt. 2004 veröffentlichte der Schweizer Philologe Stefan Stirnemann in der Zeitschrift „Kritische Ausgabe“ einen Aufsatz mit dem Titel: „Ein Betrüger als Klassiker: Eduard Engels ‚Deutsche Stilkunst’ und Ludwig Reiners“. Stirnemann ist überzeugt, dass Reiners „Klassiker“ ein reines Plagiat ist. Zitat Stirnemann: Reiners „schrieb ab und um“. Mitunter kopierte er, manchmal mit Fehlern, den reichen Vorrat an Beispielen und Zitaten aus dem Engel-Buch. 1943 – in diesem Jahr erschien Reiners’ Klassiker – wäre diese Fleißarbeit ohne Weiteres möglich, zumal Engels Werk längst von der Bildfläche verschwunden war. Ich werde an dieser Stelle nicht von Stirnemann abschreiben. Wer sich für die Details interessiert, findet sie, zum Beispiel, bei Wikipedia unter Stichwort „Reiners“ bzw. „Engel“. Übrigens: Eugen Roth hat seinen Freund Reiners einmal richtigerweise als „Feierabend- und Sonntagsschreiber“ bezeichnet. Er meinte es allerdings als Kompliment.

Mich hat es allerdings gewundert, wie schnell Engel in Vergessenheit geraten war. So schnell vergeht der Ruhm. Vielleicht war die Ursache – neben dem Verbot der Nazis – die Tatsache, dass seine Bücher in Fraktur erschienen. Nach dem Krieg kannten nur noch Spezialisten den Namen Eduard Engel.

Ich weiß nicht, warum ich hier diese Geschichte erzähle. Irgendwie tun mir beide leid: der einer weil ihm seine literarische Stimme geklaut wurde, der andere, weil er an einer verhängnisvollen Charakterschwäche litt.

Urteilen Sie aber selbst. Lesen Sie den erwähnten Stirnemann-Aufsatz (einen zweiten Text, „Ich habe gemacht ein feines Geschäft“, wurde 2007 in der NZZ veröffentlicht). Im Internet findet man – fast – alles.

PS Mein Serverleiden ist noch nicht zu Ende. Nur Geduld, sage ich Ihnen. Nur Geduld, sage ich mir. Zuallerletzt stirbt die Hoffnung.

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