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Bekenntnisse eines E-Reader-Süchtigen

Nun wird es endlich still um Günther Grass, und auch die Salafisten geben momentan Ruhe. Erstaunlicherweise hat sich die Häme – und die Schadenfreude – über das Absetzen von Thomas Gottschalk in Grenzen gehalten. Gut so. Sonst hätte ich ihn in Schutz genommen (obwohl er seine Seele längst an die Werbebranche verkauft hat – aber wer ist halt perfekt?).

Abgesehen von einem Börsencrash, einem knallenden Meteor über den westlichen USA, Mordlust in Syrien und schon wieder Malware im Iran scheint die Welt heute ziemlich ruhig zu sein.

Eine nette Gelegenheit also, um über meine neue Sucht zu berichten. Ja, ich bin E-Bookaholiker geworden.

Auch meine Frau leidet an dieser Krankheit. Gleiches gilt, denke ich, für Freund Nick (Name verfälscht). Er hat mir neuerdings mitgeteilt, dass er bereits 200 Bücher auf seinem „Reader“ hat.

„Es verändert deine Lesegewohnheiten vollständig“, sagte er. „Man liest mehrere Bücher gleichzeitig.“

Nick hat recht. Zwar besitze ich „nur“ etwa 90 Stück. (Was heißt 90? Manche sind Gesamtwerke!) Ich stelle aber fest, wie ich zwanghaft vom Buch zu Buch springe – wie einer, der mehrere Pralinenschachteln zum Geburtstag bekommen hat. Und das Lesegerät weiß jedesmal, wo ich jeweils zu lesen aufgehört habe. Kluger E-Reader!

Neunzig Bücher. Damit habe ich mich bereits mit Lektüre für mehrere Jahre abgedeckt, gesetzt den Fall, ich würde alles durchlesen. Und das Schöne: Das meiste bekam ich kostenlos! Zugegeben: Für manches habe ich einen Euro bezahlt. Doch bisher habe ich nur zwei oder drei Bücher gekauft, die um die zehn Euro kosteten.

Wer kann es widerstehen? Das gesamte Sherlock Holmes für Pfennigbeträge. Oder das gesamte Kafka. Meine Frau hat sich Dickens für einen Apfel und ein Ei geschnappt. Nick liest lieber die Philosophen. Adorno hat er kostenlos bekommen. Und Heidi (Name verfälscht), eine alte Freundin meiner Frau, schaut jeden Tag nach Sonderangeboten. Sie mag aber am liebsten die Krimis.

Zur Erinnerung: Als die ersten CD-Spieler auf den Markt kamen, war es ähnlich. Man hat vieles spottbillig erhalten. So ist es beim Marketing. Man muss den Kunden erst ködern.

Doch das E-Buchphänomen ist anders als das CD-Geschäft: CDs konnte man auf beliebigen Abspielgeräten lauschen. E-Bücher sind Gerätehersteller-abhängig. Amazon, Sony, Barnes and Nobles verkaufen E-Bücher, die nur auf dem eigenen Reader lesbar sind. Kein Wunder, dass gewiefte Hacker Software entworfen haben, um die Codes zu knacken, damit jedes Buch auf jedem Reader zu schmökern ist. Gäbe es diese Programme nicht, wäre es schier unmöglich, Ein „Buch“ einem zweiten Leser„auszuleihen“.

Stellen Sie sich eine fünfköpfige Familie vor. Drei aus dieser Familie möchten dasselbe E-Buch lesen. Dies wäre mit einer Kopie des E-Buches nur möglich, wenn einer dem anderen das Lesegerät, worauf das Buch gespeichert ist, in die Hände gäbe. Nur: Ein Lesegerät enthält unter Umständen eine ganze Bibliothek. Wie kann man das „Buch“ ausleihen, wenn man gleichzeitig ein anderes „Buch“ auf dem Reader lesen will? Fazit: Man bräuchte mehrere Lesegeräte und den gleichen Titel mehrmals, sollten alle gleichzeitig das Buch lesen können. Ohne Hacker-Software freilich ein Alptraum.

Gegenwärtig jedenfalls möchten uns Amazon, B&N, Sony usw. erst auf den Geschmack bringen, was natürlich unbedingt mit Vorteilen verbunden sein muss. Man will uns also erst süchtig machen, den Sammeltrieb durch günstige Angebote erwecken. Erklären Sie mir bitte, wie man die Versuchung widerstehen kann?

Dazu spart man Platz. Schon lange höre ich, dass Adalbert Stifter tolle, langsam zu lesende Büchergenüsse geschrieben hat. Es sind aber dicke Wälzer, nehmen viel Platz auf dem Bücherregal. Für mich wieder ein Vorteil, sie elektronisch zu besitzen.

Aber was ist, wenn wir eines Tages nur noch E-Bücher zu lesen bekommen? Werden Sie vielleicht teurer? Wird manches nicht mehr gedruckt, um dann ganz vom Radarschirm zu verschwinden? Befinden wir uns an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Literatur, das zu einem radikalen Aussortieren des Vorhandenen führen wird, wie einst nach dem Zusammenbruch Roms in den Klöstern geschah?

Heute ist das mir schnurzegal. Ich möchte lieber raffen, raffen raffen, so lange es noch geht. Ich heiße der Sprachbloggeur und bin E-Bookaholiker.

Lies!

Hand aufs Herz. Was sagt Ihnen obiges Titelwort? Es lässt sich nämlich – meiner Meinung nach – in unserer multikulturellen Umwelt zweierlei deuten. Gestern stellte ich A. diese Frage. Sie antwortete spontan: „Na, ganz klar. Das ist vom Wort ‚lesen‘. Man wird aufgefordert, etwas zu lesen.“

A. hat recht. Es handelt sich tatsächlich um die Befehlsform des Verbs „lesen“.

Aber nicht nur: Das Wort könnte ebenso die Mehrzahl des englischen „lie“, also „Lüge“ sein.

Ich komme darauf, weil ich vor ein paar Tagen im Spiegel-Online auf ein Foto stieß, worauf ein bärtiger Mann mit Kopfbedeckung und loser, weißer Bekleidung dargestellt wurde. Er stand neben einem Poster, auf dem in großen Buchstaben das Wort „Lies!“ zu sehen war.

Man erkennt ihn vermittels seiner Kluft als „Islamist“. Ein komisches Wort, mit dem ich mich lange nicht angefreundet habe. Sagt man „Christist“? Besser wäre, ihn als „islamischer Fundamentalist“ zu bezeichnen. Auch christliche, jüdische, Hindu usw. „Fundamentalisten“ gibt es.

Den Begriff „Fundamentalist“ versteht ohnehin jeder. Es sind Menschen, die ihre heiligen Bücher sehr wörtlich deuten.

Aber zurück zum Poster. Ich sah einen Menschen, der mir zweifelsfrei als islamischer Fundamentalist vorkam, neben einem Poster stehen, auf dem das Wort „Lies!“ zu lesen war, und ich habe das Wort als englische Vokabel verstanden. Er will sich gegen die Lügen der westlichen Zivilisation auslassen, dachte ich. Tja. Wäre nichts Neues.

Ich bin wie viele Menschen, die in einer fortschrittlichen Schreibkultur groß geworden sind. D.h.: Ich lese das Kleingedruckte allzu selten. Nur das groß gedruckte „Lies!“ machte auf mich Eindruck. Erst im Nachhinein las ich die Nachrichtenüberschrift oberhalb vom Bild. Es ging darum, dass Salafisten diverse Journalisten bedroht hätten. Die Gründe dafür waren in der Überschrift nicht klar ersichtlich. Ich klickte also neugierig auf den Hypertext, um mehr im Artikel zu erfahren. Nun las ich, dass diese sogenannten „Salafisten“, also „Fundamentalisten“, dabei waren, 25 Millionen Ausgaben des muslimischen heiligen Textes, des Koran, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz unter das Volk zu bringen und dass sie Journalisten, die dieses Vorhaben kritisierten, bedroht hätten. Eine beachtliche Bücherauflage, dachte ich. Über die Qualität der Übersetzung und über die Kommentare weiß ich freilich nichts.

Erst jetzt schaute ich etwas genauer auf das Bild, und endlich visierte ich das Kleingedruckte. Der Gesamttext lautete: „Lies! Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat.“ Aha! dachte ich. Denn es fiel mir nämlich ein, dass ich dieses Zitat irgendwoher kenne. Schnell schlug ich in meiner Koranausgabe nach und wurde fundig: Es handelt sich um ein Zitat aus Sura 96, einer der kürzesten Suren in dem Buch. Falls Sie es nicht wissen: Der Koran ist nach der Länge der Abschnitte (genannt „Suren“) und nicht nach Thematik oder Chronologie organisiert. Die kürzesten Abschnitte befinden sich also am Schluss. Sura 96 gehört übrigens zu den zeitlich frühesten Texten dieser Sammlung und wird oft mit einer netten Legende in Zusammenhang gebracht, die besagt, dass der Engel Gabriel (in der arabischen Sprache „Dschibril“ genannt ) Muhammed aufgefordert hat zu lesen. Damit ist gemeint, er sollte seine Texte laut vortragen. Muhammeds schüchterne Antwort laut der Legende: „Ich kann aber nicht lesen“, eine Repartie, die an Mose erinnert, der, als er den göttlichen Befehl bekam, Pharao nahezulegen, die hebräischen Sklaven zu befreien, antwortete, er sei kein Redner.

Wie dem auch sei. Eine nette Geschichte, und auf sie wird womöglich das „Lies!“ auf dem Poster dieser Koranverteilenden bezogen.

Dennoch meiner Meinung nach eine ungünstige Textauswahl für die Werbung. Und zwar deswegen, weil diese Fundamentalisten an den Büchertischen durch ihre Bekleidung ausgesprochen fremdartig wirken. Somit kann man aus der Ferne, die Aufforderung zum Lesen leicht in die falsche Kehle bekommen, so wie es mir passiert ist.

Glauben Sie mir: Ich stehe nicht allein da mit diesem Gedanken. Ich kenne auch andere, die den gleichen Fehler gemacht haben wie ich. Hätten die Fundamentalisten ein lokal angepasstes Aussehen gehabt, würde man nie auf diese Doppeldeutigkeit kommen. So schnell entstehen die Missverständnisse auf dieser Welt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Kritik gilt nur der Möglichkeit, dass man diesen Poster aus der Ferne falsch deuten könnte. Gegen die Verteilung von Korantexten habe ich hingegen grundsätzlich keine Einwände und freue mich darauf, im Namen der Gleichberechtigung auch mal Bibel in Saudi Arabien, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Jordanien usw. zu verteilen.

In den Grass beißen – oder heute das (hoffentlich) letzte Wort zu einem leidigen Thema

Schulze: Nein, er ist ein Vollidiot! Diese letzte Tinte, von der er redet, ist die eines Demenzkranken.

Schultze: Im Gegenteil, er hat nur das gesagt, was gesagt werden muss. Er hat ein Tabu gebrochen.

Schulze: Was gesagt werden muss? Gesagt wird es seit Jahren beinahe täglich. Tabu gebrochen! Er hat lediglich eine Lanze gebrochen – und zwar in eigener Sache.

Schultze: Verstehst du nicht? Er hat alles aufgemischt. Alles. Ich finde das geradezu genial.

Schulze: Was heißt aufgemischt? Er hat sich nur selbst in Szene gesetzt, weil, es zu lange um ihn still geworden war. Das ist vielleicht genial.

Schultze: Du hast keine Ahnung. Der Weltfriede ist so brüchig wie lange nicht mehr. Er hat sich, koste, was es wolle, aufgeopfert, um auf die dringenden Probleme wieder aufmerksam zu machen.

Schulze: Man ahnt, dass er auf einer Nebenstraße gelandet ist, wenn die Ostermarschierer seine Sprüche zum Fanal machen. Man kann es beinahe als Naturgesetz formulieren: Diese sogenannten Friedensaktivisten machen fast immer die Falschen zum Feindbild. Wo in aller Stille wirklich abgeschlachtet wird, da schauen diese Weicheier stets in die andere Richtung.

Schultze: Ich weiß, worauf du hinauswillst: Du willst nur ablenken. Sein Gedicht ist ein Meisterwerk. Nur Snobs wie du lästern, dass es kein Gedicht ist, sondern Sätze aus einem Leserbrief, die er willkürlich in Verszeile und Strophen eingeteilt hat. Ist es dir nicht klar, wie egal das ist? Es geht um die Wirkung.

Schulze: Was für Wirkung? Wer mit ihm einer Meinung ist, fühlt sich lediglich in der eigenen Meinung bestätigt. Mit diesem populistischen Machwerk spricht er höchstens die Stammtische an.

Schultze: Eben nicht. Er hat die Grundlage für einen neuen Dialog ins Leben gerufen. Inzwischen redet man auf der ganzen Welt darüber. Das kann nicht jeder. Hut ab.

Schulze: Und was wird das Ergebnis sein? Hat er Meinungen geändert? Mitnichten. Einzig hat er manche Leute dazu provoziert, eigene Dummheiten von sich zu geben. Lob von Extremisten und Idioten. Und ich gebe zu: Das mit der persona non grata ist ja auch wenig hilfreich.

Schultze: Vielleicht war das Provozieren doch sinnvoll.

Schulze: Wenn du das als sinnvoll bezeichnest, dann hat gar
nichts mehr einen Sinn. Verstehst du nicht, was du behauptest?

Schultze: Bitte, erzähle…

Schulze: …dass er mit seinen dummen Sprüchen in der Lage ist, neue Dummheiten hervorzurufen. Das kann also nur heißen, dass Dummheit Dummheit erzeugt und nie und nimmer in der Lage sein wird, wirkliche Probleme zu lösen.

Schultze: Du deutest die Sache sehr einseitig, mein Lieber.

Schulze: Nein, im Gegenteil. Du deutest sie einseitig. Und die

Zeitungen, die diese Dummheit kommentarlos veröffentlichten, hatten ohnehin kein Interesse, eine vertrackte Lage zu entwirren. Es ging schlicht und einfach darum, die Auflage in die Höhe zu schnellen.

Schultze: Du bist ein Dummkopf.

Schulze: Du bist ein Dummkopf.

Schultze: Warum willst du mich nicht verstehen?

Schulze: Warum willst du mich nicht verstehen?

Schultze: Habe ich dich nicht überzeugt?

Schulze: Habe ich dich nicht überzeugt?

Oje – der Sprachbloggeur gibt schon wieder Privates preis

Endlich habe ich es schwarz auf weiß: Zweisprachige Menschen sind offenbar doch schlauer als diejenigen, die sich mit nur einer Sprache durchschlagen.

Ich will mich keineswegs mit dieser Nachricht brüsten. Im Gegenteil. Es stellt sich vielmehr heraus, dass das, was ich jahrelang als Nachteil betrachtet habe – nämlich das endlose (und mal vergebliche) Suchen nach Wörtern, das ständig Sich-in-einem-Satz-verheddern, weil ich zwischen Redewendungen in zwei Sprachen steckenbleibe – letztendlich nur Vorteile bringt.

Ich zitiere aus einem Artikel, den ich am 20. März in der „International Herald Tribune“ entdeckte. Der (die?) Autor(in), Yudhijit Bhattacharjee zitiert wiederum einen Forscher, Albert Costa, von der spanischen Pompea Fabra Universität: „Zweisprachige müssen häufig von der einen in die andere Sprache umschalten. Das fordert eine ständige Kontrolle der Veränderungen um sich, so in etwa wie wir unsere Umwelt überprüfen, wenn wir autofahren.“

Das heißt: Wir Zwei- oder Mehrsprachige sind – notgedrungen – kontinuierlich damit beschäftigt, die Welt zu analysieren und neuzuordnen.
Noch ein Vorteil dieser bisweilen anstrengenden Umschaltung sei offenbar eine reduzierte Anfälligkeit für Alzheimer und sonstige Demenzkrankheiten. Schön wäre es. Leider kenne ich genügend Mehrsprachige, die in geistige Umnachtung versunken sind. Aber egal.

Doch nicht wegen all dieser Vorteile bin ich zweisprachig geworden, sondern weil ich bereits als Kind bewusst nach der Entfremdung gesehnt habe. Achtung Psychologie-Interessierte! Hier gilt es genau hinzuhören. Der Sprachbloggeur wird heute leichtsinnig und enthüllt seine Geheimnisse.
Jawohl: Als Kind sehnte ich danach, eine Welt zu bewohnen, wo man eine Sprache sprach, die völlig anders war als das mir heimische Englisch (bzw. Amerikanisch). Ich stellte mir eine Sprache vor, bei der jedes Wort einen anderen Klang hatte als in meiner Muttersprache.

So betrachtet, war Deutschland nicht unbedingt die klügste Wahl, um diesen Wunschtraum zu erfüllen, zumal es in diesen beiden germanischen Sprachen, Englisch und Deutsch, so unglaublich viele etymologisch verwandte Wörter, gibt. Etwa: „bring“/ „bringen“, „see/ „sehen“, „head“/ „Kopf“ (nur ein dummer Witz) und ebenfalls so viele „false friends“. Sie wissen schon: „mist“ und „Mist“, „fiend“ und „Feind“, „eventual“, „eventuell“ usw. Das Denglische nicht zu vergessen. Besser wäre es gewesen, wenn ich mich ins Chinesische oder ins Ungarische eingetaucht hätte. Tja.

Ich weiß nicht, warum ich von dieser Sehnsucht nach der Fremde so besessen war. Die Antwort auf diese Frage überlasse ich gern den Hobbyanalytikern.

Ich träumte ebenfalls davon als Jugendliche, in der Fremdsprache zu schreiben. Ja, das Schreiben ist bei mir eine alte Sucht. Mit sechszehn hatte ich schon ein kurzes Theaterstück auf Französisch geschrieben – es war natürlich sehr existentialistisch oder absurdistisch formuliert. Warum in der Fremdsprache? Damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Heute schon.

Es war (und ist) mir wichtig – hören Sie genau zu, liebe Psychologen – es war (und ist) mir fast ein Leben lang ein Bedürfnis, mich durch das Schreiben als Fremden zu erleben. Somit gewinne ich die Perspektive eines Außenstehenden oder vielleicht besser, eines Entwurzelten. Denn ich war (und bin) überzeugt, dass ich als Außenseiter die Welt viel genauer beobachten und veranschaulichen konnte (kann). Das kann man meines Erachtens am besten in einer Fremdsprache! Und noch dazu: Wenn man in der Fremdsprache schreibt, verliebt man sich in die eigene Formulierungskunst nicht so leicht. Man schreibt also keine aufgetakelten Sätze – weil man das nicht kann! Man ist froh, wenn die Sätze wenigstens einigermaßen korrekt sind.

Alles klar? Mir nicht ganz. Denn im vorigen August geschah Sonderbares: Ich verspürte eines Tages ganz plötzlich den Drang Lyrik zu schreiben – und zwar in meiner Muttersprache. Ich sollte Ihnen vielleicht erklären, dass mir als Schriftsteller die Lyrik stets meine erste Liebe war, und ich habe Lyrik jahrelang geschrieben, d.h., bis 1986. Dann passierte es auf einmal, dass ich nicht mehr wollte. Mir kam die Lyrik sinnlos vor. Lyrik habe ich übrigens ausschließlich auf Englisch geschrieben. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ein Gedicht auf Deutsch zu formen. Komisch. Nicht wahr?

Unerwartet hat es mich im August 2011 überwältigt, regelrecht umgehauen. Die Lyrik stieg aus mir hinauf wie das Magma aus dem Vulkan. Ein dringendes Bedürfnis, ein sehr befriedigendes Bedürfnis, möchte ich betonen.

Inzwischen weiß ich Folgendes: Dieser Schriftsteller will unbedingt in zwei Sprachen schreiben: weil jede Sprache andere Bedürfnisse erfüllt. Wenn ich Deutsch schreibe, bin ich der neugierige Außenseiter, der bemüht ist, die Welt von außerhalb zu umfassen. Wenn ich hingegen meine englischsprachige Lyrik schreibe, werde ich selbst zum Ausdruck dessen, was es zu umfassen gilt. Ende der Enthüllung.

Hier Wichtiges über Ihre Nase!

Wissen Sie was ein flehmendes (nein, kein flämmendes) Pferd ist? Vielleicht wird es Sie trösten, falls Sie dieses Wort nicht kennen, dass mein Duden Universalwörterbuch und auch mein Grimm ebenso ratlos sind.

Nur im Großen Duden und natürlich im Internet bin ich fündig geworden.

Nicht nur Pferde, sondern Kamele, Hunde, Ziegen und vielleicht auch Menschen flehmen – allerdings nur die männlichen.

Aber zur Sache: Wenn Tier (oder Mensch) die Oberlippe nach oben zieht, um das Weibchen (bzw. Frau) präziser zu beriechen, dann flehmt es (bzw. er). Wenn der Hengst sie anflehmt, so weiß die Stute, dass er sein unmittelbares Interesse zeigt. So gesehen, ist das Flehmen ein wichtiges Signal bei der Paarung.

Ich bin erst am Wochenende auf dieses Wort gestoßen, als ich zufällig in einem Buch „Wie riecht Leben“ zu lesen begann. Bald hat mich die Lektüre gefesselt. Den Autor, Walter Kohl, hat ein ungewöhnliches und eigentlich schreckliches Schicksal ereilt: Bei einem Fahrradunfall ist er mit dem Gesicht gegen den Asphalt geknallt und hat sich dabei mehrere Schädel- und Gesichtsknochen zerschmettert. Das Resultat: Er ist seitdem nicht mehr in der Lage Gerüche wahrzunehmen.

Vielleicht denken Sie, dass hier „schreckliches Schicksal“ übertrieben klingt, um Kohls Unglück zu beschreiben. Dem Autor zufolge mit Sicherheit nicht. (Herr Kohl muss übrigens auch mit einem zweiten Schicksalsschlag fertigwerden: Er hat nämlich den gleichen Namen wie der Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Auch dieser Walter Kohl ist Schriftsteller. Man bringt die zwei Personen ganz leicht durcheinander, wenn man nicht aufpasst. Der Autor des „Wie riecht Leben“ ist jedenfalls Österreicher, sein Namensvetter Deutscher).

Doch wie riecht Leben? Wer riechen kann, so Herr Kohl, stellt sich diese Frage nie. Er kann sich jederzeit ans Flehmen machen und die unterschiedlichen Düfte und üblen Gerüche des Lebens zelebrieren.

Man ahnt nicht, wie sehr wir vom Riechen abhängig sind, so Kohl. Wer nicht riechen kann, weiß nicht, ob sein Hemd stinkt, ob die Wurst verdorben oder die Gasleitung leck ist. Durch Walter Kohl habe ich erfahren, wie sehr der Anbandelprozess von kaum wahrgenommenen Duftmolekülen abhängt. Man liebt also durch die Nase. Manche wollen aber können nicht, sagt der Autor, er kann aber seit dem Unfall will nicht.

Kohl drückt in diesem eloquent geschriebenen Buch ein sehr privates Leid aus. Um die Folgen seiner Behinderung zu veranschaulichen, fordert er die Riechenden dieser Welt heraus, ihm beizubringen, wie man einem Nichtriechenden Gerüche und Düfte erlebbar macht. Natürlich eine Fangfrage, so wie wenn man dem Blinden Farben beschreiben will.

Ich denke, dass diese schwierige Aufgabe nur mithilfe eines Parallelsystems möglich wäre: zum Beispiel Duftnoten als Farben zu beschreiben. So könnte man dann sagen: „Stellen Sie sich vor, dass rot, grün und orange - alle etwas aufgewärmt – durch Ihre Nase flössen. So riecht ein Sommertag auf der Wiese.“

Ich gebe zu. Der Vergleich hinkt gewaltig. Immerhin bietet er eine Art sinnliches Erlebnis.

Und dann sollte man die Phantomgerüche erwähnen. Die Nase bildet sich ein, dass sie etwas gerochen hat. Das ist wie die Phantomschmerzen der Beinamputierten. Phantomgerüche stinken übrigens.

Ja, schrecklich, wenn man nicht riechen kann, und trotzdem zählen wir Menschen nicht zu den Geschöpfen mit dem besten Riecher. Hunde und diverse Insekten sind uns diesbezüglich haushoch überlegen. Dafür – das habe ich neulich irgendwo gelesen – gelten wir als das Lebewesen mit dem ausgefeiltesten Geschmackssinn. Nur wir werden zu Feinschmeckern. Hund und Co. verschlingen ihren Fraß ohne ästhetischen Genuss. Der Geschmack interessiert sie gar nicht. Hauptsache die Menge stimmt.

Kein Trost für Herrn Kohl. Denn leider ist der feine Geschmackssinn eines Menschen völlig vom Geruchssinn abhängig. Ohne Nase kann die Zunge lediglich süß, sauer, bitter, und salzig unterscheiden. Wenn Herr Kohl Schokolade isst, weiß er nur, dass sie süß ist.

Walter Kohl hat recht. Ein Leben ohne Düfte bedeutet große Entbehrungen. Es handelt sich hier um einen Verlust, der weitgehend unbekannt und unterschätzt ist.

Der Autor behauptet übrigens, dass er seit seinem Unfall viel Leidenschaft und auch viel von seiner sprachlichen Fähigkeiten eingebüßt habe. Das nehme ich ihm allerdings nicht ab. Wenn Sie ein leidenschaftliches und sprachbewandertes Plädoyer für den Sinn des Geruchssinnes lesen möchten, dann bitte schön dieses Buch. Man lernt endlich bewusst zu flehmen und angeflehmt zu werden.

Justin Bieber als Geschäftsmodell

Wurm: O Herr, bitte nicht!

Vorstandsvorsitzender: Winden Sie sich nicht so, Wurm! Außerdem sitzt die Perücke falsch. Jetzt in die Stirn verschieben. Ein bisschen nach links, damit sie apart und frech aussieht.

Wurm: Die juckt mich aber.

Vorstandsvorsitzender: Wens juckt, der kratze sich. Seien Sie nicht so narrisch. Konzentrieren Sie sich. Es ist ohnehin nur ein kurzes Video. Und dazu braucht man keine teure Perücke. Also packen Sie die Gitarre, als würde es Ihnen Spaß machen zu singen.

Wurm: Ooooo.

Vorstandsvorsitzender: Was ist also jetzt?

Wurm: Nichts. Ich habe nur geübt.

Vorstandsvorsitzender: Es heißt aber nicht „Ooooo“ sondern Eiiii, und zwar achtmal infolge.

Wurm: Eiii eiii eiii eiii eiii!

Vorstandsvorsitzender: Das waren nur fünfmal. Mit Gefühl, verdammt noch mal. Mit Gefühl. Denken Sie daran, dass unsere Zukunft, besser gesagt, Ihre Zukunft, von diesem Moment abhängt. Und nicht vergessen, schön flott singen: „Me plus you, I’ma tell you one time“. Und zwar zweimal. Stets heiter! Also one, two three:

Wurm: Eiiiiii! Mi plass ju, eima tell ju wann teim. O Herr, muss das sein?

Vorstandsvorsitzender: Jammern Sie nicht so elend daher. Außerdem klingt Ihr Englisch erbärmlich. Haben Sie mir nicht versprochen, Sie würden den Text auswendig und perfekt lernen? Das ganze war ohnehin Ihre Idee.

Wurm: Meine Idee?

Vorstandsvorsitzender: Jawohl. Haben Sie das schon vergessen? Setzt bei Ihnen wohl die Altersdemenz ein? Sie waren es, der mir endlos vom Erfolg diesen Justin Bieber vorgeschwärmt haben. „So jemanden bräuchten wir, um den Umsatz ein bisschen in die Höhe zu zwicken.“ Das haben Sie gesagt. Ich zitiere wörtlich.

Wurm: Aber ich habe es anders gemeint.

Vorstandsvorsitzender: Wie dann anders? Dass er für uns Texte schreibt? Das ist ein Knabe, war nie auf der Journalistenschule. Nur Mädchen, Mütterchen und Päderasten stehen auf ihn. Denken Sie daran: Wir möchten mit Ihrem Auftritt ein ganz anderes Publikum becircen.

Wurm: Aber warum muss ich dieses dämliche Kostüm anziehen? Ich bin schon 55 Jahre alt.

Vorstandsvorsitzender: Was? Schon so alt? Wir müssen bald an die Frührente denken, mein lieber Wurm. Allmählich glaube ich, Sie haben aufgehört, kreativ mitzudenken. Wozu bezahle ich Sie denn? Wir sind Medientiere. Wer nicht untergehen will, der darf das Querdenken nicht verlernen.

Wurm: Habe ich Ihnen aber nicht die Idee gegeben, alle Journalisten zu kündigen und nur die alten, recycleten Texte zu drucken?

Vorstandsvorsitzender: Ja, das war ja vielleicht keine so schlechte Idee. Allerdings nicht ganz durchdacht. Leider. Und nun werden wir von allen Seiten wegen Verletzung der Urheberrechte verklagt – obwohl wir unsere Autoren damals dazu zwangen, Knebelverträge, in denen sie ihre Urheberrechte abtraten, zu unterschreiben. Sie lassen einfach nach, Wurm. Ich bin aber gnädig. Das wissen Sie. Deshalb bekommen Sie heute Ihre letzte Chance. Wir werden den Song in YouTube uploaden. Wird er zum Hit, dann sind Sie gerettet. Sonst…

Wurm: Eiii eiii eiii eiii eiii eiii eiii eiii!

Vorstandsvorsitzender: Sehr schön. Diesmal haben Sie’s mit Gefühl gesungen. Wer braucht so einen Justin Bieber? Man hat lediglich das Geschäftsmodell nötig, mein lieber Wurm.

Scharfe Wörter aus meinem Giftkabinett

Heute möchte ich ein Exempel statuieren. Nein, falsch. Ich möchte die Probe aufs Exempel machen. Nein auch das nicht.

Heute möchte ich Intimes preisgeben.

Als ehrgeiziger Fremdsprachler war ich schon immer bestrebt, Ihre deutsche Muttersprache so zu beherrschen, dass meine Identität als Ausländer (zumindest in der Schriftsprache) akzentfrei erscheint. Als Messlatte für die Realisierung dieses ersehnten Zustands hatte ich zwei coole Redewendungen „Exempel statuieren“ und „die Probe aufs Exempel machen“, ausgewählt. Wenn ich in der Lage bin, diese unauffällig in einem Satz unterzubringen, habe ich‘s mir jedenfalls eingebildet, so als würde ich einfach „der Kaffee ist kalt“ oder „keiner mag Ungeziefer“ über die Lippen bringen, dann wüsste ich: Ich bin so weit.

Und es fällt auf, wie behände ich mit Ihrer Sprache umgehe – fast wie der Töpfer mit dem nassen Ton. Oder? Nein, im Gegenteil. Inzwischen weiß ich, dass mein Ziel in weiter Ferne liegt. Mir ist nämlich klar: Für manche Vokabeln dieser deutschen Sprache habe ich nach wie vor ein taubes Ohr. Damit meine ich: Es gibt gewisse Wörter, deren Sinn meiner Aufnahmefähigkeit entgehen. Es schmerzt mir sehr, dies eingestehen zu müssen.

Hier möchte ich Ihnen manche der schlimmsten aus meinem privaten Wörtergiftschrank vorstellen.

Zum Beispiel: „indes“ und „indessen“. Ich wäre so froh, wenn ich dieses konträre Zwillingspaar selbstbewusst und unzögerlich in meine Sätze einbauen könnte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe „indes“ schon öfters in Sätzen geschrieben. (An „indessen“ wage ich mich gar selten heran!) Machen Sie selbst die Probe aufs Exempel: Googeln Sie die Stichworte „Sprachbloggeur“ und „indes“. Sie werden mehrere Beispiele meines Wagemutes entdecken. Trotzdem fühle ich mich jedesmal unwohl dabei.

Noch schlimmer ist indes jene schreckliche Vokabel „nachgerade“. Mit Verlaub: Wann haben Sie, liebe Muttersprachler, zum letzten Mal „nachgerade“ in einem eigenen Satz verwendet? Ich persönlich habe eine richtige Phobie gegen dieses Wort. Und ich habe seinen Sinn, so sehr ich mich bemüht habe, noch nie einprägen können. Wenn ich einen fremden Satz , in dem es vorkommt, lese, muss ich es jedesmal im Wörterbuch nachschlagen. Wenn ich es selbst in einem Satz verwenden würde, käme ich mir wie ein Hochstapler vor.

Das Problem ist berechtigt. Denn „nachgerade“ hat – so Duden – zwei Bedeutungen: 1.) „nach und nach“ 2.) geradezu. Wie kann ein einziges Hilfswort zwei so unterschiedliche Bedeutungen haben?! Gleiches gilt übrigens für „indes“/“indessen“. Diese zickige Zweisamkeit drückt sowohl eine Gleichzeitigkeit wie auch eine gewisse Gegensätzlichkeit aus. Alles klar? Wie soll ein sprachgeschundener Migrationshintergründler wie ich so etwas jemals kapieren?

Und noch ein Beispiel aus dem Giftkabinett. Hier geht es um den scheußlichsten Begriff in der deutschen Sprache überhaupt: „gleichsam“. Ein tückisches Wort. Denn Jahre lang habe ich mir eingebildet, ich verstehe dessen Sinn. Für mich war es schon immer die niedliche Kusine von „gleichfalls“ oder „ebenfalls“. Ha! Heute sehe ich mich genötigt, dieses Scheißwort jedesmal nachzuschlagen. Ich merke es mir so gut wie n i e.

Denn dieses Wort bedeutet zeitgleich „sozusagen“ und „gewissermaßen“. Wie ist das möglich? Mein Hirn streikt indes, wenn ich versuche diese Frage zu beantworten. Deshalb habe ich noch nie versucht, das Wort in einen Satz einzubauen. Ja und bitte schön: Wann haben Sie es zum letzten Mal benutzt? Hmm?

Sie sehen. Heute habe ich mich nachgerade aus dem Fenster gelehnt. Indessen habe ich gleichsam meine schöne Maske der Souveränität fallen lassen. Ist doch okay. Es tut manchmal gut, Verschämtes zuzugeben. Wie soll man sonst in der Lage sein, ein Exempel zu statuieren?

Good Deutch shreiben: eine Einführung

Zeit wieder, dass der Schriftsteller aus dem beruflichen Nähkästchen plaudert.

Mir wurde neulich mitgeteilt, dass die Fehlerquote meiner Glossen in letzter Zeit merklich zugenommen hat. Das ist verständlich, zumal mein Sprachguru Ernst-Theo Rohnert im Dezember mit beinahe 97 Jahren gestorben ist. Wöchentlich hatte er mir Änderungsvorschläge und Fehlerkorrektur gemailt.

Fast jeder Schriftsteller braucht jemanden, der für ihn Korrektur liest. Denn der Buchstabencode ist eine ideale Brutstätte für Fehler. Aus Wörtern kann schnell Buchstabensalat werden. Dennoch sollte man das Problem nicht überwerten. Im Internet kursieren schlaue Botschaften über die Rechtschreibung. Wahrscheinlich kennen Sie sie schon. Da heißt es, dass man beim Lesen Fehler oft übersieht, vroasugeseztt der ertse und der lettze Buhcsatbe koerrkt geshcribeen snid. Es stimmt auch.

Zugegeben: Meine Patzer sind mit denen eines Muttersprachlers nicht immer zu vergleichen. Das liegt daran, dass man eine Zweitsprache anders einprägt als eine Erstsprache. Für manches bleibt das fremde Ohr verständlicherweise schwerhörig. Deshalb gebrauche ich bisweilen die falsche Artikelform, oder bin unsicher, ob ich „meiden“ oder „vermeiden“, „reichen“ oder „langen“, „weigern“ oder „verweigern“ verwenden soll. Manche Fehler teile ich allerdings gemeinsam mit Muttersprachlern – etwa den falschen Gebrauch des Plusquamperfekts und des Konjunktivs. Schuld daran ist aber mitunter die Evolution der Schriftsprache.

Es kann schon mal frustrierend sein, mit der eigenen Fehlleistungen schwarz auf weiß konfrontiert zu werden. „O my God“, denke ich, „schon wieder ein Fehler. Meine Leser werden mich nie ernst nehmen. Ich verfluche den Tag, an dem ich mich entschloss, in dieser Scheißsprache zu schreiben“ usw.

Keine Angst, liebe Leser. Ich habe hier nicht vor, Sie mit irgendeiner drögen Larmoyanz zu behelligen. Zumal ich inzwischen neue Erkenntnisse zum Thema Schreibfehler gewonnen habe. Ich bin nämlich dabei, mein Buchmanuskript zu bearbeiten und stelle zu meiner Überraschung fest, dass meine Patzer für die meisten Leser wohl belanglos sind.

Es handelt sich um mein Sachbuch „Kaspar Hausers Geschwister“, das 2003 zum ersten Mal erschien und Ende dieses Jahres bei dtv neu, ergänzt und völlig überarbeitet in Druck geht.

Ich erinnere mich noch an den Schock, als ich 2003 entdeckte, dass das Buch vor Fehlern nur wimmelte. Ich war entsetzt und reichte dem Verlag bei jeder neuen Auflage Verbesserungen ein. Als das Buch 2005 als Taschenbuch erscheinen sollte, händigte ich der Lektorin zwanzig Seiten mit Korrektur, die meine treue Vorlektorin Alina mühevoll angefertigt hatte. Somit wollten wir die Sünden von 2003 aus der Welt schaffen.

Leider landete Alinas Liste wohl im Papierkorb. Denn die Taschenbuchausgabe war genauso fehlerhaft wie das gebundene Buch. Doch nun schreiben wir das Jahr 2012. Alina hat sich wieder die Mühe gemacht, mir eine neue Korrekturliste zu erstellen. Ich trage die Verbesserungen diesmal selbst in das Manuskript ein.

Damit will ich sagen: Dieses Buch ist seit neun Jahren auf dem Markt und reichlich fehlerhaft. Für „erklomm“ steht, zum Beispiel, „erklimmte“, für „Nüsse knacken“ „Nüsse schälen“. Natürlich findet man auch jede Menge Artikelfehler. Wie kann das sein? Ganz einfach, weil die Verlage seit Jahren auf Sparkurs sind. Sie überlassen dem Autor die Korrektur. Oder sie verlassen sich auf primitive Korrekturprogramme.

Trotz alledem wurde dieses Buch fast immer positiv besprochen. Kein einziges Mal las ich in einer Rezension einen Hinweis auf die Schlampigkeit des Textes. Im Gegenteil. Ein Rezensent bezeichnete das Werk als „elegante Wissenschaftsprosa“. Na, was Sagen Sie dazu?

Mir fehlt Ernst-Theo sehr. Ab jetzt lernen Sie den Sprachbloggeur aber ungeschminkt kennen – mit allen Pickeln und Narben also. Um die Perfektion bemüht, stehe ich künftig unbedingt zu meinen Fehlern.

Jung sein: Drei schreckliche Geschichten

In Saudi Arabien wird der/die Delinquent/in in einem fensterlosen Mannschaftswagen zum öffentlichen Hinrichtungsort gefahren. Er/sie steigt aus, setzt sich, umringt von Schaulustigen, auf die Knie und streckt den Kopf hin. Nun schwingt der Henker den Säbel beherzt gegen den entblößten Nacken des Opfers. Nur: Er schafft es nicht immer mit einem Stoß den Kopf vom Rumpf zu trennen. Er hackt dann gleich ein zweites Mal ein und, wenn nötig, ein drittes, bis der Kopf auf den Asphalt fliegt wie ein ziellos gekickter Fußball.

So könnte es für Hamsa Kaschgari enden. Der 23jährige Saudi Journalist und Tweeter hat den Fehler gemacht, seinen gewissenhaften Zweifel an seiner Religion in drei Tweets deutlich formuliert zu haben. Entsetzen in seiner Heimat, doch es war zu spät für einen Rückzieher. Hamsa flüchtete nach Malaysia, wurde schnell verhaftet und nach Saudi Arabien ausgeliefert, wo er möglicherweise wegen Blasphemie vor einem Gericht verantworten muss.

Den Wortlaut seiner Tweets brauche ich hier nicht zu wiedergeben. Man findet ihn schnell im Internet. Hamsas Gedanken kamen mir, ehrlich gesagt, recht hilflos und harmlos vor. Es genügt daran zu erinnern, dass eine ähnliche Ehrlichkeit in früheren Jahrhunderten auch in Europa bisweilen als Kapitalverbrechen geahndet worden wäre.

An Glaubensprinzipien (an Prinzipien schlechthin) zu zweifeln war schon immer ein Zeichen, dass ein Mensch in der Lage ist, selbstständig zu denken. Allem voran ist der intelligente Zweifel eines jungen Menschen eine lobenswürdige Eigenschaft. Kaschgari ist nun mal jung, unausgegoren und hat das Bedürfnis die Dinge seiner (Um)Welt in Frage zu stellen. Man sollte das begrüßen, und man wünscht ihm einen weisen Richter.

Fall zwei: Wolfgang Haberhauffe war ein wilder Junge und lebte im Ort Kropp in Schleswig als Mündel des dortigen Pfarrers. Er war, so wurde mir erzählt, ein liebenswürdiger Lausbub. Sein Pech: Er wurde 1923 geboren, und seine Streiche rief Polizei und Gestapo auf den Plan. 1942 wurde er – nach mehreren Abmahnungen – nach Auschwitz geschickt – nicht aus religiösen Gründen, offiziell galt er als protestantisch. (Fakt ist: Er war „Halbjude“, das wusste die Gestapo allerdings nicht). Er kam also ins Stammlager (nicht also ins Vernichtungslager) als deutscher Sträfling und lebte – und wahrscheinlich arbeitete – im Block 20, dem Krankenbau. Dennoch kein Zuckerlecken. Die meisten „Kranken“ verließen das Krankenhaus sowieso nur als Leichen. Auschwitzer Effizienz halt. Der liebenswürdige Lausbub bekam sicherlich nach kurzer Zeit eine Überdosis Realität.

Am vergangenen Samstag erhielt ich Fotokopien seiner Briefe an seinen Vormund in Kropp. Es waren kurze Mitteilungen, je zwei Seiten à jeweils 15 Zeilen. Die Zeilen waren sogar vorgezeichnet. Mehr durfte man nicht schreiben, weil sich die Zensur Arbeit ersparen wollte. Man durfte ohnehin nur wenig verraten. Es gehe ihm „soweit gut“ schrieb er immer, und stets richtete er herzliche Grüße an seinen Vormund, dessen Familie und an seine Schwester aus. Er dankte auch für die Pakete, die er aus Kropp regelmäßig empfang (erlaubt waren Sendungen bis 10kg), und er bat jedesmal um neue Vorräte: „Salz, möglichst 1 kg Süsstoff, Pfeffer, Kümmel, Senf, Zwiebel, Schalotten, Knoblauch, die kleinen Maggiwürfel, Rettig, Meerrettig, Schwarzwurzeln und wenn es möglich ist vielleicht eine Fischkonserve, Brathering oder Fisch in Gelee.“

Leider half ihm diese Lebensmittel nicht in seinem Kampf ums Überleben. Wolf starb am 30. Dezember 1943, wahrscheinlich am Fleckfieber, das damals im Krankenbau grassierte. Anfang 1944 wurden seine persönlichen Sachen nach Kropp zurückgeschickt. Sein Vormund stellte fest, dass der tote Mündel den Gürtel wohl immer enger zugeschnallt hatte, soviel hatte er abgenommen.

Fall drei: New Jersey, wo 2010 für den 18jährigen Tyler Clementi ein neuer Lebensabschnitt begann. Der schüchterne dafür aber talentierte Geiger wurde Student an der Rutgers Universität. Im Studentenwohnheim wurde ihm ein Zimmer mit einem ihm unbekannten Gleichaltrigen, Dharun Ravi, zugeteilt. Dharun war neugierig zu wissen, mit wem er wohnen würde und googelte deshalb eifrig und akribisch. Dann der Hammer: Er erfuhr, dass Tyler schwul war. Schnell teilte er sämtlichen Freunden und Bekannten diese aufregende Nachricht mit.

Eine verständliche Aufregung, wenn man bedenkt, es handelt sich um ein behütetes Söhnchen mit wenig Erfahrung in der Welt. Das Alter liebt geradezu Turbulenzen. Klar, dass Dharun darüber witzelte mit seinen Freunden, ob Tyler versuchen würde, ihn heimlich in der Nacht zu verführen usw.

Die zwei wohnten bald zusammen und blieben einander ziemlich fremd. Dann passierte es: Der junge Homosexuelle, noch nicht ganz sicher im Umgang mit seiner Identität, wollte eines Nachts sein Bett mit einem Gleichgesinnten teilen. Dharun war aushäusig, wusste nur, dass Tyler „Besuch“ erwartete. Zum Spaß entschloss er sich, mit der Webcam seines Rechners die Intimitäten zu bezeugen. Die nächsten Tage wurden die Bilder überall herumgereicht. Auch auf Twitter berichtete er darüber.

Der schüchterne Tyler reagierte mit Entsetzen. Genauer gesagt: Er überreagierte und verfiel einen fatalen Kurzschluss. Er sprang vom George Washington Bridge herunter und starb.

Drei Geschichten. Vier schreckliche Schicksale. Zufällig habe ich von diesen Geschichten beinahe gleichzeitig erfahren. Junge Männer haben schon immer gefährlich oder zumindest dramatisch gelebt. Das Alter verlangt es. Für Kriege waren sie deshalb fast immer zu haben. Tja. Sonst habe ich nichts Kluges zum Thema hinzuzufügen.

In eigener Sache: Ich werde hier bis Anfang März pausieren. Bin auf geheimer Mission in Sache Kommunikation.

Ein Mensch ist kein Huhn: Hänni in memoriam

Habe ich Ihnen von meinem Huhn erzählt?

Es war ein kluges Huhn, ein sehr kluges Huhn, und wir – das heißt ich und meine Freunde – haben ihm sogar das Apportieren beigebracht. Man sollte freilich nicht erwarten, dass ein Huhn große Dinge im Schnabel tragen kann – also keine Bälle, keine Stöcke. Mein Huhn vermochte dennoch Zahnstöckerl und Plastikperlen zu apportieren. Man musste ihm bloß sagen: „Komm, Hänni“, so hieß mein Huhn, „bring die Perle, bring das Zahnstöckerl“ usw. und prompt erfüllte es das Kommando.

Hänni hat auch noch viel mehr verstanden. Sehr viel mehr. Wenn man mit ihr sprach, bewegte sie den Kopf ungelenk auf Hühnerart und schaute einen intensiv ins Gesicht. Einmal sagte ich ihr: „Ich kann meinen Handschuh nirgends finden. Hmm. Wo könnte er sein?“

Auf der Stelle flitzte Hänni in den nächsten Raum hinein, blieb irgendwo stehen und gackerte beherzt. Neben ihr war der gesuchte Handschuh.

Manchmal trug ich Hänni Gedichte vor – von allen deutschen Lyrikern schien ihr am besten Stefan George zu gefallen. Fragen Sie mich bitte nicht, warum. Wenn ich mit dem Aufsagen fertig war, blickte mich Hänni mit großen Hühneraugen an und gackerte. Gelegentlich flatterte sie mit den Flügeln und gackerte zugleich, als würde sie selbst ein Gedicht aufsagen.

Sie fragen sich vielleicht, wie das möglich sei, dass ein Huhn ein Gedicht vorträgt? Es ist nicht anders, als wenn ein Kleinkind spricht. Sagt das Kind „Nana“ statt „Mama“, ist das nie mit Absicht. Es ist überzeugt, dass es „Mama“ artikuliert hat. Es stößt lediglich an die Grenzen seiner physiologischen Möglichkeiten. Der Kopf weiß, was er will, die Zunge ist aber – noch – nicht fähig, dies auszuführen. Ähnlich ergeht es einem Huhn, das Stefan George vortragen will.

Ich gebe zu: Hänni war, was Hühner betrifft, kein nullachtfünfzehn-Federvieh. Die meisten ihrer Artgenossen interessieren sich nicht für die Lyrik. Doch auch ein so intelligentes Huhn wie Hänni, stößt bald an seine Grenzen. Es spricht nur das aus, was ihm körperlich machbar ist. Es will „Uns zuckt die hand im aufgescharrten chore/ Der leichenschändung frische Trümmer streifend“ sprechen, kann aber, weil es schließlich ein Huhn mit hartem Schnabel ist, lediglich „Gak Gak Gik-ka Gak“ oder so artikulieren.
Glauben Sie aber ja nicht, dass so etwas Hänni frustriert hätte. Im Gegenteil. Sie war stets überzeugt, dass sie „Uns zuckt die hand im usw.“ vorgesagt hatte – so wie ein Kleinkind überzeugt ist, dass es „Mama“ sagt, wenn es in Wirklichkeit eindeutig „Nana“ artikuliert.

Kinder aber schaffen es irgendwann, zwischen „Nana“ und „Mama“ zu unterscheiden. Deshalb tun wir ihnen, wenn wir sie nachmachen und selbst „Nana“ nachplappern, keinen Gefallen. Babysprache ist letztendlich disrespektierlich, weil sie einem Kleinkind ein falsches Signal vermittelt.
Wenn Eltern mit ihren Kindern Babysprache reden, dann nur um durch die Verniedlichung der Sprache ihre eigene Überlegenheit zu betonen.

Hühner schaffen es freilich nie übers Gegacker hinaus, die Menschensprache nachzumachen. Dennoch wäre es falsch, ein Huhn, das Stefan George vorträgt, mit „Gak Gak Gik-ka Gak“ zu antworten.

Der gleiche Vorgang gilt übrigens für die Literatur. Jede Kultur kann nur das in Worten ausdrücken, was ihr Wortschatz und ihr Bewusstsein erlauben. Seit mehreren Wochen lese ich ein sehr spannendes Buch über dieses Thema: „Mimesis“ von Erich Auerbach. Auerbach hat in diesem 1942-1945 geschriebenen Werk einen Streifzug durch die westliche Literatur von Homer bis ins 20. Jahrhundert verfasst, und veranschaulicht, wie jede Kultur nur das in Worten ausdrücken kann, was die Zeit, die Mentalität und der jeweilige Zustand der Sprache erlaubt. Dante als Dichter war, Auerbach zufolge, erst am Anfang des 13. Jahrhundert möglich, Gregor von Tours als Zeitzeuge nur im 6. Jahrhundert.

Immerhin: Die Schränke, die ein Zeitalter und Standort auf die menschliche Kommunikation setzen, sind zu jeder Zeit ausdehnbar. Sprache und Kultur sind folglich ständig in Bewegung – mal im Sog einer Veredelung, mal in der Dekadenz begriffen.

Hühner hingegen stoßen recht schnell an ihre Grenzen, was für Hänni übrigens fatal war. Eines Tages haben wir sie gepackt und ihr den Hals umgedreht. Sie hat natürlich lautstark gegackert, um zu protestieren. Wir haben aber leider nicht verstanden. Noch schlimmer: Wir hatten sie mit einem anderen Huhn verwechselt. Schließlich sehen für uns Menschen nun mal alle Hühner gleich aus. Es war jedenfalls das Aus für Hänni.

Wenn ich hier trotzdem zugebe, dass sie gut geschmeckt hat, meine ich dies wirklich nicht pietätlos. Bitte PETA nicht weiter sagen.

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