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Grantelrede über die drei Fs

„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.

„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“

„Trotzdem.“

Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.

Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.

Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.

Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.

„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.

„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“

Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“

Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“

An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“

„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“ 

„Die drei Fs?“

„Ficken, Fressen und Freizeit.“

Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?

Nächste Woche etwas weniger Pathos.

Grantelrede über die drei Fs

Grantelrede über die drei Fs

„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.

„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“

„Trotzdem.“

Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.

Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.

Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.

Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.

„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.

„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“

Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“

Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“

An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“

„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“

„Die drei Fs?“

„Ficken, Fressen und Freizeit.“

Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?

Nächste Woche etwas weniger Pathos.

Grantelrede über die drei Fs

Grantelrede über die drei Fs

„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.

„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“

„Trotzdem.“

Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.

Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.

Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.

Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.

„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.

„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“

Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“

Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“

An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“

„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“

„Die drei Fs?“

„Ficken, Fressen und Freizeit.“

Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?

Nächste Woche etwas weniger Pathos.

Grantelrede über die drei Fs

„Ich würde dir vorschlagen, am Schluss ein paar Fußnoten anzulegen. Kein Mensch kennt Beda heutzutage“, sagte Carl.

„Aber wozu haben wir denn Wikipedia? Jeder kann alles schnell nachschlagen.“

„Trotzdem.“

Ein Fragment aus einer Unterhaltung, die ich letzte Woche mit Freund Carl führte. Er war der Meinung, dass ich den Lesern meines neuen Lyrikzyklus, „The Caedmon Songs“ etwas Lesehilfe bieten müsste.

Hintergrund: Im August habe ich zum ersten Mal seit 25 Jahren englischsprachige Lyrik geschrieben. Hier nur das Wesentlichste: Ganz plötzlich hat es mich überwältigt – manchmal mehrere Stücke pro Tag, manchmal stand ich mitten in der Nacht auf, um zu schreiben. Alles sehr unerwartet. Sie haben wahrscheinlich nicht gewusst, dass mein eigentlicher Beruf der des Lyrikers ist – und zwar in englischer Sprache. Der Sprachbloggeur ist bloß eine von vielen Personae, d.h. Masken, des Lyrikers P.J. Blumenthal.

Zugegeben: Die Lyrik ist das nützloseste Unterfangen der Welt. Aber so einer bin ich halt. Ein befriedigendes finanzielles Auskommen ist von der Lyrik kaum zu erwarten. Mein ehemaliger Chef witzelte einst, als ich ihm mal meine wahre Identität verriet: „Dann müssen Sie sich ja eine reiche Gräfin als Gönnerin finden.“ Über das Thema Poesie und Wirtschaft habe ich ein ganzes Buch – und zwar in deutscher Sprache – geschrieben: „Hierons Gastmahl – oder das Wort als Ware“. Dieses Buch ist noch nicht erschienen, aber jeder Leser des Sprachbloggeurs kann auf dieser Webseite zumindest den Anfang unter Rubrik „Wer bin ich“ lesen. Der Auszug aus diesem Buch heißt „Prolog auf dem Olymp“.

Fußnoten für meinen Lyrikzyklus? Ich war entsetzt, als mir dies Carl vorschlug. „Wie steht es heute mit der Allgemeinbildung?“ fragte ich entrüstet.

„Deine Lyrik braucht Fußnoten, weil die Leute sonst keine Ahnung haben, wer Beda und Caedmon sind. Außerdem musst du unbedingt schreiben, wann sie gelebt haben oder dass Caedmon der erste uns bekannte Dichter in der englischen Sprache war.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist nicht, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe lediglich Lyrik verfasst. Und dass mit Caedmon und Beda soll die Lektüre meines Zyklus nachvollziehbar machen, weil konkret.

„Du findest aber heute kaum einen, der ein Gefühl für die Geschichte hat.“

Ich war baff. Und dann kam prompt eine Mail von Freund D. (so nennen wir ihn heute) aus Amerika, der mein Prosagedicht, „Kommentar über das Buch Jonas“ (die englische Version) neulich gelesen hat: „Ich bin gar nicht richtig bibelfest“, schrieb er an mich. „Zunächst habe ich Jonas und Josua verwechselt.“

Kann es sein, dass das historische Bewusstsein heute wirklich so geringgeschätzt wird? Prompt fiel mir der Spruch des Philosophen George Santayana ein: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“

An einem Elternabend sagte ich der Französischlehrerin meines ältesten Sohns einmal: „Das Lehrbuch kommt mir irgendwie seichte vor – als lernten die Kinder nur französische Umgangsprache. Wissen Sie, als ich Französisch in der Schule hatte, war ich in der Lage, mich stundenlang über Descartes und Voltaire zu unterhalten. Dafür wäre ich vielleicht unfähig, eine Mahlzeit im Restaurant zu bestellen. Aber so was holt man schnell nach.“

„Heute ist es ganz anders“, erwiderte sie. „Die Kinder haben keine Ahnung, wer Descartes und Voltaire sind. In den Lehrbüchern wird ihnen nur die drei Fs beigebracht.“

„Die drei Fs?“

„Ficken, Fressen und Freizeit.“

Oje. Jetzt grantele ich wie ein Opa, dem die Nieren zwicken. Trotzdem bleibe ich dabei: Man darf den Blick auf die Vergangenheit nicht verlieren. Das muss ich gar nicht rechtfertigen. Jeder weiß, was es heißt, wenn man sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern kann: Amnesie – man wird zu Ray dem Waldjungen (der womöglich kein echter Waldjunge war – so der neueste Stand der Dinge). Soll ich Santayana nochmals zitieren?

Nächste Woche etwas weniger Pathos.

Krieg um die Kirchentürme

Ich habe C. Landsgesell und J. Lenders, Reportern der Münchner Abendzeitung  Peinlichkeiten erspart. Nur wissen sie nichts von ihrem Glück.

In einem Artikel vom 1. Oktober berichteten sie von einer sich anbahnenden Protestaktion am Münchener Orleanplatz, wo ein Bestand von alten Bäumen dem neuen Tunnel der „zweite S-Bahn-Stammstrecke“ weichen werden. Anwohner der Gegend seien aufgebracht. Neben der Entstellung des Platzes kämen  nämlich bald auch Lärm, Staub und erhebliche Nachteile für die dortigen Geschäfte auf sie zu. Wer möchte sechs Jahre lang eine Baustelle vor der Tür haben?

In Anbetracht der großen Proteste in Stuttgart befürchteten manche in München einen ähnlichen Volksaufstand. Ein gewisser Walter Heldmann von der Bürgerinitiative „S-Bahn-Tunnel Haidhausen“ beteuere, so Reporter Landsgesell und Lenders, dass die Haidhauser keine Kirchturmpolitik betrieben…

Stopp. Über diese spannenden Ereignisse in München erfahren Sie von mir kein Wort mehr. Mir geht es um die „Kirchturmpolitik“. Denn mir war dieser Begriff bisher unbekannt.

Was tut der gebildete Mensch, wenn er ein Wort nicht einordnen kann? Er schlägt in seinem Wörterbuch nach. Das habe ich auch getan. Zunächst in meinem Duden Univeralwörterbuch Da fand ich aber nichts. Nichts! Blödes Wörterbuch!

Nun schaute ich in mein sechbändiges Duden. Wieder nichts. Nichts! Scheiß Duden. Ich war entsetzt.

Was muten sich diese zwei Clowns Landsgesell und Lenders zu? dachte ich mit dem Zorn des Gerechten. Sie verwenden einen Begriff, den nicht einmal der Duden kennt. Es war ein Samstag. Sonst hätte ich gleich an sie eine böse Mail abgefeuert. Die böse Mail bekommen sie am Montag, dachte ich genüsslich.

Aber nochmals Stopp. An dieser Stelle muss ich etwas wagen, womit man normalerweise eine Geschichte gegen die Wand fährt. Ich muss Ihnen die lustige Pointe verraten, bevor ich die Story zu Ende erzählt habe. Jedes anständiges Stilhandbuch würde mich hier mit Sitzenbleiben bestrafen.

Fakt ist: Meine ganze Entrüstung beruhte auf einem Missverständnis meinerseits. Als hastiger Leser und obendrein mit dem imperfekten Gehör des Migrationshintergründlers hatte ich mir eingebildet, dass ich „Kirchenturmpolitik“ und nicht „Kirchturmpolitik“ gelesen hätte.

Ich bitte diese Pointe jetzt umgehend zu vergessen. Denn sie kommt wieder – das nächste Mal an der richtigen Stelle.

„Weißt du, was Kirchenturmpolitik ist?“ fragte ich meinen Sohn. Er ist immerhin Deutscher und Muttersprachler.

„Nein, noch nie gehört“, antwortete er.

„Ha!“, triumphierte ich. „Diese Abendzeitung springt mit Begriffen um, die keiner kennt!“

Was ich vergessen habe zu erzählen: Ich hatte inzwischen „Kirchenturmpolitik“ gegoogelt und bescheidene drei Treffer geerntet. Allerdings hatte ich auch diesmal die Treffer viel zu hastig gelesen. Bei zwei von ihnen – einer davon ein Beitrag aus „Wikipedia“ – war das Wort sogar richtig geschrieben. Nur einmal im ganzen Internet (mit dieser Glosse wird es künftig zweimal sein) findet der Interessierte ein Wort „Kirchenturmpolitik“. Immerhin gab „Wikipedia“ eine Definition für den Begriff an. Etwa: eine Politik, die eine eng umgrenzte Zielgruppe bevorzugt.

„Vielleicht hat es mit dem fanatischen Hinausposaunen einer Idee von einem Kirchturm zu tun“, mutmaßte mein Sohn. Meine Frau, die den Begriff ebenfalls nicht kannte, äußerte sich ähnlich.

„Nein, aber fast“, antwortete ich mit der Überheblichkeit des Gerechten. Dann schilderte ich meine vergebliche Suche nach dem Wort und meine Entdeckung der mickrigen drei Treffer im Internet. „Wie kann man so einen unbekannten Begriff in einer Boulevardzeitung ohne Erklärung benutzen!!?“

Drei Minuten später kehrte mein Sohn zurück. Und jetzt, liebe Leser, erzähle ich die heitere Pointe zum zweiten Mal: „Du spinnst. Ich habe eben 250.000 Treffer gefunden. Außerdem heißt es ‚Kirchturmpolitik’ und nicht ‚Kirchenturmpolitik’. Kein Wunder, dass du nichts gefunden hast.“

„Dann haben diese Dusselköpfe von der AZ das Wort falsch geschrieben.“

Es war nicht so, und gleich fand ich die Kirchturmpolitik in allen Wörterbüchern – der Begriff ist übrigens eine Erfindung Bismarcks.

Kollegen Landsgesell und Lenders haben von mir keine Mail erhalten. Ich habe ihnen eine Peinlichkeit erspart: auf eine entrüstete Mail eines Ignoranten antworten zu müssen. Immerhin habe ich Ihnen nun eine Geschichte erzählt, die den Ursprung mindestens 95% aller Konflikte der Menschengeschichte veranschaulicht.

Warnung vor digitalem Alzheimer

Es war an einem Dienstag um 16.32…Sorry, ich verrate hier weder Monat noch Jahr. Urplötzlich schalteten sich die Bildschirme ab. Alle. Handys und Smartphones verstummten. Alle. Uhren standen still. CDs und DVDs waren auf einmal leer. Alle. Flashmemory war weg samt Urlaubsbildern. Auf der Intensivstation hörten die Steuerungsgeräte auf zu piepsen , Aufzüge stockten, die schönsten Autos kamen nicht mehr vom Fleck…Alle.

Wissen Sie was geschehen ist?

Habe ich gerade den Anfang eines gruseligen Science-Fiction-Romans skizziert? Wenn ja, dann schenke ich die Handlung einem/einer anderen Schriftsteller/in.

Mich treibt vielmehr eine Fantasie um, die sich vorgestern in mir auftat, als etwas Schlimmes passiert war. Schlimmes. Diese Webseite, die ich so liebevoll eingerichtet habe und wie einen blühenden Garten begieße und betreue, war einen ganzen Tag nicht erreichbar. Wer während dieser Zeit den Sprachbloggeur anklickte, bekam folgende Meldung: „Upps! This page is broken.“ oder so ähnlich. Ich habe den genauen Wortlaut bereits vergessen. Unangehmes will man schnell aus dem Gedächtnis entsorgen.

Als begabter Paranoiker begann ich mir den größten anzunehmenden Unfall (GAU) auszumalen. Etwa: Der Sprachbloggeur und seine Beiträge würden für alle Zeiten aufhören zu sein. Das ist keine leere Fantasie. Diese Beiträge sind nunmal digitale Impulse. Nur wenige habe ich auf Papier ausgedruckt.

Inzwischen hatte ich Freund Edward, auf dessen Server diese Seite beheimatet ist, kontaktiert. Er antwortete, dass der Server auf dem wiederum sein Server beheimatet ist (fragen Sie mich bitte nicht, was das bedeutet), einer Megapanne erlitten hatte. „Die Datenbank stürzte ab…“ schrieb er. „Es ist das erste Mal, dass wir – ja überhaupt jemand – so etwas erlebt haben.“

Damit hat er meine paranoide Fantasie noch intensiver gefüttert. „Ist es theoretisch möglich“, fragte ich ihn in einer Mail, „dass alle Server – weltweit – simultan abstürzen könnten, mit dem Resultat, dass der gesamte Bestand an digitalen Informationen augenblicklich aufhören würde zu existieren…für immer?“

„So ist es“, schrieb er. „Die Ursache wäre eine massive EMP (elektromagnetische Pulsierung), zum Beispiel, wenn ein großes Kraftwerk in die Luft flöge. Etwas in dieser Größenordnung könnte uns auf der Stelle ins Analogzeitalter zurückwerfen. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich und eher als Folge künftiger Kriegsführung vorstellbar.“

„Könnten auch Sonnenstürme das Gleiche bewirken?“ fragte ich.

„Warten wir bis 2012“, antwortete er leicht spöttisch. Er bezog sich damit auf die großen Sonnenstürme, die die Erde in diesem Jahr heimsuchen werden. Obendrein mailte er mir einen Artikel über dieses Katastrophenthema. Haben Sie gewusst, dass die Sonnenstürme 1958 besonders intensiv waren? Man konnte damals die Nordlichter bis nach Mexiko sehen. Damals hat es freilich noch keine PCs, Handys usw. gegeben. Man weiß nicht, wie diese wohl auf die elektromagnetischen Impulse reagieren werden.

Den Stuxnet-Wurm nicht zu vergessen, der momentan die Steuerung iranischer Atomanlagen gierig frisst. Manche munkeln, dass dieser Cyberangriff den Anfang des Dritten Weltkriegs einläutet. Fragen Sie mich bitte nicht, ob das stimmt oder nicht.

Ich frage mich nur: Soll ich meine abertausenden Digitalbilder auf die Schnelle ausdrucken oder zumindest aussortieren? Will ich meine große Bibliothek wirklich in den Papiermüll entsorgen und nur noch in E-Büchern auf Smartpapier schmökern?

Wissen Sie, dass nur drei Prozent der gesamten altgriechischen Literatur heute noch vorhanden ist? Simonides von Keos galt in der Antike als der begnadetste Poet. Von seinen einst hochgepriesenen Werken sind heute nur noch Fetzen vorhanden. Die Werke Sapphos wurden im frühen Mittelalter von prüden Geistlichen auf den Müll geworfen. Letztlich entscheidet allein der Zufall, welche Werke den Zeiten trotzen, welche untergehen. Ein digitaler GAU wäre aber anders. Er wäre eine demokratische Vernichtung: Es würde nichts übrigbleiben. Kein Bit kein Byte.

Schreibmaschinen bitte nicht in den Werkstoffhöfen abgeben, schwere Fotoapparate entstauben und entharzen, Bücher auf keinen Fall zum Altpapier bringen.

Für den digitalen Alzheimer gibt es – zumindest gegenwärtig – keine Heilung. Sie ist so endgültig wie der Punkt am Ende dieses Satzes.

Was der Bettler erzählte…

Ich sehe ihn seit Monaten im wetterfesten Durchgang vor unserem Supermarkt. Er sitzt da auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, auf einer Decke. Neben ihm links Tüten und ein Stapel Decken, die er als Ellenbogenstütze benutzt. Rechts von ihm eine Milchtüte aus dem Supermarkt.

Lange habe ich gedacht: Ja, ja. Einer von denen aus Rumänien. Man gibt ihm eine kleine Spende, und er muss das, was man ihm in die Hand gedrückt hat, an einen gewaltbereiten Mafioso-Traktierer abgeben. Darüber habe ich in der Boulevardpresse öfters gelesen. Sie sollen Mitleid erwecken, diese Bettler. Oft humpeln sie auf der Straße mit einer Krücke unter der Achsel herum oder haben verdrehte Beine. Oder es sind elendige Frauen, die auf dem Boden sitzen und ein Kleinkind hin- und herschaukeln. Sie arbeiten alle miteinander für berüchtigte Bettlermafiosi. Soviel zu meinen Kenntnissen.

Der Bettler vor dem Supermarkt hatte keine Krücke und veranstaltete kein Armutstheater. Im Gegenteil. Er war immer bestens gelaunt. Einmal habe ich ihm eine Brezen aus der Bäckerei ausgehändigt. Er bedankte sich und sprach einen Segen aus. Ha! Eine Brezen können ihm die Mafiosi nicht wegnehmen, habe ich gedacht. Ich war sehr stolz auf meine List.

Letzte Woche war ich bestens aufgelegt – und spendabel. Heute gebe ich ihm zwei Euro, dachte ich. Ich kam aus der Bäckerei, ging auf ihn zu , drückte ihm den Zwickel in die Hand und fragte: „Sagen Sie, dürfen Sie das Geld behalten oder müssen Sie es an jemanden abgeben?“

„Nein“, antwortete er. „Ich bin kein Rumäne, auch kein Zigeuner, sondern Bulgare, darüber hinaus der einzige bulgarische Bettler in ganz München. Wenn Sie mir zwei Euro spenden, dann sollen Sie wissen, dass ich das Geld für mich behalte.“

So seine Antwort in sehr gepflegtem Deutsch. Man erkannte den Bulgaren daran, dass er „juber“ anstatt „über“ sagte. Das war das Prolog zu einem halbstündigen Gespräch, das ich hier  mit Rücksicht auf die Dramaturgie leider nicht in allen Details wiedergeben kann. Dazu würde ich mehrere Seiten gebrauchen. Hier wenigstens ein paar Highlights.

Erstens: Er erzählte, dass er seit zehn Jahren im Sommer drei Monate in München verbringe, um zu betteln. „München ist ein Eldorado für Bettler. Die Menschen sind hier sehr spendabel.“ Früher sei er mit dem Bus von Sofia über Prag nach München gefahren. Das war eine anstrengende Reise. Sie dauerte drei Tage und kostete ca. 140 Euro. Es gibt übrigens, so erfuhr ich, einen Taxidienst aus Prag. Der Fahrer transportiert fünf Passagiere nach München und kassiert etwa 50 Euro pro Person. In München holt er zurückkehrende Bettler und Diebe ab. Neuerdings reist mein Gesprächspartner aber lieber via last-minute-Flug. Das kostet etwa 56 Euro von Sofia direkt nach München, ist bequem, und man spart obendrein Geld.

Zweitens: „Ich bin nicht nur Bettler“, sagt er mir. „Ich bin Poet und habe in meiner Heimat sechzehn Bücher veröffentlicht.“ Nun zitierte er – auf Deutsch – aus Goethe, Novalis und Hesse. Dann folgte ein eigenes Gedicht – von ihm selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche übersetzt – ein sehr trauriges Gedicht über die Kinderlosigkeit seiner Frau. Schließlich trug er ein Gedicht auf Englisch vor – auch eine eigene Übersetzung. Es war ein gepflegtes Englisch. „Ich spreche sechs Sprachen.“

Drittens: Er klärte mich über die rumänischen Bettlermafias auf. „Es gibt keine rumänischen Bettlermafias, lediglich Familien, die en gros nach Westeuropa reisen, um kollektiv zu betteln oder zu klauen. Stündlich macht einer aus dem Clan die Runde und sammelt das Geld von den anderen ein und versteckt es. Das ist ein Schutzmechanismus für den Fall einer Festnahme. Die Polizei beschlagnahmt nämlich das gebettelte Geld.“ Und weiter: „Die Journalisten haben die Idee einer Bettlermafia selbst erfunden. Sie stellen zu wenige Fragen, beobachten schlecht und möchten alles nur sensationalisieren.“

Nach einer halben Stunde ließ ich ihn wissen, dass ich zu tun hätte und dringend weiter müsse. „Ich habe Ihnen noch viel zu erzählen“, sagte er. „Das machen wir aber ein anderes Mal.“

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder. Er schrieb gerade in ein kleines Heft und wirkte sehr konzentriert. Ich gab ihm einen Euro. Ich weiß nicht, ob er mich in dem Augenblick gleich einordnen konnte. Ich hatte ohnehin keine Zeit, um mich mit ihm zu unterhalten.

Dennoch wollte ihn fragen: „Sie sind Poet und gebildet, kein Analphabet aus dem Dorf. Warum müssen Sie betteln?“ Falls ich ihn wieder antreffe und die Antwort vermittelbar ist, sage ich Ihnen Bescheid.

Großes Kino (oder Mord und Totschlag usw. für Anfänger)

Hallo Schlafwandler! Wie geht’s heute? Ich hoffe, Sie träumen was Schönes.

Wissen Sie, lieber Leser, was als nächstes passiert ist? Ich meine, nachdem ich den Schlafwandler so freundlich gegrüßt hatte?

Er (oder sie) kam in der zerdrückenden Menschenmenge beim „Love Parade“ nicht weiter, Er konnte sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen.  Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Alles registrierte zunehmend Gefahr. Und dann ging es los. Panik. Geschrei. Gewein usw.

Später sagte er (oder sie) dem Reporter (der Reporterin): „Alle schrien und stöhnten. Es war schrecklich. Es war wie in einem Film.“

Szenenwechsel. Köln. Man geht am Historischen Stadtarchiv vorbei. Im Hinterhirn vernimmt man ein Grollen, ein Knurren und dann geht’s los. Das Haus stürzt ein. Derselbe Reporter ist vor Ort. Man sagt ihm: „Es war wie in einem Film.“

Zu bemerken: 1.) Obige Zitate sind von mir frei erfunden und dennoch absolut nachvollziehbar. 2.) Ich verhöhne keinen, der nach einer Katastrophe diese Worte, „Es war wie in einem Film“, sagt. Als die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag von ihrem Arzt erfuhr, dass sie todkrank und nicht mehr zu retten war, stieg sie in den Wagen eines Freundes (oder war es der eines Verwandten?) und sagte etwas wie: „Wow, das darf nicht wahr sein.“

Es war wie in einem Film.

Ich lag auf dem Bett und las Zeitung. Es war Winter. Schmutziggraues Abendlicht. Ich hörte einen Rumps hoch oben auf dem Dach unseres Wohnhauses. Eine dunkle Masse flog an meinem Fenster vorbei. Mensch, ein ganzer Schneebrocken ist vom Dach heruntergefallen, habe ich gedacht. Neugierig stand ich auf, ging auf den Balkon und schaute hinunter, um die Schneemassen zu bewundern. Was ich aber sah: Eine Nachbarin stöberte auf allen vieren desorientiert im Schnee und stöhnte wie ein kranker Hund.

Ach, es ist nur die Nachbarin, die im Schnee herumkriecht, stellte ich fest. Ich machte kehrt und wollte in meiner Zeitung weiterlesen. Halt. Das geht nicht. Das war kein Schnee, der vom Dach herabgestürzt ist, sondern die Nachbarin vom fünften Stock. Wieder schlafwandelte ich auf den Balkon, um mir das Bild da unten zu bestätigen. In der Tat. Es war die Nachbarin. Schon wieder wollte ich nach der Zeitung greifen.

Halt. Das geht nicht. Die Nachbarin ist gerade in die Tiefe gestürzt. Du musst Hilfe holen. Ja. Und gerade das habe ich auch getan. Ich wählte 112 – oder war es 110 – ich komme mit diesen Nummern stets durcheinander. Ich habe jedenfalls die Richtigen erreicht und erklärte, was gerade passiert war. Ich habe mich kaum reden hören. „Wir kommen gleich“, hieß es im Hörer.

Wieder habe ich gedacht: Jetzt lege ich mich endlich hin, um meine Zeitung zu lesen. Es ist schließlich Feierabend, und ich habe schwer gearbeitet. Halt. Das darfst du nicht. Bis die Feuerwehr und die Ärzte eintreffen, musst du der Nachbarin irgendwie helfen. Schon wieder ging ich auf den Balkon. Diesmal rief ich hinunter. „Keine Sorge, Frau Z., Hilfe ist unterwegs. Alles wird wieder gut.“ Sie stöhnte nur. Dann machte ich kehrt, war gerade dabei, nach der Zeitung zu greifen. Halt. Hole Decken, um sie warm zu halten, bis die Feuerwehr da ist. Also holte ich Decken und stieg die Treppe herunter, um sie im Hof zu betreuen. Alsbald sah ich das blaue Licht. Die Feuerwehr hielt vor dem Hauseingang. Ich öffnete die Tür und erklärte, wie man in den Hof kommt. Sie sind ins Haus gerannt. Ja, gerannt. Einer rutschte vor der Tür im Schnee aus, so sehr ist er geeilt.

Als ich sicher sein konnte, dass die Frau gut versorgt war, ging ich in meine Wohnung zurück. Ich schaute eine Weile vom Balkon herunter, beobachtete den Rummel. Funkgeräte krächzten. Viele Stimmen. Stöhnen. Scheinwerfer. Mir war kalt. Ich wollte mich endlich hinlegen, um Zeitung zu lesen. Jetzt konnte ich aber nicht. Nein. Aus war der Traum.

Nebenbei: Was ich hier erzähle, passierte vor einigen Jahren. Die Frau hat überlebt. Es geht ihr immer besser.

Ja, es war wie im Kino.

Wie komme ich auf dieses Thema? Keine Ahnung. Eigentlich wollte ich über Pastor Terry Jones’ Drohung (Terry wer?), den Koran zu verbrennen, schreiben und über die fiebernden Reaktionen aufgebrachter Muslime in Indonesien, Afghanistan usw., die gleich auf Christenjagd loszogen.

Auch das nur großes Kino.

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