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Schau mir in die verpixelten Augen, Kleines (Geht das überhaupt?)

Ach, die guten alten Zeiten. Es war vielleicht vor dreißig Jahren, kann aber auch schon länger her sein:

Mich fixierte eines Tages ein Bild in der damaligen Münchener Abendzeitung. Es zeigte einen frisch verhafteten Mann, der in der grünen Minna kauerte, das verschämte Gesicht in den Händen fest eingehüllt. Um ihm herum standen die Schaulustigen; sie glotzten hämisch in den Streifenwagen und hegten sicherlich „Geschieht-ihm-recht“-Gedanken.

Ich studierte das Bild mit Entsetzen. Wie kann die Zeitung dieses gemeine Foto veröffentlichen? Das habe ich mich gefragt – billigster Ausdruck des „Volkszornes“, dachte ich. Ja, Dorothy – wie man in Amerika damals sagte – , du bist nicht mehr in Kansas, du bist in Oz. Noch präziser: Ich war endlich mit Leib und Seele in Deutschland gelandet. Ist das die sogenannte „deutsche Mentalität“? sann ich.

Ich war immerhin Frischling auf deutschem Boden. Die Fragen waren berechtigt.

Wären meine Deutschkenntnisse damals brauchbar gewesen, hätte ich wahrscheinlich einen Leserbrief geschrieben. Ich schreibe gerne Leserbriefe. Ich war aber noch stumm wie ein Säugling. Nichts ging.

Das Foto habe ich neulich ausgegraben. Offenbar hat es mich damals sehr beeindrückt, sonst hätte ich es nicht behalten. Keine Ahnung, was der gute Mann verbrochen hatte. Diebstahl, nehme ich an.

Egal. Ich denke an dieses Bild, weil ich mich jüngst mit einer älteren Dame (damit meine ich, älter als ich) über die Verpixelung von Gesichtern in der Zeitung unterhalten habe. „Verbrecher muss man sehen können, nicht schonen“, sagte sie.

Ich hörte aus dem Ton die Erziehung einer lang vergangenen Zeit heraus und fragte mich deshalb, ob man Nazi sein muss, um die Verpixelung von Gesichtern für eine Unsitte zu halten. Denn letztendlich denke ich nicht anders als die alte Dame: Auch ich rege mich auf, wenn ich mir Fotos ohne Informationsgehalt anschaue.

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie viele fotografische Darstellungen  menschlicher Gesichter in den Medien verpixelt werden? Eine unaufhaltbare Entwicklung, wie es scheint. Aber warum?

Besser gefragt: Warum überhaupt ein Bild, wenn es nur verunstaltet? Ich gebe zu: Der Mensch in der grünen Minna aus der alten Zeitung hat selbst das Gesicht – so könnte man argumentieren – „verpixelt“. Nein, nicht verpixelt, unsichtbar gemacht, weil er sich schämte, Gegenstand des Hohns geworden zu sein. Aber gerade diese sichtbare Unsichtbarkeit macht das Bild so tatkräftig.

Schläger, Vergewaltiger, Mörder usw. erlebt man in den Medien schon lange nur noch als kubistische Verschleierungen. Sie stellen das Gegenteil von einem Bild dar. Es sind Antibilder geworden.

Ein Bild will informieren. Antibilder können nur deformieren.

Es handelt sich um eine relativ neue Unsitte. Ich glaube, man hat noch vor wenigen Jahren die Augen von Deliquenten mit schwarzen Balken unkenntlich gemacht. Vielleicht steckt etwas Juristisches dahinter – Schutz der Privatsphäre oder so? Auch Kinderaugen wurden eine Zeitlang mit schwarzem Balken versehen. Heute wird das ganze Kindergesicht verpixelt. Das soll vor Sittenstrolchen, Ent- und Verführern schützen, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber dann lieber keine Bilder.

Bin ich auf etwas gestoßen, dass lange die Informationsgesellschaft prägen wird? Ich meine: Wird das Bild immer mehr zum Schleier werden? Warum denn Bilder, wenn sie den Zweck haben, Nichts-sagend zu sein?

Wird man bald ins Museum gehen müssen, um Abbildungen des Menschengesichts zu betrachten? Und jetzt eine letzte Frage, die viele Blattmacher in Angst und Bange versetzen wird: Wenn das Bild eines Menschen aufhört einen Sinn zu haben, heißt es, dass bald das Wort allein zum Informationsträger werden muss?

Twitterer aufpassen. Die Tage der kurzen Message sind womöglich gezählt.

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