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Krieg der Euros – bald auch in Ihrem Kino

Zum Anfang der Schluss: Geld ist eine Illusion. So ungefähr sagte es Volker Looman, ein Finanzanalytiker am Wochenende in der FAZ. Sein Artikel hieß: „Angst vor Inflation und Verlust treibt die Anleger zur Verzweiflung.

Damit meinte er, dass Wert eine Illusion sei, vor allem, wenn man in einer Krise nach Sicherheit sucht.

Wirtschaft? Sicherheit? Ha!

Und jetzt zu den Zauberern. Das sind die Bazis, die momentan mit ihren Unkenrufen dem Euro schwer zu schaffen machen.

Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht, und ich bin zum Schluss gekommen, dass es Hexenmeister – nur Hexenmeister – sind, die eine Wirtschaft, eine Währung durch Schlechtreden kaputtmachen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte hiermit nicht meine Liebe zum Euro bekunden. Von Anfang an habe die Euromünzen gehasst. Potthässlich wie Einkaufswagenmarken. Die Banknoten sind auch nicht besser: lauter seelenlose Bilder von nichtssagenden Brücken. Wenn ich an die schönen D-Mark-Banknoten denke...ahhhh. Auch die Münzen – zumindest einige – waren hübsch: die Mark, das Fuchsgerl, das Zehnerl. Nur die Zweimark- und Fünfmarkstücke kamen mir wie schlechte Witze eines sadistischen Oberbankers vor.

Aber nun haben wir den Salat. Und plötzlich sagt man, er schmeckt nicht.

Es sind die Hexenmeister am Werk.

Glauben Sie an Magie? Wenn nicht, überlegen Sie nur, wozu die Zauberer fähig sind. Seit wenigen Wochen haben sie mit ihrem endlosen Geflüster den Euro verhext.

Sie wispern ihre Sprüche über den Euro und zack! fällt er wieder ein paar Cent mehr gegen den Dollar. Man sagt, dass es Menschen gibt, die aus der Entwertung des Euros Gewinn ziehen. Ich habe noch nie verstanden, wie das funktioniert. Ich werde mich aber schlau machen.

Was ich jedoch weiß: Maßnahmen werden getroffen, um den Euro zu stützen. Im Nu haben die Hexenmeister einen neuen Zauberspruch parat, um den Sturz fortzusetzen.

Glücklicherweise gibt es auch Zauberer für die andere Seite. Sie versuchen das Gegenteil zu bewirken. Nehmen Sie, zum Beispiel, Theo Waigel. Letzte Woche fragte ihn Redakteurin Angela Böhm von der Münchner Abendzeitung: „Wird aus der harten eine weiche Euro-Währung?“. Waigels Antwort, „Wenn der Euro im Moment 1,27 oder 1,28 wert ist, dann ist er um zehn Cent das sind zwanzig Pfennig, mehr wert als die D-Mark bei ihrem Abschied. Da komme mir doch niemand und behaupte, der Euro sei eine Weichwährung.“ Das hört man gerne.

Das war aber letzte Woche. Inzwischen haben die Unkenrufer viel Zeit gehabt, sämtliche Stabiltätsmaßnahmen als „zweifelhaft“ umzudeuten. Warum macht man das? Für die üblichen Gründe: Böser Wille, Neid, Gier. Nichts Neues. Eben habe ich in wenigen Worten die Geschichte der Welt  erzählt.

Mich persönlich bringt das Spiel auf die Palme, weil ich vor sechs Wochen Bücher aus England bestellt habe. Sie sind immer noch nicht da und werden täglich teurer.

Jeder hat eigene Gründe, sich für die Wirtschaft zu interessieren.

Immerhin hat der ehemalige Federal Reserve Vorsitzende, Paul A. Volcker, neulich erklärt, er sei „emotionally attached to the Euro“. Und weiter: „Er war eine gute Idee.“ Ich habe ihn prompt den guten Zauberern eingereiht. Doch dann machte er einen Rückzieher und drückte seinen Zweifel aus. Plumps! Und wieder ist der Euro gestürzt.

Ja, liebe Sportfreunde. Nun wird es spannend: Krieg der Zauberersprüche und Fortsetzung folgt.

Wer soll ins Kino gehen, wenn das Leben so aufregend – und unsicher – ist? Willkommen in meiner Welt.

Adoptieren Sie einen „Captcha“-Boy! Noch heute!

Kennen Sie Ariful Islam Shaon? Nicht? Die Chancen sind gut, dass er Sie kennt. Er ist zwanzig Jahre alt und studiert an der Universität in Bangladesch. Was genau er studiert, weiß ich nicht – ich tippe auf Betriebswirtschaft.

Ariful spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Gestaltung dieser Seite, also des „Sprachbloggeurs“. Verzeihung, er spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung vieler Internet-Seiten.

Aber hier rede ich nur von mir:

Fangen wir mit den Spamrobotern an, die den „Sprachbloggeur“ früher mit endlosen Werbesprüchen für gefälschte Potenzmittel aus Asien zu bombardieren pflegten. Diese wurden quasi als „Kommentare“ veröffentlicht. Um dieser Invasion Einhalt zu gebieten, habe ich diese Seite mit einer „Captcha“-Einrichtung ausgerüstet: Das sind jene verformten Buchstaben oder Zahlen, die ein Kommentarschreiber manuell eingibt, wenn er einen Kommentar abgeben will. Mit dem „Captcha“ (vom englischen „capture“, also „(Ab)fang“-)Programm wird Spamrobotern das Handwerk schnell gelegt.

So weit so gut. Jetzt komme ich zu Ariful Islam Shaon. Der clevere Student hat in seiner Heimat eine Firma gegründet und beschäftigt 30 Kommilitonen, die für ihn täglich 3-4 Stunden arbeiten. Sie hocken vor dem Rechner und geben die verformten „captcha“-Buchstaben ein, um dann Werbung für gefälschte Potenzmittel aus Asien als Kommentare beim „Sprachbloggeur“ zu veröffentlichen. Reine Handarbeit. Hut ab.

Arifuls Mitarbeiter bekommen für ihre Arbeit alle zwei Wochen etwa sechs Dollar. Das mag vielleicht sehr mager klingen. In Bangladesch ist das jedoch ein schönes Taschengeld für einen Studenten.

Ariful kennt seine Auftragsgeber nicht. Dies hat er jedenfalls gegenüber einem Reporter der New York Times, Vikas Bajaj, behauptet. Von Bajaj habe ich nämlich diese schillernden Informationen. Ich persönlich möchte für Arifuls Ehrlichkeit, was diese Behauptung betrifft, nicht bürgen. Ist aber egal.

Ariful ist freilich nicht der einzige Jungunternehmer, der in Asien auf diesem Gebiet tätig ist. Sein Kollege „Workcaptcha“, z.B., von freelancer.com (so Bajaj), beschäftige noch mehr „captcha“-Knacker als Ariful.

Der rasende Reporter Bajaj hat verschiedene Menschen aus der Branche interviewt. Einer plauderte besonders ehrlich aus dem Nähkästchen und gab zu, dass die Geschäfte zunehmend schlechter laufen. Fakt ist: Trotz der Unmenge Werbung, die von den fleißigen Mitarbeitern getätigt wird, werden im Laden gefälschte Waren im Wert von gerade mal $200 im Monat verhökert. Im Klartext: Es gibt immer weniger Naivlinge, die bereit sind, gefälschte asiatische Potenzmittel aus der Spamwerbung zu erwerben. Von diesen $200 muss der Unternehmer dann auch das Gehalt seiner „Captcha“-Knacker bezahlen. Der Gewinn ist, gelinde gesagt, zum Kotzen.

Unternehmer wie Ariful und „Workcaptcha“ beginnen neuerdings damit, eine Kostennutzenrechnung zu stellen. Man sieht, was die Zukunft der Branche betrifft, allmählich sehr schwarz.

Auch ich zähle zu den Spielverderbern. Denn bis auf Weiteres werden beim „Sprachbloggeur“ keine Kommentare unvermittelt veröffentlicht. Das heißt: Alle Kommentare werden vom Chef – also mir – höchst persönlich offline begutachtet. Somit habe ich die Möglichkeit, Arifuls Mitteilungen schnell zu löschen. Kein Mensch außer mir sieht sie. Für Arifuls Mitarbeiter wird die ganze Arbeit eine vergebliche Liebesmühe. Sorry, Ariful.

Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leser des „Sprachbloggeurs“. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich weiß, dass ich die Studentenschaft in Bangladesch arbeitslos mache.

Daher folgende Bitte: Adoptieren Sie einen Studenten aus Bangladesch! So investieren Sie mit wenigen Dollar oder Euro in eine strahlende Zukunft. Wenden Sie sich an Ariful direkt unter „Billige Potenzmittel“ punkt com. Er wird sich freuen. Sagen Sie ihm: Der Sprachbloggeur hat Sie geschickt.

Alles, was Sie über die Bigotterie wissen müssen

Fangen wir mit dem bemitleidenswerten Gordon Brown an. Falls Sie zufällig Außerirdischer sind und dies Ihr erster Besuch in Europa ist: Brown ist (noch) Premierminister von Großbritannien, einem Inselländchen ein bisschen westlich von Köln.

Aber zurück zu Mr. Brown. (Achtung, Englischlernende: Wir Amerikaner setzen nach der Abkürzung „Mr.“ stets einen Punkt, die Engländer tun das nicht. So kann man gleich erkennen, ob man es mit einem amerikanischen oder einem britischen Text zu tun hat. Außerdem ist die Aussprache unterschiedlich).

Vielleicht haben Sie letzte Woche gelesen, dass sich Kandidat Brown – im UK wird bald gewählt – mit einer Wählerin auf einer Straße in Rochdale, England (Noch nie davon gehört? Liegt nicht weit von Healey) unterhalten hatte. Die Rentnerin, Gillian Duffy, eine Anhängerin von Labour, Browns Partei, stellte plötzlich unbequeme Fragen – zum Beispiel über Studiengebühren und Immigration. Politiker Brown versuchte die unbequemen Fragen, so gut es ging, zu entschärfen mit Fragen über Duffys Enkelkinder – das macht jeder Politiker – , bevor er die lästige Wählerin endlich abhängen konnte.

Dann stieg er in seinen Wagen und beklagte sich, dass er sich auf ein Gespräch mit einer derart „bigotted“ Person habe einlassen müssen. Was er nicht wissen konnte: Ein Fernsehmikrofon nahm seine private Schimpftirade auf. Es folgte, was die englische Presse nun „bigotgate“ nennt. Erfinderisch sind die Journalisten allemal.

„Bigotted“.

Das Wort wurde in der deutschen Berichterstattung mit „borniert“ wiedergeben. Das klingt sinvoll, ist leider sehr an den Haaren herbeigezogen. „Borniert“ und „bigotted“ sind, wie die deutsche Redewendug so bildlich sagt, zwei paar Stiefel. Die FAZ versuchte es dann mit „bigott“. Doch auch sie hat sich in der Sache arg verstiefelt.

Ja, liebe Sprachenvernarrten, hier haben wir es wieder einmal mit einem der vielbeschworenen „falschen Freunde“ zu tun. Was sind „falsche Freunde?“ Ganz einfach: Das sind Leute die, wenn Sie bei „Facebook“ sind, an Ihrer „Türe“ klopfen. Nein, ich mache hier nur einen schlechten Witz.

Bei den „falschen Freunden“ handelt es sich um Wörter aus zwei (oft verwandten) Sprachen, die zwar ähnlich klingen, aber unterschiedliche Bedeutungen haben. Gern gegebenes, lustiges Musterbeispiel ist die deutsche (und englische) Vokabel „Mist“. Auch „bigotted“ und „bigott“ sind „falsche Freunde“.

Jemand gilt im Deutschen als „bigott“, wenn er engstirnig ist, vor allem in Glaubensfragen. „Borniert“ bedeutet Ähnliches. Im Deutschen kann man allerdings auch im Bezug auf nichtreligiöse Dinge „borniert“ sein. Etwa die Politik.

Nur: Wir Englisch-Muttersprachler meinen mit „Bigotted“ etwas ganz  anders. Dieses Wort bedeutet für uns schlicht und einfach „rassistisch“ – im weitesten Sinn. Man kann „bigotted“ sein gegen Rassen, Kulturen und Religionen.

Und gerade das meinte Pechvogel Brown, als er über Ms. Duffy herzog. Es ging ausschließlich um ihre Einstellung zu Ausländern. Mag sein, dass die auch borniert und bigott war. Das war aber nicht maßgebend.

Alas and alack. In Großbritannien ist aber Wahlkampf. Wenn man keine triftigeren Argumente hat, um den Premierminister dieses maroden Ländchen westlich von Köln abzusetzen, dann hilft stets ein saftiges Skandälchen.

Was wirft man Brown vor? Ganz klar: Er hat das Schlimmste getan, was ein Politiker tun kann: Er hat die Wahrheit gesagt.

Aber genug der Miseren des (noch) Premierministers. Jetzt erkläre ich, woher dieses Wort „bigot“ bzw. „bigott“ kommt. Es taucht zum ersten Mal auf, kurz nachdem die Normannen England erobert haben. Notabene: Die Normannen haben damals Altfranzösisch, die Engländer Angelsächsisch gesprochen. Offenbar haben die entsetzten Angelsachsen damals des öfteren „bi God!“ ausgerufen. Auf Neuenglisch würde man „by God!“ sagen, auf Französisch „mon Dieu!“, auf Deutsch „Ach du meine Güte!“. Damit wollten sie wahrscheinlich lediglich auf sanfte Art wegen der Eroberung Dampf lassen, ohne den Kopf gleich in die Schlinge zu halten.

Die Franzosen nahmen jedenfalls Notiz von diesem ständigen „bi God!“. Bald bezeichneten sie die besiegten Fremdsprachler – scherzhaft – als „les bigots“.

Jetzt habe ich Ihnen alles zum Thema erzählt. Nur ein letzter Punkt: Wissen Sie, wie man “zwei Paar Stiefel“ auf Englisch sagt? Darauf kämen Sie nie: „a horse of a different color“. Und jetzt sagen Sie Mr. Brown „byebye“.

Erste Gedanken über die Informationsentropie (und die Lösung eines alten Rätsels)

Wie heißt eine Welt, in der alles absolut gleichwertig ist?

Wenn Sie meinen, die Antwort könnte „Paradies“ oder „Demokratie“ oder „Utopie“ lauten, dann irren Sie sich.

Die Welt, in der alles gleichwertig ist, heißt der Tod.

Stellen Sie sich drei Süppchen vor. Es sind die drei Süppchen aus dem „Goldilocks“-Märchen. Vielleicht kennen Sie dieses englische Märchen nicht.

Das Mädchen „Goldlöckchen“bricht einmal im Haus der drei Bären ein, wo Papabär, Mamabärin, und Babybär leben. Diese sind fort. Auf dem Tisch stößt die kleine Einbrecherin auf drei Suppenteller. Der vom Papabär ist Goldlöckchen zu heiß, der von Mamabärin zu kalt, der vom Babybär gerade richtig. Das diebische Mädchen verschnabuliert ihn genüsslich. Ich erzähle nicht weiter. Womöglich kennen sie die Geschichte ohnehin.

Nur folgenden Gedanken möchte ich hervorheben: Hätte Goldlöckchen etwas länger gewartet, bevor sie mit der verstohlenen Mahlzeit begann, oder wäre sie vielleicht eine halbe Stunde später im Bärenhaus eingebrochen, wäre die Geschichte anders verlaufen. Denn alle Süppchen hätten sich temperaturmäßig nach und nach einander angeglichen.

Das ist einfache Physik, genauer gesagt, eine einfache Aussage aus der Wärmelehre: Was zu heiß ist, kühlt sich (wenn nicht nachgeheizt) ab, was zu kalt ist, passt sich peu à peu der Umgebungstemperatur an.

In einem geschlossenem System, so sagen die Physiker, d.h. einer Umgebung, die keinen äußerlichen Einflüssen unterliegt, in diesem Fall – etwas vereinfacht – im Bärenhaus, würden sich die unterschiedlichen Temperaturen mit Sicherheit zunehmend einander angleichen. Man muss stets Energie investieren – Feuer machen oder einen Kühlschrank betreiben – , um diesen Verlauf– er heißt in der Wärmelehre „Entropie“  – entgegenzuwirken.

Diese abstrusen Gedanken fielen mir ein, als meine Frau berichtete, sie käme gerade von einer Vorlesung, wo der Sprecher, ein Kommunikationswissenschaftler, die zunehmende Gleichmäßigkeit der Medieninhalte anmahnte.

„Klar“, sagte ich meiner Frau spontan, „Das ist die ‚Informationsentropie’ am Werk.“

Ein kurzer Rückblick: Vor zwanzig Jahren redeten alle – auch ich – von der anbrechenden „Informationsrevolution“. Ich glaube nicht, dass die meisten von uns damals verstanden, was eine „Informationsrevolution“ bedeutete. Wir meinten lediglich: Es würde viel „Information“ zur Verfügung stehen. Man müsste den eigenen Informationsgebrauch mäßigen, um keinem „Informationsinfarkt“ zu erleiden usw.

Heute weiß ich sehr wohl, was mit diesem Schlagwort gemeint war: Information sollte dank dem nagelneuen Internet noch mehr denn je zuvor zu einer Ware, zu einer Großindustrie, werden – ähnlich dem Geschäft mit Erdöl und Erdgas. Nur damals, als die Kapitäne der Industrie in die Zukunft schauten, hat es noch kein „Google“, keine „Wikipedia“, keinen „Twitter“, kein „Facebook“ usw. gegeben. Inzwischen haben die Investment-Kapitalisten selbst kapiert, dass es verdammt schwer ist, Geld mittels „Information“ zu vermehren. Aber das ist eine andere Geschichte…

Wir bleiben bei den Unmengen disponibler Dateneinheiten, die heute in der Welt kursieren – das meiste in elektronischer Form.

Man kann diese Datenmenge mit den drei oben erwähnten Süppchen vergleichen. Um den Sinn der drei Süppchen zu erfassen, ist stets ein Goldlöckchen erforderlich. Ohne dieses Mädchen, blieben die drei Süppchen undifferenzierbar, ganz gleich welche Temperatur sie hätten. Wenn keiner die drei Süppchen näher erforscht, fallen sie notgedrungen der Informationsentropie zum Opfer. Heute kursieren Abermilliarden „Süppchen“ im Netz. Fast niemand weiß, wie sie schmecken oder wie heiß sie sind. Ohne eine angemessene Zahl von Goldlöckchen, fristen sie ihr Dasein inhaltlich leer.

Fazit: Wer Wissen in Erdöl verwandeln will, wird lediglich Suppen kochen, die Hungernde kaum oder nie werden auslöffeln können.

Endlich ist damit auch die alte Frage des Zenbuddhismus beantwortet: Wie klingt es, wenn man mit einer Hand klatscht?

Achtung: Es spricht die Stimme des Spießertums (oder Der Künstler dankt dem Spießer)

Möchten Sie meiner neuen Interessengemeinschaft beitreten? Ach, klar, Sie möchten erst wissen, worum es geht.

Beinahe zögere ich mit der Sprache. Denn ich weiß schon jetzt, dass Sie gleich ablehnen werden.

Ich möchte nämlich zur Stimme des Spießertums werden. Und so wird meine I.G. auch heißen: Die Stimme des Spießertums e.V.

Mal ehrlich: Klingt hübsch, nicht wahr?

Raten Sie mal, was der seltenste Satz in der ganzen deutschen Sprache ist. Sie werden kaum drauf kommen. Er lautet: „Ich bin ein Spießer.“

Ist ja logisch! Wann haben Sie das letzte Mal diesen Satz freiwillig über die Lippen gebracht? Wahrscheinlich noch nie. Kein Mensch sagt von sich, er sei ein Spießer. Das dürfte das allergrößter „No-No“ in der deutschen Sprache sein. Das Fatale: Fast niemand weiß, dass es so ist.

Im Deutschen ist es immer der andere, der spießig ist. Eher gesteht einer,  Pädophile oder Mörder zu sein, als dass er sich zu seinem Spießertum bekännte.

Schade.

Und deshalb möchte ich dem Spießer – bzw., der Spießerin – mittels meiner I.G. Mut machen.

Ich fange selbst an, damit Sie keinen Zweifel an meine Führungsqualitäten haben.

I c h  b i n   S p i e ß e r.

Sie zögern es mir nachzumachen? Ach, kommen Sie schon. Nur Mut fassen:

I c h  b i n  S p i e ß e r (i n).

Na? War nicht so schlimm? Und wenn Sie es einmal über die Lippen gebracht haben, sind Sie praktisch zum Revolutionär geworden! Zum Helden! Ich gratuliere! Mit einem einzigen Satz haben Sie viel dazu beigetragen, die deutsche Sprache zu erneuern. Eine solche Gelegenheit hat man nicht jeden Tag. Und stellen Sie sich vor: Man musste erst das 21. Jahrhundert schreiben, bis es so weit war. So läuft es immer in der Geschichte. Es kommt der günstige Punkt, und zack!

Wie ich auf diese heilsgeschichtlichen Gedanken komme? Ich habe gestern an einen Künstler gedacht (ich verrate den Namen nicht), der sich ein Leben lang weigerte, U-Bahn zu fahren, weil er Kontakt mit der schnöden Masse so sehr scheute.

Wir Spießer sind anders. Wir lieben die schnöde Masse. Mehr noch: Die schnöde Masse, das sind wir!

Kennen Sie Antonin Artaud? Auch er war Künstler, ein Franzose, der viele Jahre seines Lebens in der Irrenanstalt verbracht hat. Nichts Ungewöhnliches für Künstler. Das tat auch Robert Walser. Hölderlin, Nietzsche usw. waren alle Kandidaten für die Irrenanstalt.

Artaud hat einmal einen kurzen Essay mit dem Titel – hier übersetze ich -  „Ich scheiße auf die Seele“ oder ähnlich geschrieben. Darin verweist er die Seele in ihre Schranken. Es brauche einen Körper, um die Seele mühevoll auszuschwitzen, schreibt er oder so ähnlich. Ich habe den Wortlaut längst vergessen. Es sind Jahre vergangen, seit ich den Text gelesen habe.

Ich sage hingegen: Es braucht Tausende von Spießern, um einen Künstler auszuschwitzen. Deswegen ist der Künstler dem Spießer stets zu Dank verpflichtet. Jawohl!

Und was macht der Künstler stattdessen? Er meidet die U-Bahn und dergleichen.

Das wird’s nicht mehr so schnell geben. Jetzt hat der Spießer endlich seine Stimme gefunden. Bald wird der Künstler ganz von allein auf die Idee kommen, sich zu bedanken.

Diesmal schreibe ich für Sie, liebe Migrationshintergründler

Wann ist ein Kompliment kein Kompliment?

Hier ein einfaches Beispiel: Sie gehen ins Geschäft und kommen mit dem Ladenbesitzer ins Gespräch.

„Aus Hamburg sind Sie“, sagt er, „Sie sprechen aber sehr schön Deutsch.“

Für Hamburg, kann man beliebig „München“, „Erfurt“, „Remagen“, „Hoyerswerda“, „Trier“ usw. setzen. Ist egal.

Okay. Mein Beispiel ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Normalerweise bekommt man keine Komplimente für etwaige Fähigkeiten in der Muttersprache – es sei denn, es handelt sich um einen Aufsatz in der Schule, um eine eloquente Rede, die man gerade gehalten hat, oder um den besonderen Witz eines Schriftstellers oder die gekonnte Darbringung eines Schauspielers.

Aber nun, liebe Migrationshintergründler, zu unserer Situation.

Letzte Woche ging ich in eine Änderungsschneiderei und kam mit der Ladenbesitzerin ins Gespräch. Als sie mir verriet, sie sei geborene Griechin, outete ich mich sogleich als geborenen Amerikaner. Das erkennt man ohnehin an meinem Akzent.

Im Gegensatz zu mir sprach die Schneiderin ein tadelloses, akzentfreies Deutsch. Das lässt sich aber leicht erklären. Sie lebt schon seit über 45 Jahren in Deutschland und kam als Kind hierher.

Fakt ist: Wenn man eine Fremdsprache vor der Pubertät lernt, wird man sie fast immer wie ein Muttersprachler beherrschen. Ist man aber schon in (oder jenseits) der Pubertät, wird man den eigenen fremden Akzent selten los. So erging es Henry Kissinger. Er war bereits fünfzehn, als seine Familie 1938 in die USA ausgewandert ist. Sein um ein Jahr jüngerer Bruder Walter hat im Gegensatz zu Henry keinen deutschen Akzent.

Ich war schon ein junger Mann, als ich 1975 nach München kam. Kein Wunder, dass ich mich nie als native speaker der hiesigen Sprache werde durchmogeln können. Manche schaffen es dennoch. Ich habe Migrationshintergründler kennengelernt, die akzentfreies Deutsch reden, obwohl sie – wie ich – jenseits der Pubertät waren, als sie Deutsch lernten.

„Stellen Sie sich vor“, sagte mir die tapfere Schneiderin, „Es gibt Leute, die mir Komplimente machen, weil ich Deutsch rede. Das macht mich aber rasend. Sie wissen nichts über mich, behaupten aber, dass ich, weil ich im Ausland geboren wurde, ein dressierter Affe bin. Manche Kunden bezeichnen mich nicht als die Schneiderin, sondern als die griechische Schneiderin. Und dann plappern die Politiker über die Assimilation. Ich will mich ohnehin nicht assimlieren lassen. Ich bin stolze Griechin, auch wenn ich Deutsch wie eine Deutsche spreche. Integration und nicht Assimilation, das sage ich.“

Integration statt Assimilation. Das hat mich beeindruckt, und ich habe der Schneiderin gleich verraten, ich würde sie mal zitieren. Bisher hat kein Politiker die Sache mit der Eingliederung von Ausländern so präzise artikuliert wie sie.

Immerhin: Die Schneiderin und ich sind beide bestens integriert und trotzdem haben wir unseren Kindern die Sprache unserer jeweiligen Mütter beigebracht.

Ja, liebe Migrationshintergründler, nehmen Sie sich an uns ein Beispiel. Eine „Assimilation“ gibt es ohnehin nicht.

Als ich einmal in einer Buchhandlung aus meinem Buch „Kaspar Hausers Geschwister“ vorlesen sollte, fragte mich ein Zuhörer vor der Lesung – langsam und deutlich – , ob ich (immerhin Autor eines Buches in deutscher Sprache) Deutsch spräche oder ob er mit mir lieber Englisch reden solle.

„Nein, nein“, antwortete ich, „Es fällt mir zwar schwer, Sie zu verstehen, aber ich kann mich in der Fremdsprache zumindest radebrechend verständigen.“

Ach, und hier mein Lieblingskompliment. Einmal sprach mich eine Amerikanerin auf der Straße an und fragte mich auf Englisch nach dem Weg. Ich antwortete selbstverständlich in der Muttersprache. Daraufhin bedankte sie sich und sagte: „You speak wonderful English.“ Was blieb mir anders übrig? „Thank you“, erwiderte ich. Sehen Sie: Manchmal ist einem jedes Lob recht.

Heute beim Sprachbloggeur praktisches Wissen: Wie man abstrakte Kunst lieben lernt

Worte. Pfui! Manchmal hat man einfach zu viel davon.

Nein, ich bin nicht schreibmüde geworden. Schriftsteller sind diejenigen, die weiter erzählen, nachdem jedem anderen die Puste ausgegangen ist.

Dennoch gibt es Augenblicke, in denen ich kein Wort mehr ertrage – und keinen konkreten Gegenstand mehr sehen will.

Wissen Sie, was ich dann mache?

Ich gehe stracks ins Museum und halte mich bei der abstrakten Kunst auf. In München kann man das besonders gut. Hier haben wir die Pinakothek der Moderne, das Museum Brandhorst, das Haus der Kunst und und.

Ich war nicht immer so ein Liebhaber der abstrakten Kunst. „Das nennt man ‚Minimalismus’“, sagte mir Freund Fritz vor vielen Jahren, als er mir begeistert ein Bild zeigte, auf dem nur drei dicke Farbstreifen zu sehen waren.

„Dann bin auch ich Maler“, antwortete ich. „Ich könnte es genauso.“

„Ach, ja“, sagte Fritz und zuckte mit den Schultern. Er spürte wohl, dass ich noch nicht so weit war. Inzwischen bin ich so weit. Mein Saulus/Paulus-Moment trat vor etwa einem Jahr ein, nachdem ich einen richtigen Erschöpfungszustand durchgemacht hatte. Mein Teller war voll, und ich hatte das Bedürfnis, mich von viel Ballast zu befreien. Wie in Trance begab ich mich eines Tages ins Museum, genauer gesagt, in die Pinakothek der Moderne. Plötzlich stand ich in einem großen Raum – einem riesigen Raum mit weißen Wänden. An den weißen Wänden hingen Bilder, nicht viele, alles überschaubar also. Es war still im Raum, und die Bilder waren Werke der Abstraktion. Wer nach konkreten Gegenständen gesucht hätte, wäre hier nicht fündig geworden.

Neugierig schaute ich mich um. Auf einmal merkte ich, dass ich mich zunehmend besser fühlte. Ich war ganz heiter geworden. Dann schoss mir folgender Gedanke durch den Kopf: Ich bin nicht mehr auf der Erde. Ich befinde mich in einer anderen Welt, und die Bilder, die ich hier betrachte, die sind Mitteilungen in der Sprache dieser fremden Welt. Das, was für mich gegenstandslos scheint, gilt in dieser fremden Welt als konkreter Gegenstand.

Das war das Schlüsselerlebnis, und ich konnte mich dort kaum satt sehen, so aufregend erschien mir diese neue Welt. Seitdem bin ich süchtig nach abstrakten Bildern und Skulpturen. Zu meinen Lieblingsexponaten zählen sechszehn schmucklose Holzkästen, die in einem weiß gestrichenen Raum  der Pinakothek der Modernen hängen. Alle sind gleich groß. Naturbelassenes Kiefern- oder Fichtenholz. Sie unterscheiden sich von einander lediglich durch die unterschiedlichen Trennwände des jeweiligen Kastens. Der Künstler Donald Judd nennt sein Werk „Untitled“.

Freund Fritz ist zufrieden mit mir. Er erklärte mir im vergangenen Winter, es handele sich bei diesen Kästen um unterschiedliche Charakter- oder Persönlichkeitsdarstellungungen. Ein Kasten wird, z.B., durch eine senkrechte Trennwand fast zweigeteilt, ein anderer wird durch eine Schräge diagonal getrennt. Ein Kasten ist ganz offen, bei einem gibt es eine „Vorwand“, die den Hohlraum von der Außenwelt beinahe völlig abkapselt, usw. Alles dargegstellt durch Mittel einer wortlosen Fremdsprache. Tja, so verständigen sich die Außerirdischen untereinander.

Neulich habe ich meine Kenntnisse dieser abstrakten Sprache noch weiter vertieft.. „Weiß du“, sagte ich Freund Fritz erst letzte Woche, „Neulich fiel mir ein, dass es hinter jedem realistischen Bild einen abstrakten Kern gibt – als habe der Maler eines realistischen Bildes erst die abstrakte Form wahrgenommen, bevor er sie zu vergegenständlichen begann.“

Ich merkte es Fritz an. Er war stolz auf mich. Ich hatte den Sinn der Abstraktion endlich kapiert. Und nun möchte ich ihn mit Ihnen, liebe Leser, teilen. Jawohl, beim Sprachbloggeur bekommt man auch Praktisches serviert. Jeder will die Welt verstehen. Bloße Unterhaltung wird auf die Dauer nur langweilig.

Was macht Lady Gaga nach Feierabend?

Wir schreiben das Jahr 1969 (oder 1970). Standort: Isla Vista, California, ein Studentenstädtchen nahe der Universität California in Santa Barbara. Ein Quadratkilometer terra firma, wo Männlein und Weiblein fast ausschließlich zwischen 17 und 25 sind – und nur ein Katzensprung vom Pazifik. Ja, den Garten Edens hat es wirklich gegeben (und die Vertreibung aus dem Paradies).

Abends eine Lesung im Unicorn Bookstore. Der Schriftsteller – wie hieß er wieder? – sitzt vor dem Publikum hinter einem langen Tisch und liest aus seinem neuen Buch vor. Plötzlich Lärm. Ganz hinten an der Tür. Unruhe macht sich breit. Ein Penner steht da und plappert vor sich hin. Er ist ungewaschen, unrasiert, wahrscheinlich besoffen. Eine Gitarre baumelt von seiner Schulter. Nun drängt er sich zielsicher nach vorne, setzt sich auf den Tisch, wobei er die Sicht auf den Autor blockiert, nimmt seine Gitarre in Hand und fängt an einen Blues zu spielen. Etwa:

 

I just came in from Chicago, Chicago, Illinois.

Just came in from Chicago, Chicago, Illinois.

And I don’t have no place to go,

In this town of yours I’m just another new boy.

 

Oder ähnlich. Weil ich seinen Text  nach so vielen Jahren nicht mehr weiß,  habe ich obigen Blues improvisiert.

Die Zuhörer, Studenten, Literaten und sonstige kultivierte Menschen (oder deren gelangweilte Anhängsel) waren wegen dieser Unterbrechung nicht weniger irritiert als der gastierende Autor. Dennoch hat man den Eindringling – zumindest eine Zeit lang – geduldet. So sind wir Menschen. Man will stets eine Konfrontation, koste, was es wolle, vermeiden. Die Störung wurde aber zunehmend unangenehmer, und endlich forderte man den Landstreicher auf, entweder Platz zu nehmen und zu schweigen oder die Buchhandlung unverzüglich zu verlassen. Vielleicht hat man ihm mit ein paar Dollar zu einer Entscheidung verholfen wollen – das weiß ich nicht mehr so genau. Historiker bauen ihre Geschichten immer auf Fragmenten.

Doch jetzt komme ich zur Pointe – also zum Grund, warum ich diese Momentaufnahme aus der Vergangenheit auffrische. Schlussendlich haben ein paar forsche Mannsbilder den Partycrasher gepackt und waren dabei, ihn unsanft aus dem Laden hinauszukomplimentieren. Jetzt machte er erst recht Radau, als hätte man ihm in seiner Ehre verletzt. Zufällig stand an der Türe ein damals sehr bekannter amerikanischer Lyriker – ich werde hier den Namen allerdings stark verpixeln wie man es heute mit den interessantesten Bilder in den Zeitungen und im Internet zu tun pflegt. Wir nennen ihn also „Goethe“.

„Goethe“ selbst wurde die Situation wohl zu bunt, und auf einmal erhob er die Stimme mit stolzer Authorität: „Können Sie nicht endlich die Klappe halten.“

Gleich schubste ihn der Penner. Ja, er hat ihn einfach geschubst.

Der berühmte amerikanische Lyriker sah rot: „He! Was erlauben Sie sich! Ich bin Wolfgang Amadäus Goethe!“ brüllte er.

Was danach passierte, habe ich längst vergessen, ist eh nicht so wichtig. So sehr blieb ich an G.’s letzten Satz hängen.

Mein Gott, habe ich gedacht. Er ist mit seinem Namen verheiratet! Das, habe ich damals gedacht.

Verstehen Sie, wie ich das meine? So sehr hat er sich mit seinem Namen als Markennamen identifiziert, dass er der festen Meinung war, keiner darf ihn malträtieren. Ja, nur weil er „Goethe“ hieß.

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich frage, was Lady Gaga nach Feierabend macht. Ist sie einer, der die eigene Identität nicht ablegen kann, bzw., will? Spielt sie „Lady Gaga“ „24/7“ (sprich: twenty-four seven), also tagein tagaus? Legt sie sich geschminkt und kostümiert ins Bett, die lackierten Fingernägel auf der Bettdecke fotoreportagenfertig ruhend?

Das Gleiche frage ich mich, wenn ich an den futuristisch frisierten Bill Kaulitz denke. Sieht er so aus, wenn er den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schiebt? Und wie ist er Zuhause? Schminkt er sich ab, zieht er die Handschuhe, das glitzernde Schuhwerk aus, um in die alten Schlappen zu schlüpfen?

Ach der Ruhm! Aus Menschen macht er Namen.

"Griechische Liebe" für eifrige Geschichtsklitterer

Zunächst Persönliches:

Ich war sechszehn, strichdünn und niedlich. Es war im März, und ich wartete im tiefen, frischen Schnee auf den Bus. Wir befinden uns in New York City, Stadtteil Queens.

Ein Wagen hielt an. Der Fahrer, untersetzt, vielleicht Mitte dreißig, machte die Wagentüre auf. „Die Busse fahren nicht, sie stecken im Schnee“, erklärte er hilfreich. „Steig ein, ich fahre den gleichen Weg.“

Beinahe dankbar bin ich eingestiegen. Smalltalk. Er sagte, ich solle mich entspannen, den Mantel aufmachen. „Hast du eine Freundin?“ fragte er. Vielleicht habe ich ja gesagt. „Und? Was für Sachen machst du mit ihr, äh?“ Der schlüpfrige Ton war freilich nicht zu überhören. Nun stellte ich fest, dass er sich mit der rechten Hand seinen Oberschenkel intensiv bearbeitete, als würde er an etwas sägen. Er hörte jedenfalls nicht auf, über die „Liebe“ zu plappern. Knaben sind höflich, wenn sie mit Erwachsenen reden. Außerdem war ich noch zu jung, zu unerfahren, um zu wissen, dass er mir zu nahe trat. Instinktiv habe ich aber stets ausweichend auf seine Fragen geantwortet.

Endlich meine Chance. „Ach, da ist meine Ecke“, trillerte ich mit klaustrophobischer Freude, „hier steig ich aus.“

„He, warte. Willst du einen Blowjob?“ fragte er nun, zur Handlung genötigt.

„Nein, danke“, antwortete ich geschwind und stürzte aus dem Wagen.

„He, deinen Schuh, du hast deinen Schuh im Auto gelassen.“ In der Tat, ich stand mit dem Socken im Schnee. So ist es, wenn man’s eilig hat. Ich schnappte ihn mir sehr schnell aus der ausgestreckten Hand und ließ die Autotür dankbar zufallen.

Nun denken Sie wahrscheinlich, dass der Sprachbloggeur anhand dieser Anekdote auch seinen aufklärerischen Beitrag zum allgegenwärtigen Thema päderastischer Übergriffen leisten will. Sie irren sich. Mein Interesse gilt heute der Antike. Genauer gesagt: Ich möchte die Altgriechen in Schutz nehmen. Denn ihre, wie es im Moment heißt, „idealisierte Knabenliebe“,muss  häufig als Modell für die Fummeleien zeitgenössischer Schutzbefohlener herhalten.

Insbesondere werden Platon und Sokrates als Schutzheilige der Kinderschänder hochgehalten. Ich sage nur: Schmarrn.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Der griechische Päderast ist keine Erfindung tüchtiger Verleumder oder schwärmerischer Fans  des frühen Abendlands. Es gab ihn tatsächlich – und in jener altertümlichen Gesellschaft vielleicht sogar zahlreicher als in der heutigen. Schließlich ist auch „Päderast“ eine griechische Vokabel: „Pais“ bedeutet „Knabe“, „erastos“ „(aktiver) Liebhaber“. Es kam wirklich vor, dass gestandene Mannsbilder zu „Beschützern“ von attraktiven, bartlosen Knaben wurden – dies allerdings hauptsächlich in vornehmen Kreisen. Und es kam auch vor, dass bei solchen Beziehungen eine gewisse „erotische“ (auch eine griechische Vokabel) Komponente vorherrschte. Wobei „erotisch“ nicht unbedingt mit der Berührung intimer Zonen gleichzusetzen ist, auch wenn die Griechen – wie viele Völker der Antike – insgesamt weniger Berührungsängste im (männlichen) Umgang hatten als wir.

Sokrates, dessen Meinungen und Gedanken wir dank den Schriften Platons und Xenophons kennen, wurde aber nie müde zu betonen, dass die körperliche Intimität keinen Platz in der Lehrer-Schüler-Beziehung habe.

Dennoch haben griechische Erotomanen ihre Neigungen nie verheimlicht bzw. verheimlichen müssen wie die heutigen es tun, die Schweigegeld bezahlen oder im Falle eines Verrats mit Mord drohen. Hier ein besonders anschauliches Beispiel: Xenophon stellt in seinem „Gastmahl“ den reichen Dandy Kallias vor, der sich in den hübschen Boxkampfsieger, den Teenager Autolykos, verschossen hat. Dem Angebeteten zu Ehre schmeißt Kallias ein Gastmahl, zu dem auch Sokrates eingeladen wird. Raten Sie mal, wer sonst unter den Gästen ist: Der Vater des begehrten Knaben! Tut das heute der päderastische Geistliche oder der schlüpfrige Lehrer? Nein, er will seiner Neigung lieber im Dunklen huldigen.

Die Griechen haben diese Neigung ohne Scheu kundgetan.

Trotzdem wurden die griechischen Knaben vom Gönner weniger vernascht als man sich das vielleicht vorstellt. Das überrascht, nicht wahr? Es war aber so. Was hingegen unter den Griechen doch sehr häufig vorkam, waren erotische Techtelmechtel unter Jünglingen selbst. Die Tonmalerei gibt dafür viele bunte Beispiele.Wissen Sie aber, warum Knabenliebschaften so zahlreich waren? Weil im alten Griechenland eine Beziehung zu einem Mädchen (wenn sie keine Sklavin war) strengstens verboten war – so wie heute in manchen islamischen Kulturen. In Saudi Arabien sind Liebschaften zwischen Jünglingen, wen wundert’s, sehr verbreitet.

Nebenbei: Richtige homosexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Männern galten in Griechenland nicht als „griechische Liebe“. Männer in solchen Beziehungen nannte man schlichtweg „kinaidoi“, etwa „schwule Säue“.

Ich habe dieses Thema heute keineswegs erschöpft. Ausführlicheres lesen Sie in meinem heiteren neuen Roman, „Hierons Gastmahl oder das Wort als Ware“. Verleger und Autor haben sich allerdings noch nicht gefunden.

Warum ich so beliebt bin

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem guten Geschmack, geneigte Leser.

Sie befinden sich auf einer der populärsten Seiten im ganzen WehWehWeh. Ich habe nämlich heute entdeckt, dass nur 172.005 Webseiten in Deutschland beliebter sind als „Der Sprachloggeur“. Weltweit werden lediglich 1.559.833 öfters besucht als diese Seite. Dies – darf ich erinnern – bei einer Gesamtweltbevölkerung von sechs (oder sind es schon sieben?) Milliarden Menschen.

Nicht übel, gell?

Nein, heute keine Selbstverherrlichung. Aber wie heißt es so schön? „Selbstlob! Nur dem Neide stinkt's.“

Vielleicht möchten Sie wissen, warum „Der Sprachbloggeur“ so viele Herzen erobert hat. Und damit komme ich auf die Werbung zu sprechen.

In meiner Jugend habe ich öfters mit der Idee geflirtet, Werbefachmann zu werden. Das müsse eine tolle Arbeit sein, dachte ich. Man verbringe den ganzen Tag auf der kreativen Suche nach trifftigen Ideen und frechen Sprüchen. Für jemanden wie mich, der Wörter – und Worte – liebt, wahrlich ein maßgescheiderter Beruf.

Dann bin ich aber Raucher geworden und habe täglich eine, manchmal zwei Schachteln geraucht. Nach wenigen Jahren war ich ständig heiser und litt immer öfters an Halsweh, Streptokokken usw.

Einmal lag ich mit schmerzhaften Schluckbeschwerden im Bett und sinnierte über die damalige Tabakwerbung in den USA nach. Nicht nur über den „Marlboro-Mann“. Der war nur einer von vielen bekannten Tabak-Ikonen. Ein Konkurrent setzte, z.B., in den TV-Reklamen Menschen (meistens jung) in Szene, die eindeutig Freude am Leben hatten. Natürlich mit Zigarette in der Hand oder beim genussvollen Lungenzug. Derweil trillerte ein Chor den damals bekannten Ohrwurm: „Winston tastes good like a cigarette should“ (siehe YouTube).

Ich kranker Raucher grübelte aber folgendermaßen: Mit meinem hart verdienten Geld wird diese dämliche, verlogene Werbung finanziert. Um Gottes Willen! Ich subventioniere eine Industrie, die mich letztendlich krank macht! Ich war empört. Doch gerade diese Empörung hat mir die Kraft gegeben, auf der Stelle mit dem Rauchen aufzuhören – obwohl ich damals schwer nikotinsüchtig war. Nein, mein gerechter Zorn war noch stärker als jegliche Sucht.

Szenenwechsel. Eines Abends – es war ein paar Jahre später – war ich mit zwei Bekanntinnen oder Freundinnen – unterwegs. Der Begleiter einer der Frauen war, wie ich bald entdeckte, Werbefachmann. Er war außerdem viel älter als ich, vielleicht 35. (An dieser Stelle schmunzeln die Alten wissentlich, während die jungen Leser über den schlechten Witz nur noch stöhnen). Sogleich wurde ich aggressiv. „Werbefachmann!“, sagte ich mit der Überzeugung eines Menschen, der keinen Augenblick daran zweifelt, dass er recht hat, „Dein Beruf, wenn du mich fragst, ist absolut amoralisch.“Notabene: Auf Englisch bedeutete dieses Wort, "moralisch indifferent". Es folgte einige fundierte Begründungen für mein vernichtendes Urteil. So erklärte ich beispielsweise, dass die Werbung die Kosten eines Produkts in die Höhe treibe usw.

Er antwortete, gefasst und geduldig, und vor allem im Ton eines Fachmannes, der einem überaktiven Blödian sein Handwerk erklären sollte. Ich wollte von alldem aber nichts wissen und erwiderte mit dem leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn eines selbstverliebten Fanatikers: „Nein, der Beruf lebt ausschließlich von der Amoralität.“

Inzwischen hatte ich ihn derart penetrant bearbeitet, dass ier nahe dran sein musste, mir eine zu schmieren. Ich gebe zu. Ich hätte es auch verdient. Ich war wirklich unausstehlich. Aber so ist die Jugend manchmal, und so soll sie sein. Unterdessen versuchten die beiden Frauen zu intervenieren oder zu schlichten. Ich weiß es alles nicht mehr so ganz genau. Er war jedenfalls mit seiner Geduld am Ende.

Und dann sagte er mir einen Satz, den ich nie wieder vergessen habe: „Weißt du, PJ,“, sagte er mit ruhiger Stimme, während seine Augen vor Verachtung zu glühen schienen. Er kam mir vor wie die Brillenschlange kurz vor dem Todesbiss. „Weißt du, unsere Branche ist nicht amoralisch, wirklich nicht.“ Pause. „Unsere Branche ist immoralisch!“

Ich war platt. Mein Wort war ein Stachel, seins ein Dolch. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich noch etwas erwidert habe. Ich glaube eher, ich wollte ihn in die Arme nehmen, um ihn zu trösten, so leid tat er mir.

Wie dem auch sei. Nun wissen Sie, wie ich es geschaft habe, den 172.006ten Platz im Internetpopularitätswettbewerb zu erklimmen.

Ja, und wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich weiterhin geraucht hätte?

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