You are here

Wie man einen Taschendieb verzaubert

Schon heute fällt ihm der Ausschlag auf. Die roten Flecken werden bald zu Pusteln. An anderen Stellen hat die Haut Schuppen gebildet, und das Jucken lässt ihm keine Ruhe mehr.

Die Hämorrhoïden blühen auf wie pralle, rote Blüten, und sie schmerzen ungemein.

Gut möglich, dass er die Strafe nicht mit mir in Zusammenhang bringt. Ich bleibe ebenso unsichtbar wie er, als er mir letzten Freitag am Hauptbahnhof in Berlin meinen Fotoapparat aus der Tasche entwendete. Womöglich habe ich zwei oder drei, also eine ganz Traube Taschendiebe verflucht. Denn Taschendiebe treten nur selten einzel auf. Der Hauptakteur, derjenige der hinlangt, bildet sich ein, er sei ein fingerfertiger Künstler, der die Taschen anderer wie die Tasten eines Musikinstruments beherrscht. Er irrt sich.

Ich hatte letzte Woche so schöne Tage  in Berlin verbracht. Das Berufliche, ein Interview, hat gut geklappt. Danach bin ich Tage lang durch die Museen – Altes Museum, Neues Museaum, Alte Nationalgalerie und Gemäldegalerie – gebummelt. Im Neuen Museum habe ich die Nofretete gesehen. Ich gebe zu: Ich wollte sie hassen. Wenn alle über etwas schwärmen, kann es sich, so dachte ich, nur um Kitsch handeln. Das habe ich gedacht und habe mich geirrt. Die Nofretete war ergreifend schön. Ich schäme mich, dass ich nur auf das Wort „schön“ komme, um dieses Erlebnis zu beschreiben. Das uralte Kunstwerk strahlt einen Zauber aus. Herr F., den ich in Berlin kennenlernte, meinte, die Echtheit des Kopfes werde schon lange in Frage gestellt. Man sage, er sei eine Nazifälschung, die mit alten Zeitungen („Völkischer Beobachter“?) vollgestopft sei.

Ich habe keine Ahnung. Wenn ein Betrug, dann ein gelungener, ein verzaubernder.

Für mich war die Reise ein Rundumerfolg – bis auf den Verlust meines Fotoapparats. Der Diebstahl hat meine Stimmung sehr getrübt – vor allem auf der Heimfahrt. Ein Fotoapparat ist einem Menschen ähnlich. Er besteht aus Körper (Gehäuse) und Seele (Speichermedium). Der Taschendieb hat im Grunde ein Leben genommen. Er hat mich eines Teils meiner Erinnerung beraubt. Dreihundert Fotos waren auf der Speicherkarte: Darunter Bilder aus Meißen und Dresden, ein Bild von Eva und Otto, Aufnahmen vom Geigenkonzert meines Sohnes, von einem Spinnennetz (samt Spinne) bei besten Lichtverhältnissen, von Orchideen, und natürlich auch die vielen Fotos, die ich in Berlin geknipst hatte. Manchmal benutze ich den Apparat als Gedächtnisstütze, quasi als Notizbuch . Das Licht in Berlin war letzte Woche so schön. Alles weg.

Der Taschendieb hält sich für einen Künstler, er ist aber nur ein Henker, der den Todesengel spielt. Er wähnt sich in der Lage, zwischen wertem und unwertem Leben unterscheiden zu können. An „wertes“ Leben langt er nicht hin, weil er Angst hat, enttarnt zu werden. „Unwertes“ Leben habe es verdient, beklaut zu werden. So denkt er. Unwertes Leben bedeutet für ihn den Schwachen, den Alten, den Unaufmerksamen.

Er wird meine Bilder nicht lieben, wie ich es tue. Er wird sie höchstwahrscheinlich löschen. Auch den Apparat wird er nicht lieben, wie ich es tat. Doch er bezahlt einen hohen Preis für seinen mageren Gewinn. Denn er muss jedesmal lernen, sein Gewissen zu töten, um anderen Schmerzen zuzufügen.

Ich hingegen verwandele meine Trauer in Literatur. Ich posaune meine Trauer schamlos in die Welt hinaus. Heute erzählte ich der Zeitungsdame am Kiosk davon. Eine Frau, die hinter mir stand, fragte: „Wos? Eana Motorradl is gschtoi’n worden?“

„Nein mein Fotoappart.“

„A Unverschämtheit. Der Drekkerta. Man soi eam an kloanen Finger obhocken. Wenn dös nix nützt, is der nächste Finga dran.“

„Keine Sorge. Ich habe ihn schon verflucht. Schon jetzt ist der Ausschlag ausgebrochen, und seine Hämorrhoïden blühen auf wie rote Blüten.“

„Dann is ois gut.“

Vor vielen Jahren habe ich ein Gedicht über Diebe geschrieben. Ich veröffentliche es hier zum ersten Mal – aber nur im Original. Denn es handelt sich um einen Zauberspruch, der sich nicht übersetzen – höchstens übertragen – lässt. Liest es ein Dieb, so bleibt ihm die Luft weg, und er wird schnell reuig. Er wird ebenso verzaubert wie ich es war, als ich letzte Woche der Nofretete begegnet bin. Diebe dürfen nur auf eigenes Risiko weiterlesen:

What a sorrow to be a thief.

Stealing brings me no relief.

What I steal I have to keep.

I steal for love, but love is grief.

Add new comment

Filtered HTML

  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Allowed HTML tags: <a> <p> <span> <div> <h1> <h2> <h3> <h4> <h5> <h6> <img> <map> <area> <hr> <br> <br /> <ul> <ol> <li> <dl> <dt> <dd> <table> <tr> <td> <em> <b> <u> <i> <strong> <font> <del> <ins> <sub> <sup> <quote> <blockquote> <pre> <address> <code> <cite> <embed> <object> <param> <strike> <caption>

Plain text

  • No HTML tags allowed.
  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Lines and paragraphs break automatically.
CAPTCHA
This question is for testing whether you are a human visitor and to prevent automated spam submissions.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.