Ich habe Cousin Michael (Notabene: Englisch auszusprechen, also „Maikell“) seit 30 Jahren nicht mehr gesehen. Nun erfahre ich, dass vor einem Monat seine Memoiren erschienen sind: eine sehr persönliche Geschichte über seine Selbstverwirklichung.
Er war viele Jahre in Indien auf der Suche nach sich selbst und hat sich offenbar gefunden. Als Stellvertreter seines geistigen Lehrers (Gurus) verwaltet er nun mehr dessen amerikanische Niederlassungen. Das habe ich aus zweiter Hand erfahren. Sein Buch habe ich selbst noch nicht gelesen.
Vor kurzem hat er meine Mutter besucht. Sie hat Michael das letzte Mal vor 25 Jahren gesehen. Vorab hatte er ihr sein Buch geschickt. Auch sie werde im Buch erwähnt, ließ sie mich wissen . Inzwischen hat sie das Buch zu Zweidrittel gelesen. Ein Wunder, weil sie sonst nur kitschige Romane liest. „Manchmal schreibt er sehr witzig“, berichtete sie mir am Telefon. „aber er erzählt viel zu viel über seinen Guru. Ich verstehe das alles nicht.“ Das Wort „Guru“ spricht sie „GuRU“ aus. Sowohl dieser Begriff wie auch „Selbstverwirklichung“ sind für sie Fremdwörter.
Cousin Michael hat sie letzte Woche besucht. „Er ist wirklich sehr charmant und sieht immer noch so jung aus. Ein sehr netter junger Mann. Wir haben uns drei Stunden lang unterhalten. Hauptsächlich hat er mich über seine Mutter ausgefragt.“
Seine Mutter, meine Tante Clare, ist vor etwa 40 Jahren gestorben. Damals war Cousin Michael erst 16. Meine Mutter ist der allerletzte Mensch, der Cousin Michael über seine Mutter fundiert informieren kann. Immerhin hat sie Tante Clare gekannt, als diese noch ein Kind war. Lebte meine Tante noch, wäre sie beinahe 100 Jahre alt. Meine Mutter ist 93.
„Cousin Michael hatte Glück“, sagte ich meiner Frau. „Meine Mutter ist die letzte Person, die ihn über seine Mutter informieren kann.“
„Wieso die letzte?“ fragte sie. „Warum kann sie ihm über seine Mutter nichts erzählen?“
Sind Sie noch da, liebe Leser? Oder kommt Ihnen obigen kurzen Dialog plötzlich sehr chinesisch vor? Nebenbei: Wir haben unser Gespräch auf Englisch geführt. Ich sagte: „She’s the last person able to inform him about his mother.“
„Wie bitte? Habe ich nicht eben gesagt, dass sie die letzte ist, die ihn informieren kann?“
„Genau das hast du gesagt. Aber das bedeutet, dass sie ihn nicht informieren kann.“
„Nein, ich habe nicht gemeint, sie sei die LETZTE, sondern die letzte.“
Mit Sicherheit haben Sie die Schwierigkeit schon erraten. „Letzte“ in diesem Zusammenhang hat zwei Bedeutungen – so wohl auf Deutsch wie auch auf Englisch. Ich meinte, meine Mutter sei der einzige noch lebende Mensch, der Michael über seine Mutter Bescheid sagen kann. Meine Frau hat „letzte“ als „ungeeignetste“ verstanden.
„Aber du redest manchmal so gerne ironisch.“
Später habe ich über dieses Missverständnis nachgedacht und mich gefragt, wie man während des Sprechens diese zwei „letzte“ unterscheidet. Der Unterschied fiel mir sofort ein: Wenn man „letzte“ im Sinne von „ungeeignetste“ sagt, wird das Wort anders betont, als wenn man „letzte“ im Sinne von „einzige“ ausspricht. Genauer gesagt: Beim ersteren steigt die Tonhöhe.
Ähnliches stellt man fest, wenn man „das rote Kreuz“ sagt und damit ein Kreuz, das rot ist, meint und nicht den Namen einer Hilfsorganisation. Erstes „rote“ erfordert eine leichte Erhebung der Tonhöhe (oder das zweite eine leichte Vertiefung?).
Zum ersten Mal habe ich verstanden, wie Chinesisch, eine Tonsprache, funktioniert und wie selbstverständlich diese Sprache für Chinesen sein muss. Im Chinesischen kann fast jedes Wort unterschiedlich betont werden, was auch erhebliche Bedeutungsunterschiede signalisiert. Das chinesische Ohr achtet automatisch auf diese Unterschiede.
Was passiert aber, wenn ein Chinese die falsche Tonlage heraushört – wie, z.B., beim Gespräch zwischen meiner Frau und mir? Das könnte theoretisch zu erheblichen Missverständnissen führen. Oder? Ich bin sicher, dass dies bereits abertausend Mal in China der Fall war. Wer weiß, wie oft die Geschichte der Welt dadurch verändert wurde?
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