„Guten Morgen Herr…“, hat er mir heute früh gesagt, als ich die Bäckerei betrat. Ich kenne ihn schon lange. Ein netter Mann in den mittleren Jahren, dem ich oft auf der Straße begegne. Er ist motorisch behindert, und zwar sehr. Unsere Gespräche verlaufen meistens nach dem gleichen Muster: Er fragt freundlich nach der Uhrzeit, oder erklärt mir, dass es Montag ist oder 2009. Es gibt aber auch andere Themen. Nein, er ist nicht geistig behindert. Er ist geistig anders. Man sieht ihm die Klarheit in den Augen an. Manchmal kann er ausgesprochen witzig und verschmitzt sein.
Zum Beispiel, als er heute früh sagte „Guten Morgen Herr…“ Nein, nicht „Herr Blumenthal“. Er kennt meinen Namen so wenig wie ich den seinen kenne.
Der Name, mit dem er mich begrüßte, war aber nicht einfach aus der Luft gegriffen. Es war ein bekannter Name, und er wollte damit etwas aussagen. So etwas wie „Herr Sarkozy“ oder „Herr Machiavelli“ oder „Herr General“. Er wollte also einen Witz machen. Seine Witze haben stets Tiefgang. Ich wiederum wollte auf gleiche, schlagfertige Weise antworten. Mir fiel die passende Retourkutsche aber nicht ein. Stattdessen sagte ich etwas anders, und dann kamen wir auf ein ganz anderes Thema: Wir sprachen über die Vergänglichkeit.
Inzwischen hatte ich meine dunkle Breze bezahlt, ich verabschiedete mich und ging. Erst dann fiel mir auf, dass ich den Namen, den er mir angedichtet hatte, bereits vergessen hatte. Er war weg, und ich kam bei bestem Willen nicht mehr drauf. Auch jetzt nicht mehr.
Ich musste an Simonides denken. Über ihn habe ich schon einmal geschrieben. Er geht in die Geschichte ein als der erste Schriftsteller, der Geld für seine Lyrik verlangt hatte, der erste also, der das Wort als Ware erachtete (Siehe „Das Wort als Ware“).
Manche Kenner halten ihn für den größten Lyriker der griechischen Antike. Von seinem umfangreichen Werk haben allerdings nur wenige Fetzen dem Zahn der Zeit widerstanden. Stellen Sie sich vor, es gäbe Goethe nur noch in Fragmenten!
Simonides war aber in der Antike auch aus einem anderen Grund bekannt. Er galt als Erfinder der Gedächtniskunst – der Kunst sich Dinge und Worte zu merken und zu wiedergeben.
Diese Kunst war in Griechenland und Rom besonders bei den Rhetoren beliebt. Denn sie haben ihre ellenlangen Plädoyers stets auswendig rezitiert.
Die Technik funktionierte ungefähr so: Zuerst musste der Rhetor eine genau gegliederte Rede schreiben. Das war die Voraussetzung. Dann stellte er sich vor, dass jede Säule und jede Kassette der Halle, wo er seine Rede vortragen sollte, einem Teil dieser Gliederung entspräche. Es handelte sich also um ein sehr raffiniertes Eselsbrückensystem, Die Elemente der Architektur dienten als die Aufhänger.
Es gibt übrigens eine andere Methode, Texte auswendig zu lernen. In meinen jungen Jahren habe ich geschauspielert und mitunter sehr lange Texte aus dem Gedächtnis vortragen müssen. Wir lernten aber Wort und Bewegung zu vereinen. Jeden Handgriff, jeden Schritt haben wir mit den entsprechenden Worten verlinkt. Es hat großartig geklappt.
Nun werden Sie zwei Techniken der Gedächtniskunst meistern können. In der Antike erzählte man, dass Simonides vorhatte, dem Feldherrn Themistokles die Gedächtniskunst beizubringen. Woraufhin Themistokles geantwortet haben soll : „Ich würde lieber die Kunst des Vergessens lernen. Denn mir fällt immer das ein, woran ich nicht erinnert werden möchte. Ich kann nicht vergessen, was ich vergessen möchte.“
Ich wäre der perfekte Lehrer für Themistokles gewesen. Denn ich vergesse fast alles, und das schon seit Jahrzehnten. Doch auch diese Kunst kann man sehr schnell meistern: Dafür braucht man nur in der Gegenwart zu leben. Ja, so einfach ist es. Somit kann man alles vergessen, was keinen Bezug zur Gegenwart hat!
Wenn Sie meinten, ich würde Sie an dieser Stelle mit dem Namen, den ich heute früh vergessen habe, überraschen, dann haben Sie noch nicht verstanden, wie perfekt ich die Kunst des Vergessens beherrsche.
Es lebe das Vergessen! Ende der ersten Lektion.
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