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Die letzten Tage der Paketdienstmode

Klingel Klingel.

„Ja, hallo?“

„Post.“

„Post? Es ist halb sieben. Es gibt keine Post um halbsieben.“

„Paket fur Nachbar.“

„Für wen?“

„Fur Ss’mitt.“

Okay, Frau Schmidt ist in der Tat sehr nett, und irgendwie bin ich in unserem Haus, wenn die Zusteller (notabene: Mehrzahl) läuten, doch die Paketdienststelle geworden. Schriftsteller zu sein hat eine Allüre wie unvermittelbarer Langzeitarbeitsloser. Also bin ich auch diesmal weich geworden…

„Aber nur dieses eine Mal. Verstehen Sie? Post bringt man unter Tag und nicht, wenn es schon Abend ist. Verstehen Sie?“

Ich mache auf. Unten poltert einer rum. Ich höre, wie er penetrant und vergeblich an Nachbartüren klingelt. Mich lässt er allerdings nun eine Weile einfach hängen. Nach ein paar Minuten will ich die Tür zumachen, doch schon galoppiert er der Treppe herauf.

Ein junger Mann mit traurigen, unschuldigen Augen und kurzen blonden Haaren steht mir entgegen. Er ist nicht groß, ein bisschen stämmig. Nein, er ist nicht von der Post, natürlich nicht, sondern von einem der vielen Paketdiensten, die in den letzten Jahren wie Schimmel auf einer überreifen Tomate blühen. Wenn man via Sprechanlage fragt, nennen sich alle „Post“. Sie wissen, dass man bereits dressiert ist, die Haustür per Knopf zu entriegeln, wenn man dieses Wort vernimmt.

„Das ist das letzte Mal am Abend. Verstehen Sie. Ich mache für Sie gerne die Tür auf, wenn es Tag ist. Aber abends nicht mehr. Kommt nicht mehr in Frage. Verstehen Sie. Abends bringt man keine Pakete. Zumindest mir keine.“

Er schaut mich mit großen, unschuldigen, traurigen Augen an. Das Gesicht ist rund wie eine Uhr ohne Zeiger. Er blinzelt ein paarmal. Er lächelt, schüttelt ahnungslos mit dem Kopf. „Nix verstehen.“

Aha, denk ich. Was nun? „Zu spät jetzt“, sag ich sehr langsam und zeige dabei auf meine Armbanduhr. Zugleich schüttele ich mit dem Kopf. „Keine Post jetzt. Nein. Zu spät. Verstehen Sie?“

Ein schüchterner Blick. Er lächelt und macht eine Geste, die „nein“ bedeuten soll.

„Nix Post jetzt,“ sag ich noch knapper. Ich zeig wieder auf meine Uhr und bewege meinen Zeigerfinger gegen den Uhrzeigersinn „Früh. Ja. Tag. Sonne. Jetzt Nacht. Nein. Letztes Mal.“

O je. Dass ich den Tag erleben muss, dass ich mit einem Fremden „Gastarbeiterdeutsch“ (notabene: Das Wort ist politisch unkorrekt) spreche. Hilfe! Auch mit mir haben Leute mal so geredet. Sie nahmen meinen Akzent wahr und meinte, ich bin halt doof.

Immerhin ist er glücklich dass er mir das Paket für Frau Schmidt in die Hand drücken darf. Er lässt mich unterschreiben und geht munter seinen Weg.

Am nächsten Tag. Es ist 14h. Es klingelt. Ich gehe zur Tür. „Ja, bitte?“ frage ich.

„Post.“

Er ist es wieder. Auch diesmal fliegt er die Treppe hoch. Er lächelt breit: „Paket fur Mjiller.“

Frau Müller ist auch nett. Natürlich nehme ich das Paket entgegen. Aber nun denke ich: Hat er mich vielleicht doch verstanden. Kommt er künftig nur noch bei Tag. „Welche Sprache sprechen Sie?“ frage ich.

„Moldava…ähm…Rumänisch.“

„Ich leider nicht. Ein bisschen wie Italienisch, oder?“

„Italienisch, Rumänisch…bisschen.“ Er lächelt. „Danke. Tschüss.“ Und schnell springt er der Treppe runter.

Aber: Klingelt er bei mir auch morgen Abend wieder? Das ist die große Frage.

Willkommen, liebe Zeitgenossen, im Dienstleistungszeitalter. Alles billig. Alle reden mit Händen und Füßen. Und keiner geht Shopping. Ihre Welt.

Hand ins Feuer: War es früher nicht schöner? Ich meine damals, als man noch ins Fachgeschäft ging.

Halbe und ganze Dinge

Unfair. Ich verbringe ein halbes Leben in der Fremdsprache, und trotzdem stoße ich auf ganz einfache deutsche Vokabel, die mir total fremd sind. Vielleicht erleben Biologen das gleiche, wenn sie während eines Madagaskarbesuchs auf eine Eidechse treffen, von der man bisher keine Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gibt.

In meinem Fall geht es um das Wort „halbscharig“. Sie kennen es ganz bestimmt. Ich nicht.

Ich habe es erst in der Münchener Abendzeitung entdeckt - in einer kurzen Notiz zum Thema „Schrottrad-Aktion“.

Hier der Satz: „Wer sein halbscharige Mühle also noch sichern will: jetzt aber schnell!“

„Halbscharige Mühle“? Zugegeben. Auch das Wort „Mühle“ hab ich als Bezeichnung für ein Fahrrad nie gehört. Ist aber nachvollziehbar. Auch eine Mühle dreht sich.

Aber „halbscharig“? Aus dem Zusammenhang war ich sicher, dass es „heruntergekommen“, „schrottreif“, „abgenutzt“ und dergleichen bedeuten musste. Ich war aber neugierig, noch mehr zu erfahren. Was tut ein sprachinteressierter Mensch? Er schlägt im Wörterbuch nach.

Ganz logisch wollte ich zuerst unter der Ganzheitsform „scharig“ suchen.

Also langte ich nach meinem Duden… Nur ein Witz! Wir leben im Jahr 2016. Ich hab meine Wiktionary-App für die deutsche Sprache konsultiert. Fehlanzeige. Die App kannte zwar „Schar“ (ich auch), nicht jedoch „scharig“. Also hab ich gegoogelt…

und wurde natürlich postwendend fündig. „Scharig?“Es ist ein bayrisches Wort und bedeutet irgendwie „Dachrinne“ oder so etwas. Dann muss „halbscharig“ die Hälfte einer Dachrinne sein. Oder?

„Kennst du das Wort ‚scharig‘?“fragte ich meine Frau

„Nein noch nie gehört. Sag mir den Zusammenhang.“

„Ich bin auf das Wort in der AZ gestoßen…“ und ich hab ihr den Satz vorgelesen.

„Ach, ‚halbscharig‘! Natürlich. Kennt jeder. Es bedeutet ‚heruntergekommen‘ oder so.“

„Das hab ich gedacht. Etwas wie ‚verwahrlost‘. Doch wieso kenn ich es nicht?“

„Tja. Es gibt schon einiges, das du nicht weißt.“

Nach diesem einleuchtenden Gespräch kam ich endlich auf die Idee, direkt unter Stichwort „halbscharig“ zu suchen, was, wie es sich schnell herausstellte, die bayerische Form von „halbschürig“ ist, ein hochdeutsches Wort, das mittlerweile selten geworden ist; das bayerische hingegen ist noch im Gebrauch.

Der Hintergrund: Früher haben manche Schäfer ihre Schafe zweimal im Jahr geschoren. Wahrscheinlich, um mehr Gewinn zu erzielen. Allerdings: Die Wolle galt als qualitativ schlechter als die Wolle eines Schafs, das nur einmal im Jahr geschoren wurde.

Halbschürige Wolle war also minderwertig, mangelhaft, unausgegoren usw.

Übrigens: Auf Englisch (zumindest auf amer. Englisch) haben wir den Begriff „half-assed“ (wörtlich: „halbarschig“) im Sinne von „unausgegoren“, „dilettantisch“. Etwa: ein „half-assed attempt“. „Whole-assed“ gibt es ebenso wenig wie “ganzschürig”.

Nie aber würde ich ein altes Fahrrad als “half-assed” bezeichnen; diese Erläuterung von „halbscharig“ aber sehr wohl.

Warum ich kein Astrologe bin

Ich war einmal Astrologe - damals in Santa Barbara, Kalifornien, einer Stadt, in der die Wahrsagerei (wozu auch die Astrologie zählte) gesetzlich untersagt war.

Ich war ein richtiger Astrologe. Das heißt: Ich bediente mich dicker Wälzer mit komplizierten mathematischen Tabellen, um Horoskope zu errechnen.

Es war vor der Zeit des PCs (Personal Computers und Political Correctness). Ich verwendete sogar Logarithmen, um die Lage eines Sterns bzw. eines Planeten genau festzustellen.

Um das Verbot der Wahrsagerei zu umgehen, war ich auf einen Fernsprechauftragsdienst angewiesen. Dieser war in der Nachbarstadt, Goleta lokalisiert, wo es im Gegensatz zu Santa Barbara erlaubt war, meinen Beruf auszuüben. Die Kundschaft hinterließ beim Auftragsdienst eine Telefonnummer, ich rief zurück.

Meine Inserate erschienen allerdings - anstandslos - in der Santa Barbara Zeitung.

Wenn ich heute daran denke, glaube ich nicht, dass die Stadt Santa Barbara es so genau mit dem Verbot der Wahrsagerei genommen hat.

Ca. zwei Jahre verdiente ich meinen bescheidenen Lebensunterhalt mit der Astrologie. Das Gros der Kundschaft war übrigens weiblich - meistens in den mittleren Jahren. Meine älteste Kundin war 1885 geboren, eine sehr wohlhabende Dame, die sich mit mir in Verbindung gesetzt hatte, weil sie erfahren wollte, ob ihr Bankier sie betröge. Ich konnte mitnichten wissen, ob er sie betröge oder nicht. Ich kannte ihn gar nicht, und seine Geburtsdaten (also Zeit und Ort) standen mir ohnehin nicht zur Verfügung - was für einen Astrologen das wichtigste Werkzeug wäre. Trotzdem war ich ein gewissenhafter junger Mann und versuchte das Problem folgendermaßen zu lösen: Ich suchte im Horoskop meiner Auftragsgeberin nach Spuren einer finanziellen Benachteiligung. Ich fand sie aber nirgends und erklärte, ich sei der Meinung, sie werde nicht übervorteilt. Nebenbei: Ich bin überzeugt, dass die Frage der alten Dame ein Missbrauch der Astrologie war. Sie war aber eine lustige Person.

Und noch etwas: Sie hatte ein Haustier, einen kleinen Affen. Während ich auf dem Sofa da saß und das Horoskop hochkonzentriert deutete, sprang das Viech von einer Seite des Sofas zur anderen und benutzte dafür meinen Kopf als Sprungbrett.

Die meisten Kundinnen wollten indes nicht wissen, ob ihre Bankiers krumme Dinge drehten. Die meisten meiner Kundinnen waren einsame Frauen, die mich aus Verzweiflung zu Hilfe gerufen hatten, damit ich eine der folgenden drei Fragen beantworte: 1.) Wann finde ich Arbeit wieder? 2.) Wann tritt eine neue Liebe in mein Leben auf? 3.) Wann geht es wieder bergauf mit meiner Gesundheit?

Ich habe immer ca. 2 Stunden laboriert, um ein Horoskop zu erstellen. Dazu verbrachte ich noch ca. 2 Stunden bei meinen Kundinnen, um das Horoskop gewissenhaft zu deuten. Ich bekam dafür 25$ - damals kein schlechtes Geld.

Mir war klar, dass ich eine Verantwortung gegenüber meiner Klientinnen getragen habe. Ebenso wusste ich, dass ich nicht in der Lage war, die schwerwiegenden Probleme meiner Kundinnen mit ein paar tröstlichen Worten zu vertreiben.

Trotzdem wollte ich helfen: Ich betrachtete mich deshalb lediglich als Boten der falschen Hoffnung, eine Erkenntnis, die ich freilich nur für mich behielt. Doch es war so. Immerhin war ich der Meinung, dass auch eine falsche Hoffnung besser wäre als keine.

Manchmal war ich überzeugt, dass ich eigentlich als „Gigolo“ tätig war. Ich war nämlich ein hübscher Knabe und hab mich vor einer Sitzung immer fein ausgeputzt, d.h., mit weißem Hemd und dunkler Weste. Sicherlich hatte auch das meinen Kundinnen gefallen.

Und am Ende der zweistündigen Sitzung fühlten sich meine Damen doch wohler in ihrer Haut.

Dennoch habe ich den Beruf eines Tages jäh auf den Nagel gehängt. Hier der Grund:

„Weiß du, was du bist?“, sagte mir eines Abends Damian. Er betrieb eine Piano-Bar in Santa Barbara mit dem Namen „Mr. D.‘s Joie de Vivre Club“. Manchmal habe ich in seinem Club auch neue Klientinnen angeworben. „Du bist ein Hochstapler!“

Mehr sagte er nicht, doch ich habe Damians schonungslose Analyse meines Berufs zu Herzen genommen. Und bald stellte ich die Geschäfte ein.

Man kann die Astrologie rechtfertigen, wie man will. Letztendlich ist es aber fraglich, ob sie überhaupt sinnvoll ist…es sei denn, man bekennt sich dazu, lediglich als Botschafter der falschen Hoffnung zu agieren.

Mit sechsundzwanzig Jahren habe ich aufgehört, Astrologe zu sein. Im gleichen Alter hab ich ebenfalls aufgehört, Ladendieb zu sein. Doch das ist eine andere Geschichte…

Ein „völkisch“, ein „verführerisch“

Meine Frau teilte mir neulich mit, dass Frauke Petry den Begriff „völkisch“ rehabilitieren wollte, also ihn positiv besetzen.

Meine Frau war entsetzt darüber. Ich nicht. Schöne Idee, hab ich gedacht. Jedes Wort kann man positiv besetzen. Oder?

Okay, vielleicht nicht jedes Wort aber viele, ja, vielleicht die meisten. Zum Beispiel das Wort „Ekel“. Während meiner Zeit als Journalist hatte ich die Idee, einen Text übers Ekel zu schreiben. „Lieber Herr Blumenthal“, sagte mir mein Chef, „lassen Sie’s. Wir wollen nicht noch mehr Ekel, als es bereits gibt, in die Welt setzen. Oder?“

„Und wie wäre es, wenn ich den Text ‚Das Schöne am Ekel‘ nenne?“

„Oha, Herr Blumenthal, wenn es Ihnen gelingt, mich zu überzeugen, dass das Ekel eine schöne Seite hat, dann nix wie los. Spitzen Sie Ihren Bleistift.“

Es war mir gelungen, ihn zu überzeugen. Leider hab ich den Inhalt des Beitrags inzwischen vergessen. Wahrscheinlich spielte ich mit der Tatsache, dass das Ekel eigentlich fürs Überleben unentbehrlich ist. Ich meine: Was mich „anekelt“, das vermeide ich. So gesehen, hat das Ekel doch seine schöne Seite.

Aber das Schöne am „völkisch“? Gibt es das?

Vor einigen Jahren hat der Sprachbloggeur einen politisch unkorrekten Text über die Losung „Jedem das Seine“ geschrieben, mit dem Ziel sie zu rehabilitieren. Vielleicht hat ihn Frau(ke) Petry mal gelesen. Wer weiß? In diesem Text argumentierte ich, dass dieser Slogan in anderen Sprachen - zum Beispiel im Französischen und im Englischen - schon seit immer positiv besetzt war. Etwa: „Chaqu’un à son goût“ und „To each his own“. Bloß weil mal ein Hornochse auf die zynische Idee gekommen ist, so behauptete ich, diese Redewendung als Losung fürs Buchenwald-KZ zu missbrauchen, muss heute fast jeder Deutsch Sprechende einen Bogen um diese altgediegene Redewendung machen. Irgendwie unfair.

Aber zurück zum „völkisch“.

Denken Sie an „Volk“, das bereits positiv besetzt ist. Man sagt „das deutsche Volk“ und macht sich dabei keineswegs lächerlich. Man kann das Ersparte in der Volksraiffeisenbank (nein, hier keine Schleichwerbung…leider) bunkern, ohne dass man als, wie man früher sagte „rechts von der CSU“ ausgelagert wird. Es gibt auch „Volksbäder“ - zum Beispiel das hübsche Jugendstil „Müller‘sche Volksbad“ in München, und keiner muss dort seinen Arierpass zeigen.

Schließlich ist „völkisch“ das Adjektiv zu „Volk“. Trotzdem sind weder das deutsche Volk, die Volksraiffeisenbank noch das hübsche Müller‘sche Volksbad völkisch. Und das scheint das Problem zu sein.

Vielleicht weiß Frau(ke) Petry, warum es so ist.

Immerhin: Wer das Wort „volkisch“ positiv besetzen will, muss wohl wissen, wie man’s tut.

Ich denke, ich bin ohnehin der Falsche, dieses Thema aufzugreifen. Schließlich bin ich Amerikaner („US-Amerikaner“ sagen die Südamerikaner). Auf Englisch heißt das amerikanische Volk „the American people“. Für „people“ kenn ich keine adjektivische Form. Vielleicht „public“. Doch das ist irgendwie was anders. Wir reden zwar vom „public good“ aber auch vom „public restroom“ - zu Deutsch: „öffentliche Erfrischungsanstalt“. Und dann gibt es „populist“. Doch dieses Wort ist fast stets negativ besetzt...

Ich sehe. Die Sache wird zusehends komplizierter. Vielleicht hilft uns mal Frau(ke) Petry aus dem Schlamassel. Denn sie weiß sicherlich ganz genau, wie man „völkisch“ positiv zu besetzen hat.

PS Liebe Leser, liebe Bots, der Sprachbloggeur schließt für ein paar Wochen seine Wortfabrik. Nächster neuer Beitrag ist für Anfang Oktober vorgesehen.

Der Faden des Gesprächs

Wir befinden uns im Paradies. Ja, treue Leser, ich meine damit, wie gewohnt, meinen Lieblingsobstundgemüseladen.

Ich: Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau M., Ihre Tomaten sind köstlich. Doch, meine Frau und ich waren letzte Woche bei Freunden nahe Pforzheim und bekamen dort Tomaten frisch von deren Garten. Wenn ich ehrlich sprechen darf: Sie waren noch himmlischer als die im Paradies.

Frau M.: Selbstverständlich, dürfen Sie ehrlich drüber sprechen, lieber Herr Sprachbloggeur. Aber wissen Sie, warum die dortigen Tomaten so köstlich waren? Weil es keine genormten Tomaten waren, wie jene, die für den Handel bestimmt sind und so gezüchtigt werden, dass sie lange halten, eine perfekte Form vorweisen und die genau richtige Farbe haben.

Ich: Meinen Sie, man bekommt in der EU nur noch Frankensteintomaten?

Frau M.: Tja, vielleicht a bisserl scho.

Das Gespräch geht weiter. Das mit den Tomaten führt nun zu einem Gespräch über Düfte, was uns wiederum irgendwie auf das Thema Verlust des Geruchsinns bringt. Ich erzähle von einem wunderbaren Buch, das ich mal gelesen hatte, „Wie riecht die Welt“. Es handelt von einem Mann, der seinen Geruchssinn verloren hat.

Frau M.: Ein furchtbares Schicksal.

Was nun Frau M. animiert, von diversen Menschen, die sie gekannt hat, zu erzählen, denen eben dieses Schicksal ereilte.

Ich: Der gesunde Mensch ahnt kaum, wie sehr er vom Geruch- und Geschmacksinn abhängig ist.

Frau M.: Ja, viel Freude geht auf Nimmerwiedersehen verloren.

Ich: Auch das Sexuelle wird in Mitleidenschaft gezogen. Denn auch da nimmt das Riechen eine wesentliche Rolle ein.

Frau M.: Überhaupt für die Partnerwahl. Deswegen heißt es ja: „Den kann ich nicht riechen.“

Nun erzähle ich von jemandem, der an Zungenkrebs erkrankt war. Durch eine äußerst komplizierte Operation wurde ihm eine Art künstliche Zunge verpasst.

Ich: Er musste von Neuem das Sprechen lernen, hat aber seinen Geschmacksinn nie wieder erlangt.

Das Stichwort Operation führt jetzt zum Thema Anästhesieunverträglichkeit.

Frau M.: Es gibt Menschen, die allergisch gegen gewisse Betäubungsmittel sind. Doch leider erfahren dies die Ärzte erst, nachdem der Patient nicht mehr aufwacht.

Ich: Auch das ist ein Schicksal.

Frau M.: Es handelt sich jedenfalls um ein genetisches Problem. Wenn eine in der Familie das hatte, dann sollten sich die anderen Familienmitglieder möglichst genetisch untersuchen lassen.

Ich: Schrecklich. Je älter man wird, umso mehr stellt man fest, wie gefährlich das Leben ist.

An diesem Punkt gelangt, fange ich an von Menschen meiner Bekanntschaft zu erzählen, die todkrank sind. Zugleich gebe ich zu erkennen, dass ich jetzt bereit bin, meine Erdbeeren, meine Birne, meine Äpfel und meine Aprikosen zu bezahlen, um nach Hause zu gehen.

Frau M.: Aber Herr Sprachbloggeur, so dürfen wir unser Gespräch nicht beenden. Mir wär das viel zu gruselig. Wir müssen mit etwas Lebensbejahendem schließen.

Ich: Hmm. Wie wär es mit den aromatischen Tomaten, die meine Frau und ich genießen durften, als wir unsere Freunde besuchten? Sie waren wirklich sehr lecker. Ich denke immer noch daran.

Frau M.: Ich bekomme schon selbst jetzt Appetit drauf.

Mein Freund der Alzheimer Kranke

Lange hatte ich nicht gewusst, dass mein Nachbar, Herr S. an Alzheimer litt. Wir haben uns stets bestens unterhalten. Er hat mir endlose Geschichten aus seiner Jugend und aus dem Krieg erzählt, hat seinen Vater, zu dem er ein ambivalentes Verhältnis hatte, gekonnt porträtiert, hat mir unterhaltsame Ereignisse aus seinem Geschäftsleben und über die skurrilen Figuren, mit denen er damals zu tun hatte, erzählt. Er war nämlich Rechtsanwalt in Ruhestand.

Kann sein, dass er manchmal eine Geschichte wiederholte, aber so what. Das tu ich auch, wenn mir etwas besonders gefällt.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau ich erfuhr, dass er Alzheimer krank war. Aber auch nachdem ich Bescheid wusste, blieb es bei business as usual. Unsere Gespräche waren ebenso unterhaltsam wie immer.

Herr S. hat mich niemals mit Namen genannt. Das war mir aber nie aufgefallen. Denn ich habe seinen Namen auch niemals in den Mund genommen. Wir waren uns halt beidseitig sympathisch. Mehr ist nicht zu sagen.

Er war der geborene Geschichtenerzähler, niemals langweilig und stets spontan und wortgewandt. Ich wünschte, ich könnte so schön erzählen wie er.

Okay, manchmal war er ja doch ein bisschen vergesslich, was ich nur dann feststellte, weil seine Schusseligkeit seiner Frau auf die Nerven ging. Der Partner/die Partnerin möchte, wenn er oder sie redet, das Gefühl haben, dass der andere zuhört. Wenn es nicht so ist, kann man die Fassung verlieren. So war es bei ihr. Das ist verständlich.

Doch manchmal wurden diese privaten Auseinandersetzungen vor meiner Frau und mir ausgetragen, was mir peinlich war. Ich wäre in solchen Augenblicken am liebsten woanders gewesen.

Eines Abends saßen wir bei Familie S. zu Tisch. Frau S. hat immer köstliche Sachen serviert. Auf einmal griff Frau S. ihren Mann wegen irgendeiner Kleinigkeit heftig an und schimpfte über seine Vergesslichkeit. Er reagierte ziemlich hilflos. Es war nicht schön zu sehen. Doch bald setzten wir, er und ich, unser Gespräch fort, und alles war…vergessen.

Aber dann auf einmal hielt er kurz inne und sagte: „Wissen Sie. Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie Sie heißen“

Daraufhin antwortete ich spontan: „Ist das wichtig?“

Er schaute mich nachdenklich an, dann zuckte er mit den Achseln: „Eigentlich nicht.“

Und dann redeten wir weiter. Keine Ahnung worüber, aber er blieb nach wie vor ein meistervoller Geschichtenerzähler.

Hat er meinen Namen vergessen, weil er Alzheimer krank war? Erst Jahre später fiel mir ein, dass er womöglich zu keiner Zeit meinen Namen kannte. So war er halt. Erzähler hören oft am liebsten die eigene Stimme an.

War das wichtig, dass er meinen Namen nicht wusste?

Eigentlich nicht.

Irgendwann sind wir umgezogen, und irgendwann wurde sein Zustand hoffnungslos, wie es halt ist bei Alzheimer Kranken. Das habe ich jedenfalls später erfahren. Aber so ist es, wenn man an dieser Krankheit leidet.
Ich habe vergessen, wie und wann er gestorben ist. Doch auch das ist nicht wichtig.

Nett Sie kennengelernt zu haben, Herr S.

PS Ich glaube, dass es in der deutschen Sprache den Begriff „der Alzheimer Kranke“ nicht gibt. Aber so what.

Die Menschheit und ihre Menschlichkeit

Leser des Sprachbloggeurs bekommen heute einen Exklusivbericht, da das vorgesehene Thema sonst niemand anpackt. Leider.

Es geht um die vielen Geschichten der letzten Monate über diverse „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Wahrlich keine Mangelware momentan. Mal ISIS, mal Assad, mal Boko Haram….Hab ich etwas vergessen? Ganz bestimmt.

Wie Sie höre auch ich diese Floskel „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und denke: „Unrat“, „zum Kotzen“ oder „Idioten“ usw. Doch manchmal kommt mir auch etwas ganz anders in den Kopf. Ich denke: Verbrechen… gegen die Menschlichkeit….wie bitte?

Geht’s Ihnen manchmal auch so? Ich meine: Was ist denn ein Verbrechen gegen die „Menschlichkeit“?

Genauer gesagt: Was tut der ISIS oder Boko Haram, oder Assad usw., dass man ihre Handlungen als gegen die „Menschlichkeit“ versteht? Werden die zu ruppig oder schrecklich unhöflich?

Ich drück mich vielleicht anders aus: Kommt Ihnen in diesem Zusammenhang das Wort „Menschlichkeit“ nicht ein bisschen…äähm…schwach vor als Beschreibung für die Verbrechen der oben Erwähnten?

Mir schon. Und ich weiß, warum:

Der Gemeinplatz, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, ist nämlich ein Übersetzungsfehler. Man kann die Sache sogar genau zurückverfolgen. Und das werde ich jetzt tun.

Wir schreiben das goldene Jahr 1946….

Sicherlich ist Ihnen das Nürnberger Kriegsverbrecherverfahren noch ein Begriff. Falls nicht, hier ganz kurz: 1946 wurden in Nürnberg diverse hohe Tiere der Nazihierarchie als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt.

Um dieses Gerichtsverfahren zu rechtfertigen, wurde von den Alliierten der Begriff „crimes against humanity“ aus dem Boden gestampft. Das Wort „humanity“ hat aber auf Englisch zwei Bedeutungen. Die eine wird im Deutschen mit „Menschheit“, die andere mit „Menschlichkeit“ wiedergeben. In Nürnberg war freilich der erste Sinn gemeint. Das ist ja klar. Den Kriegsverbrechern wurden nämlich Verbrechen gegen die gesamte Menschheit vorgeworfen. Das heißt: Ihre Verbrechen waren total menschenverachtend.

Was den zweiten Sinn dieses Wortes betrifft: Den kennt jeder - auch der Deutsche. In den USA, z.B., entscheidet sich ein Student für eine akademische Laufbahn in den „humanities“ (also Sprache, Literatur, Geschichte usw.) oder in den „sciences“ (Physik, Chemie, Biologie, Informatik usw.). Wer sich den Ruf als Wohltätiger erworben hat, wird als „humanitarian“ bezeichnet etc. Im Deutschen kennt man den „Humanismus“, und das „humanistische“ Gymnasium usw.

Wohl ist in Nürnberg dem deutschen Übersetzer des Terminus „crimes against humanity“ (keine Ahnung, wer das war) ein Fehler unterlaufen. Anstatt „Verbrechen gegen die Menschheit“ hat er mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt. Warum, weiß nur er.

Lange war ich überzeugt, dass ich der einzige bin, der die Formulierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in die falsche Kehle bekommt. Doch nun hab ich gelesen, dass schon damals der franz. Richter in Nürnberg, M. Donnedieu de Fabres, diese Übersetzung als „irreführend“ kritisiert hatte. Hanna Arendt hat es einmal als „das Understatement des Jahrhunderts“ bezeichnet. Das sind nur zwei von vielen Skeptikern.

Dass es sich bei dieser Floskel um einen Übersetzungsfehler handelt, ist inzwischen längst vergessen. Heute müssen wir uns deshalb damit abfinden, dass sich Massenmörder sich nicht sehr menschlich verhalten. Sie sollten sich schämen.

Sind Bots männlich oder weiblich?

Liebe Leser, liebe Bots, eine Frage zu Beginn:

Was ist der Unterschied zwischen einem Leser und einem Bot? Also, „thinking caps“ aufsetzen und gründlich überlegen.

Soll ich die Antwort verraten? Was heißt Antwort. Es gibt mehrere Antworten.

Erste: Leser haben Augen, Nasen usw., und sie atmen Sauerstoff, um zu überleben. Bots haben keine Augen, keine Nasen usw. Sie atmen überhaupt nicht. Sie existieren nur, solange der Strom fließt.

Zweite: Leser haben Meinungen. Sie sind in der Lage, einen Text für gut oder schlecht zu halten. Sie sind sogar in der Lage, „Leser“-Kommentare zu schreiben. Bei mir aber momentan leider nicht, zumindest noch nicht. Seitdem unsere aller Feinde, die Schädlinge, diese Seite zwei Monate lang lahmgelegt hatten, wurde die Option „Leserkommentare“ vorübergehend abgeschaltet. Bots kommentieren nie - ich meine, wenn man mit „kommentieren“ „eine Meinung mitteilen“ meint. Bots sind lediglich in der Lage, Werbung und giftiges Zeug zu hinterlassen.

Dritte: Leser sind für einen Schriftsteller eine Notwendigkeit. Denn schließlich schreibt der Schriftsteller für sie. Bots bringen nur einen Vorteil - zumindest wenn die Besucherzahl wichtig ist: Sie werden gezählt. Auch wenn sie keine richtigen Leser sind, ist das für die Zahlenstatistik wurscht. Das „Ranking“ steigt.

Vierte: Leser unterliegen den Gesetzen der politischen Korrektheit. Weshalb es manchmal als unziemlich gilt von „Lesern“ gar zu sprechen. Es müsste eigentlich „Leser und Leserinnen“ heißen oder „LeserInnen“ oder „Leser*innen“ usw. Bots hingegen sind halt Bots. Immer. Ein Bot ist ein Bot ist ein Bot. Auch wenn der Bot grammatikalisch männlich ist, kommen nicht einmal die eifrigsten Verfechter*Innen der politischen Korrektheit auf die Idee, auf „Bot*Innen“ zu bestehen. Man könnte ohnehin meinen, dass „Bot*Innen“ etwas mit „Boten“ zu tun hätten.

Yep, Bots bleiben Bots, und Terroristen Terroristen. Nicht einmal ein(e) feurige(r) Verfechter(in) der sprachlichen Gleichheit erträumt sich das Wort „Terrorist*Innen“. Gleiches gilt für die „Räuber*Innen“ und „Idiot*Innen“.

Gerade fällt mir ein: Wieso gibt es keine „Gästin“ in der dt. Sprache und folglich keine „Gäst*Innen“?

Nebenbei: Auf Englisch wird die Gleichberechtigung der Nomina anders ins Leben gerufen: Man hat die weiblichen Formen von Nomina schlichtweg aus dem Verkehr gezogen. Beispiel: In den letzten Jahren sind die „actresses“ (Schauspielerinnen) fast ganz von der Bühne verschwunden. Der Gleichberechtigung zuliebe sind alle Schauspielende heute „actors“ geworden.

Irgendwie unergründlich, die Sache mit der Geschlechtlichkeit in der Sprache. Manche Sprachen unterscheiden gar nicht zwischen „er“ und „sie“. Ungarisch zum Beispiel. Auch Türkisch nicht. Dafür grüßt ein Ungar eine Frau anders als einen Mann. Zum Mann sagt Mann „jo napot“, also guten Tag. Zu einer Frau sagt er „kezét czókolom“ (keset tschokolom): „küss die Hand“.
Mit Bots ist alles einfacher. Alle Bots sind von Hause aus gleichberechtigt. Immerhin etwas.

PS (und Themawechsel): Hier nun ein wenig Schleichwerbung: Mein Freund Wolfgang Berends, ein meisterhafter Lyriker in der deutschen Sprache, hat einen sehr lesenswerten Gedichtband veröffentlicht: „Nach Durchsicht der Wolken“. Schöner Titel, gell? Sein Buch wurde neulich für den „The-Beauty-and-the-Book-Award“ fürs hübsche Cover vorgeschlagen. Man kann sich dieses Cover auf der Seite

http://beautyandbook.com/wolfgang-berends-nach-durchsicht-der-wolken/#

selbst bewundern. Schauen Sie sich es an. Ich bin überzeugt, es wird Ihnen gefallen. Wenn ja, dürfen Sie auch „voten“. Siehe da.

Wichtige Post aus der Türkei

Letzte Woche erreichte mich eine Mail in türkischer Sprache. Ich denke, dass es Türkisch war. Vielleicht war es Ungarisch. Nein, das Ungarische hat andere Akzentzeichen. Oder war es vielleicht Finnisch? Nein, definitiv nicht. Das Finnische hat lauter Doppelvokale, die nicht zu übersehen sind.

Auch Türkisch hat Sonderzeichen, manche wie im Deutschen: also „ü“ und „ö“. Auch ein „ç“ hat das Türkische, das wie das französische „ç“ aussieht aber keins ist, da das franz. Zeichen scharfes „Ess“, das türkische „tsch“ bedeutet. Außerdem hat das Türkische ein „ş“, das für „sch“ steht und ein „ğ“, das kein „g“ ist, sondern ein Vokal wie das englische „w“. Herr „Erdoğan“ ist eigentlich Herr „Er-do-uan“.

Deshalb bin ich überzeugt, dass die Mail, die mich letzte Woche erreichte, in türkischer Sprache war. Es hatte all die oben erwähnten Sonderzeichen.

Schade, dass ich den Text nicht lesen konnte. Ich verstehe kein Türkisch, und da ich keine Zeit hatte, Ayaz zu fragen, einen ganz netten Jungen, den ich kenne, habe ich die Mail mehr oder weniger links liegen lassen.

Ein Fehler, wie es sich herausstellte. Denn gestern rief mich Ayaz an.

Ayaz: Weißt du, dass Erdoğan dich in seiner Rede in Istanbul erwähnt hat?

Ich: Mich? Diese Rede vor einer Million Anhängern? Wieso mich?

Ayaz: Weil er nie eine Antwort auf seine Mail an Dich bekommen hat. Das hat er dir sehr übel genommen.

Ich: Ach so! Ja, natürlich. Letzte Woche hab ich so eine Mail auf Türkisch erhalten. War sie von ihm?

Ayaz: Na klar. Er wollte deine Internetplattform benutzen, um einen eigenen Blog zu schreiben.

Ich: Nein. Du machst Witze. Warum ausgerechnet beim Sprachbloggeur?

Ayaz: Weil man ihm weismachte, dass dein Blog über alles beliebt ist in Deutschland. Er meinte, der Sprachbloggeur wäre deshalb der ideale Schauplatz, um gegen die Gülenisten zu schwadronieren.

Ich: Ich bin gerührt, ja geschmeichelt, aber er ist schlecht informiert. Die meisten Hits beim Sprachbloggeur kommen von drive-by-Bots. Es sind keine Menschen, trotzdem aber, geb ich zu, nicht schlecht für das Ranking. Ich wusste ohnehin nicht, wie man ihm das auf Türkisch mitteilen könnte.

Ayaz: Hilft alles nicht. Der Präsident ist untröstlich beleidigt. In seiner Rede wirst du als Beispiel hervorgehoben, wie undemokratisch man sei in Deutschland. Man nehme gern, gebe ungern, sagte er.

Ich: Aber wie kommt er dazu, mir auf Türkisch zu schreiben, wenn ich kein Türkisch kann? Wenn er Deutsch geschrieben hätte, hätte ich ihm vielleicht geholfen, auch wenn ich nicht unbedingt überzeugt bin, dass er recht hat, ich meine das mit den Gülenisten.

Ayaz: Er kann nur Türkisch, und er meinte, dass du als Sprachenkenner auch Türkisch kannst bzw. lernen solltest.

Ich: Und was mach ich jetzt?

Ayaz: Am besten schreibst du ihm eine Entschuldigung, aber auf Türkisch.

Ich: Ich kann aber kein Türkisch.

Ayaz: Dann schreib meinetwegen auf Deutsch oder Englisch.

Ich: Aber du sagtest, dass er nur Türkisch kann.

Ayaz: Egal, er wird ohnehin alles so deuten, wie er will. Ein Tipp aber: Falls du mal eine Reise in die Türkei geplant hast…

Ich: Das will meine Frau schon immer…

Ayaz: Besser wäre es, etwa zwanzig Jahre zu warten. Vielleicht hat er sich bis dahin wieder beruhigt…

Einen erwischt es immer

Seien Sie nur froh, dass es Sie heute nicht erwischt hat. Möglich wäre das schon. Dann wären Sie nicht dazu gekommen, diese Glosse zu lesen.

Oder mich. Denn beinahe hat es mich heute tatsächlich erwischt.

Die Fakten: Ich bin - bei grün - über die Straße gegangen und wollte, auf der anderen Straßenseite angekommen, über die Querstraße links weiter gehen. Ich wandte mich also nach links.

Gerade noch erblickte ich aus dem Augenwinkel den Radlrowdy. So heißen sie in Bayern. Der ist an mir mit einem Affenzahn (komisches Idiom, gell?) vorbeigesaust und hätte mich beinah zamma‘fahrn, wie man hier sagt. Ich hab grad noch angehalten. Er flitzte wortlos weiter, ohne zu bremsen.

Keine Zeit, um mit einer schlagfertigen Antwort aufs Attentat zu reagieren. Keine Zeit um derb zu schimpfen. Nein, ich stand da wie der arglose Tor Parzifal und lächelte verblödet in die Welt.

Der Beinahe-Attentäter war im Nu zwei Straßen weiter, als ich mich an eine Dame wandte und sagte: „Gefährlich ist das Leben.“ Sie schaute mich nur stumm an, als wäre ihr mein Schicksal ziemlich „wurscht“, wie man hier sagt.

Nun fiel mir ein, dass der Linksdreh eigentlich überflüssig war. Ich wollte nämlich zur Post. Wenn ich getan hätte, was ich zu tun vorhatte, wäre nix passiert. Komisch, wie das manchmal ist.

Ich ging also weiter und bin einer Frau begegnet, die mich freundlich anlächelte und sagte: „Der hat Sie beinah zammafahrn. So a Depp.“

„Ja, das Leben ist gefährlich“, wiederholte ich, „Ich mache aber weiter.“

Notabene: All dies geschah innerhalb von fünfzig Sekunden. Ja, so schnell kann sich ein Leben auf den Kopf gestellt werden.

Zum Beispiel die alte Frau, die ich einmal an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber von der Post sah: Es war im Winter vor vielleicht zehn Jahren. Die Straße war glatt, und sie ist plötzlich ausgerutscht und gestürzt. Sie dürfte um die neunzig gewesen sein. Ihre Beine waren spindeldürr, und man sah, wie ein Stück Knochen unter der Haut hervorragte. Sie hat sich offensichtlich das Schienbein gebrochen. Eine schmächtige Frau. Alle wollten ihr helfen. Sie lächelte fortdauernd, aber man sah die Tränen in den Augen. Wahrscheinlich wegen des Schmerzes.

Sie war auf dem Weg irgendwohin. Ich vergesse wohin, aber sie hat es gesagt. Und jetzt hat sie sich das Schienbein gebrochen. Man wollte sie in ein Taxi hieven, damit sie schnell ins Krankenhaus komme. Ich glaube, man hat das auch getan. Ich kann mich nicht an einen Krankenwagen erinnern.

Die ganze Zeit ging mir durch den Kopf: Wenn sich ein Pferd das Bein bricht, erschießt man es. Klar: Keiner würde die alte Dame erschießen, weil sie sich das Bein gebrochen hat. Aber der Zufall hat ihr irgendwie eine Kugel durch den Kopf gejagt. Welche Chancen hat eine schmächtige Neunzigjährige, wenn sie sich das Schienbein bricht?

Ja, solche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn es einen selbst beinah derwischt (so sagt man es hier) hat , und man ist glimpflich davon weggekommen.

Plötzlich fiel mir der Radlrowdy ein. Ich dachte: Wer weiß in welche Katastrophe er vielleicht fünf Straßen weiter gerast ist, weil er es eilig hatte und zur falschen Zeit irgendwo eingetroffen ist. Alles ist möglich, und das Leben ist immer gefährlich, auch für Attentäter.

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