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Einen erwischt es immer

Seien Sie nur froh, dass es Sie heute nicht erwischt hat. Möglich wäre das schon. Dann wären Sie nicht dazu gekommen, diese Glosse zu lesen.

Oder mich. Denn beinahe hat es mich heute tatsächlich erwischt.

Die Fakten: Ich bin - bei grün - über die Straße gegangen und wollte, auf der anderen Straßenseite angekommen, über die Querstraße links weiter gehen. Ich wandte mich also nach links.

Gerade noch erblickte ich aus dem Augenwinkel den Radlrowdy. So heißen sie in Bayern. Der ist an mir mit einem Affenzahn (komisches Idiom, gell?) vorbeigesaust und hätte mich beinah zamma‘fahrn, wie man hier sagt. Ich hab grad noch angehalten. Er flitzte wortlos weiter, ohne zu bremsen.

Keine Zeit, um mit einer schlagfertigen Antwort aufs Attentat zu reagieren. Keine Zeit um derb zu schimpfen. Nein, ich stand da wie der arglose Tor Parzifal und lächelte verblödet in die Welt.

Der Beinahe-Attentäter war im Nu zwei Straßen weiter, als ich mich an eine Dame wandte und sagte: „Gefährlich ist das Leben.“ Sie schaute mich nur stumm an, als wäre ihr mein Schicksal ziemlich „wurscht“, wie man hier sagt.

Nun fiel mir ein, dass der Linksdreh eigentlich überflüssig war. Ich wollte nämlich zur Post. Wenn ich getan hätte, was ich zu tun vorhatte, wäre nix passiert. Komisch, wie das manchmal ist.

Ich ging also weiter und bin einer Frau begegnet, die mich freundlich anlächelte und sagte: „Der hat Sie beinah zammafahrn. So a Depp.“

„Ja, das Leben ist gefährlich“, wiederholte ich, „Ich mache aber weiter.“

Notabene: All dies geschah innerhalb von fünfzig Sekunden. Ja, so schnell kann sich ein Leben auf den Kopf gestellt werden.

Zum Beispiel die alte Frau, die ich einmal an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber von der Post sah: Es war im Winter vor vielleicht zehn Jahren. Die Straße war glatt, und sie ist plötzlich ausgerutscht und gestürzt. Sie dürfte um die neunzig gewesen sein. Ihre Beine waren spindeldürr, und man sah, wie ein Stück Knochen unter der Haut hervorragte. Sie hat sich offensichtlich das Schienbein gebrochen. Eine schmächtige Frau. Alle wollten ihr helfen. Sie lächelte fortdauernd, aber man sah die Tränen in den Augen. Wahrscheinlich wegen des Schmerzes.

Sie war auf dem Weg irgendwohin. Ich vergesse wohin, aber sie hat es gesagt. Und jetzt hat sie sich das Schienbein gebrochen. Man wollte sie in ein Taxi hieven, damit sie schnell ins Krankenhaus komme. Ich glaube, man hat das auch getan. Ich kann mich nicht an einen Krankenwagen erinnern.

Die ganze Zeit ging mir durch den Kopf: Wenn sich ein Pferd das Bein bricht, erschießt man es. Klar: Keiner würde die alte Dame erschießen, weil sie sich das Bein gebrochen hat. Aber der Zufall hat ihr irgendwie eine Kugel durch den Kopf gejagt. Welche Chancen hat eine schmächtige Neunzigjährige, wenn sie sich das Schienbein bricht?

Ja, solche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn es einen selbst beinah derwischt (so sagt man es hier) hat , und man ist glimpflich davon weggekommen.

Plötzlich fiel mir der Radlrowdy ein. Ich dachte: Wer weiß in welche Katastrophe er vielleicht fünf Straßen weiter gerast ist, weil er es eilig hatte und zur falschen Zeit irgendwo eingetroffen ist. Alles ist möglich, und das Leben ist immer gefährlich, auch für Attentäter.

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