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Wie war ich?

Es war schon immer das Privileg der Männer und der Masochisten zu erkunden: „Wie war ich?“

Natürlich hofft man(n) bei dieser Frage auf ein positives Feedback. Etwa: „Du warst toll, du Recke du.“ Masochisten hingegen sehnen sich lieber nach einer negativen Antwort, um dann die aufregende Frage stellen zu dürfen: „Warum?“ oder „Warum nicht?“

Die Wie-war-ich-Frage fällt mir heute ein, weil sie mir neulich zweimal gestellt wurde: einmal von einem Herrn mit einer Stimme, die an einen an Schluckauf Leidenden denken lässt. Er war vom telefonischen Kundendienst einer an dieser Stelle von mir anonymisierten Großfirma; und einmal von einer liebenswürdigen Kundenbetreuerin meiner Bank.

Nein, ich bin weder mit der einen noch der anderen Person ins Bett gegangen. Hier geht es um Wichtigeres.

Zum Beispiel der Mann mit der Stimme wie ein an Schluckauf Leidender. (Damit versuche ich darzustellen, dass seine Tonlage am Ende eines jeden Satzes um mehrere Tonhöhen emporstieg). Von ihm (bzw. seiner Firma) wollte ich wissen, ob es vorgesehen sei, dass E-Reader keine griechischen Texte wiedergeben. Genauer gesagt: Die griechischen Buchstaben meiner Sappho-Ausgabe wurden auf meinem Lesegerät zu einem unentzifferbaren Zeichensalat.

„Das finden wir für Sie herAUS!“ trillerte er. „Sie möchten wissen, warum die griechischen Zeichen nicht zu lesen SIND!“ „Wir rufen Sie zurRÜCK! Oder wir schicken Ihnen eine MAIL!“

Er wollte mir wirklich helfen, und ich war mit seiner Hilfsbereitschaft zufrieden – auch wenn ich bis heute auf den Rückruf noch warte. Erst am Ende des Gesprächs passierte es: „Können Sie mir eine Frage ANTworten!?

Ich habe schon geahnt, was er wollte: „Sie möchten, dass ich Ihre Leistung bewerte, oder?“

„Ja! Das ist KorrEKT! Es dauert nur eine MiNUte! Ich werde Sie WEIterleiten! Sie brauchen nur die Bearbeitungsnummer 349935f ANzugeben!“

„Sie waren gut, wirklich. Ausgezeichnet sogar. Ich schwöre es Ihnen. Aber ich will das keinem Roboter übermitteln. Sie zu bewerten halte ich für demütigend. Können Sie das verstehen?“

„SelbstverSTÄNDlich! Es dauert aber nur eine MiNUte! Ich bitte Sie.“ Den letzten Satz hat er plötzlich ganz normal gesprochen. Das hat mich beunruhigt.

Also ließ ich mich weiterleiten, damit ich nicht zum Anlass eines Selbstmords werde. Im Nu war ich mit einem Roboter verbunden. „Hallo! Auf einer Skala von eins, also nicht hilfreich, bis zehn, sehr hilfreich, bewerten Sie bitte unseren Mitarbeiter.“

Ich wurde wie immer, wenn ich mit Robotern rede, schnell ungehalten: „Er war großartig, scheiß Roboter, verstehst du nicht?“

„Es tut mir leid. Ich habe Ihre Antwort nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie Ihre Antwort. Auf einer Skala…“

Usw. Ich will meinen privaten, neurotischen Kampf mit den Robotern nicht in die Länge ziehen.

Und dann war die Geschichte mit der Dame auf der Bank. Ich wollte an dem Tag einen Dauerauftrag stornieren. „Das können Sie auch bei den Bankautomaten“, klärte sie mich freundlich auf.

„Das wusste ich nicht.“

„Möchten Sie es vielleicht ausprobieren?“

„Ja, gerne. Man lernt sich nie aus.“

Sie begleitete mich zum Automaten und zeigte mir, wie das mit dem elektronischen Stornieren geht. Raffiniert. Wirklich raffiniert. Am Schluss kam dann die schüchterne Bitte: „Würden Sie jetzt bitte auf diese Option klicken?“

Die Option hieß „Haben Sie noch Fragen?“ oder so ähnlich.

„Ich weiß schon“, sagte ich. „Ich soll Sie jetzt bewerten. Oder?“

„Eigentlich schon.“

„Sie waren toll“, sagte ich.

„Aber vielleicht könntest Sie das der Maschine mitteilen. Das dauert weniger als eine Minute.“

„Wissen Sie“, sagte ich. „Ich finde diese Sache unangenehm. Sie verlangen von mir, dass ich etwas mache, was Sie letztendlich demütigt.“

„Bitte.“

„Ich gebe Ihnen natürlich nur Bestnoten.“ Und genau das habe ich getan.

Diese telefonischen Bewertungen sind mir neu – zumindest in Deutschland.
Wenn ich in den USA zu Besuch bin, bettelt schon lange jeder telefonische Kundenbetreuer um eine solche Bewertung. Nun ist die Krankheit wohl in Europa eingetroffen.

Also dann: Wie war ich? Habe ich Ihnen dieses schreckliche Phänomen gut erläutert. Teilen Sie es mir auf einer Skala von eins bis zehn bitte mit. Die entsprechenden Formulare sind an jeder Tankstelle erhältlich.

Dreimal Sterben

Jeden Samstag, um Mittag, drehe ich eine Runde durch die Schwabinger Antiquariaten. Ich wühle durch die Bücherkisten und nehme die Bestseller vergangener Zeitalter in die Hand und denke über die Vergänglichkeit nach. Es ist eine Art Meditation.

Es sind aber nicht nur die ausrangierten Bestseller, die ich neugierig befingere. Ich suche stets nach Perlen, die ewige Gültigkeit besitzen, Werke wie Dantes Göttliche Komödie oder Asterix-Hefte. Manchmal bleibe ich bei den Sachbüchern hängen: „Die Geschichte der Bleistift“, „Zauber durch Spielkarten“, „Sein und Zeit“. Man kann nie wissen, wozu all das gut ist.

Doch wie lange werde ich diesen hehren Gottesdienst noch feiern können? Fakt ist: In München kämpfen manche Buchhandlungen – allen voran die Antiquariate – ums nackte Überleben.

Nein, es geht diesmal nicht um die E-Bücher als Ursache des Problems – zumindest noch nicht.

Auch nicht, dass Menschen immer weniger lesen. Die Ursache für diese bedrohliche Situation ist eine andere: Die Antiquariaten werden von Internetdienstleistern zusehends unterminiert. Im Netz bekommt man viele Bücher einfach billiger. Doch das wissen Sie schon. Ebenso wissen Sie, dass eine gewisse Webseite, die ich aus Gründen meines Schleichwerbungsverbotes, namenlos belasse, manche Bücher bisweilen für einen einzigen Cent anbietet. Dazu bezahlt der Kunde selbstverständlich eine Portopauschale. Die allein bringt den Gewinn.

„Man muss die Sache darwinistisch betrachten“, erklärte mir neulich der Besitzer eines meiner liebsten Antiquariate. „Wenn wir kein Nutzen mehr bringen, dann verschwinden wir halt. Für Sie oder für mich mutet das vielleicht traurig an. Man darf aber nicht zu sentimental werden.“

Soviel zum ersten Sterben. Das zweite folgt gleich.

Ein anderes meiner Lieblingsantiquariate ist in den letzten Monaten insbesondere in Bedrängnis geraten. Infolgedessen konnte man vom gesamten antiquarischen Sortiment zu erheblich reduzierten Preisen einkaufen. Auch ich habe kräftig zugeschlagen. Ihr Verlust , mein Gewinn.

Ich habe, zum Beispiel, einen hübschen Einband „Buch der Graphologie“ von Ludwig Kroeber-Keneth ergattert. Dieses 1968 erschiene Werk bietet einen informativen Streifzug durch die Kunst, Handschriften zu deuten, ohne den Anspruch, ein richtiges Lehrbuch zu sein.

Kroeber-Keneth – er lebte von 1899 bis 1980 – war ein echter Kenner. Als er dieses Buch verfasste, hatte er bereits vierzig Jahre als Graphologe gearbeitet – vor allem als Personalberater. Zur Erinnerung: Es war früher Gang und Gebe, dass jeder Bewerbung ein handschriftlicher Lebenslauf beigelegt wurde. Leute wie K.-K. konnten sich vor Aufträgen kaum retten.

Man müsse als Graphologe auf vieles achten, betont der Autor. Auch der Anlass für eine Schriftprobe sei nicht ohne Bedeutung. Wer, z.B., einen Bewerbungslebenslauf schreibe, bemühe sich, seine Handschrift besonders leserlich zu gestalten, auch wenn er normalerweise eine unleserliche Klaue hat. So eine Verstellung müsse dem Graphologen auffallen, ebenso das Schreibtempo, Originalität usw. Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen.

Was Kroeber-Keneth allerdings nicht wissen konnte: Nur wenige Jahre nach seinem Tod, sollten die meisten Menschen kaum mehr einen mit der Hand geschriebenen Satz erbringen.

Wer schreibt heute noch (vor allem unter jungen Menschen) mit der Hand – außer mal einen kurzen Brief an die Uroma (nicht aber unbedingt an die Omi, sie hat nämlich ein Smartphone schon)? Dank SMS-Mitteilungen, Emails, Facebook, Twitternachrichten, Online-Banking usw. braucht man kaum mehr ein Wörtchen mit der Stift zu formen. Nur wenn Sie mit der Plastikkarte bezahlen, ist eine Unterschrift – aber nur manchmal – erforderlich.

Soviel zum zweiten Sterben.

Nebenbei: Wer noch Sütterlin beherrscht, kann heute als Übersetzer ein hübsches Geld verdienen. Die Sütterlinkundigen sterben nämlich langsam aus. Das habe ich im Spiegel-Online gelesen.

Aber jetzt zum dritten Sterben. Nein, es werden nicht die Bücher sein. Auch nicht die Verlage. Die wird man umso dringender brauchen, um eine nötige schriftliche Norm zu gewährleisten.

Als Drittes stirbt der Glaube, dass all diese Veränderungen, die auf uns zukommen, schlecht sind. Au contraire. Sie bereichern. Nichts steht still – die Zeit erst recht nicht.

Schon wieder das E-Buch – diesmal auch Praktisches

Meine Glosse über E-Bücher von der vorigen Woche ist auf viel Resonanz gestoßen. Das kann nur bedeuten, dass das Thema „in der Luft“ liegt – oder dass eine Megainternetbuchhandlung (ich nenne keine Namen) mich zum E-Buch-Posterboy der Woche auserkoren hat. Was hier zutreffen könnte, verrate ich nicht.

Im Übrigen habe ich diverse interessante Kommentare zum Thema erhalten. Von einem gewissen „xdi234eyso“, zum Beispiel, (ja, so war der Name wirklich, und die Hotmail-Adresse lautete ddfzzyrlde@hotmail oder so ähnlich) kam folgender Beitrag. Ich zitiere: „syldtx fvldt dfelr xfkoriofilawj efzfktopwef“. (Notabene: Diese Botschaft wurde in Hypertext schrieben. Das heißt: Hätte ich auf den Link geklickt, wäre ich auf eine exotische Webseite gelandet und würde vielleicht heute gar nicht mehr leben, weil ich an Denguefieber gestorben wäre).

Vom langjährigen Leser dieser Seite Pappe hingegen kam ein ernst zu nehmendes Plädoyer für den Erhalt der haptischen Sinnlichkeit des Buches, der durch E-Bücher nicht zu ersetzen sei. Ich verstehe diese Sorge, gehe davon aus, dass es auf der Welt Platz für beides, fürs haptische und fürs E-Buch, gibt. Die Fotografie hat die Malerei auch nicht ersetzt, sondern bereichert.

Christine aus Hamburg, die als Literaturübersetzerin tätig ist, freute sich, dass man zu jeder Zeit mit einer ganzen Bibliothek unterwegs sein kann. Das kann ich nur bejahen: Schon vor Jahren habe ich mir ein elektronisches Wörterbuch der Firma (Beep! Beep! Beep!) gekauft. In einem kleinen, handlichen Gerät befinden sich das Duden Universalwörterbuch, das Oxford Advanced Learners Dictionary (gähn), ein Französisch-Deutsch/Deutsch-Französisch Lexikon, ein Englisch-Deutsch/Deutsch-Englisch Lexikon, ein Spanisch-Deutsch/Deutsch-Spanisch Lexikon – alle seriöse Markennamen. Ich vermisse keinen Augenblick die mühselige haptische Nachschlagerei.

Umberto Eco (in: „Die große Zukunft des Buches“) hat sich folgendes Kriterium für den Erfolg des E-Buches ausgedacht: „Ich frage mich allerdings nach wie vor, ob es selbst bei einer allen Leseanforderungen optimal angepassten Technologie wirklich sinnvoll ist, Krieg und Frieden auf einem E-Book zu lesen. Man wird ja sehen. Auf jeden Fall werden wir Tolstoi und all die anderen auf Papier gedruckten Bücher bald nicht mehr lesen können, ganz einfach weil sie in unseren Bibliotheken bereits begonnen haben, sich zu zersetzen.“

Hmmm. Warum ausgerechnet Krieg und Frieden als Maßstab, ob man E-Bücher lesen wird oder nicht? Und wieso sollen sich bald die gedruckten Bücher in den Bibliotheken zersetzen? Mein Gegenvorschlag: Da Eco schon über achtzig ist, würde ich empfehlen, dass er erst recht Krieg und Frieden als E-Buch lesen sollte. Man kann nämlich auf dem E-Reader die Schrift ganz schön vergrößen. Eine Segnung für alte Augen.

Aber jetzt zum Praktischen. Im Zeitalter der Kinderkrankheiten des E-Buches möchte ich hier handfeste Abhilfe für die noch Verunsicherten anbieten – und zwar anhand von einem konkreten Beispiel.

Wie Sie vielleicht schon wissen, werden E-Bücher in verschiedenen Formaten verkauft. Ein sehr großes Online-Geschäft (ich nenne keine Namen) bietet seine Bücher, zum Beispiel, im sog. MOBI-Format an, damit man sie nur auf einem eigens für E-Bücher produzierten Reader lesen kann. Andere Anbieter verkaufen ihre Bücher im sog. EPUB-Format. Doch auch hier gibt es verwirrende Unterschiede. Jede Firma, die ein eigenes Lesegerät produziert, verschlüsselt ihre EPUB-Bücher, damit man gezwungen wird, Bücher beim hauseigenen „Bookclub“ zu erwerben. Diese Verschlüsselung heißt übrigens DRM, „digital rights management“.

Stellen Sie sich vor, dass Autos nur mit firmeneigenen Sprit fahrtüchtig wären. So ähnlich ist die momentane Lage bei den E-Readers.

Wie lange noch? Schon jetzt kann man eine kostenlose Software namens Calibre herunterladen, die ein Leseformat in die andere umwandelt. So einfach ist es trotzdem noch nicht. Man braucht nämlich noch immer ein Zusatzprogramm, das die DRM-Verschlüsselung des jeweiligen „Bookclubs“ entfernt. Keine Sorge, alles nur Kinderkrankheiten.

Letzte Woche habe ich auf der Webseite der Firma (Beep! Beep! Beep!) das Gesamtwerk von Goethe (15.000 Seiten!) für unter drei Euro entdeckt. Die Datei war ca. 29 Megabyte groß. Ein wuchtiges Ding. Zum Vergleich: Das Werk von Georg Trakl hat vielleicht 200 Kilobyte.

Ich habe dieses „Buch“ gekauft mit der Absicht, es in ein Format umwandeln, das zu meinem Reader passt. Eine solche Umwandlung dauert normalerweise weniger als eine Minute. Doch das arme, überforderte Calibre kaute 1141 Minuten an diesem Goethe, um mir schließlich das eigene Scheitern einzugestehen. Dreimal habe ich es probiert – das waren insgesamt 57 Stunden – und bin jedesmal gescheitert.

Ich war sauer: Warum dürfen nur die Kunden von Beep! Beep! Beep! Goethe für unter drei Euro haben? Warum werde ich diskriminiert, weil mein Format anders ist?

Ich bin aber vom Hause aus hartnäckig und habe lange über das Problem nachgedacht. Endlich suchte ich im Internet unter den Stichworten „Goethe Gesamtwerk“ und „EPUB“ (mein Format). Innerhalb Sekunden wurde ich fündig. Ich habe eine Webseite entdeckt, die nicht nur Goethe, sondern eine ganze Bibliothek von „Gesamtwerken“ anbietet – und zwar in EPUB und MOBI-Formaten – alles ohne DRM-Verschlüsselung.

Bald hatte ich mein Goethe auf dem Reader heruntergeladen. Ob ich so viel Goethe jemals lesen wird, bleibt dahingestellt. Eins steht aber fest: Bald aber wird es einen Sprit geben, der zu allen Autos passt.

Bekenntnisse eines E-Reader-Süchtigen

Nun wird es endlich still um Günther Grass, und auch die Salafisten geben momentan Ruhe. Erstaunlicherweise hat sich die Häme – und die Schadenfreude – über das Absetzen von Thomas Gottschalk in Grenzen gehalten. Gut so. Sonst hätte ich ihn in Schutz genommen (obwohl er seine Seele längst an die Werbebranche verkauft hat – aber wer ist halt perfekt?).

Abgesehen von einem Börsencrash, einem knallenden Meteor über den westlichen USA, Mordlust in Syrien und schon wieder Malware im Iran scheint die Welt heute ziemlich ruhig zu sein.

Eine nette Gelegenheit also, um über meine neue Sucht zu berichten. Ja, ich bin E-Bookaholiker geworden.

Auch meine Frau leidet an dieser Krankheit. Gleiches gilt, denke ich, für Freund Nick (Name verfälscht). Er hat mir neuerdings mitgeteilt, dass er bereits 200 Bücher auf seinem „Reader“ hat.

„Es verändert deine Lesegewohnheiten vollständig“, sagte er. „Man liest mehrere Bücher gleichzeitig.“

Nick hat recht. Zwar besitze ich „nur“ etwa 90 Stück. (Was heißt 90? Manche sind Gesamtwerke!) Ich stelle aber fest, wie ich zwanghaft vom Buch zu Buch springe – wie einer, der mehrere Pralinenschachteln zum Geburtstag bekommen hat. Und das Lesegerät weiß jedesmal, wo ich jeweils zu lesen aufgehört habe. Kluger E-Reader!

Neunzig Bücher. Damit habe ich mich bereits mit Lektüre für mehrere Jahre abgedeckt, gesetzt den Fall, ich würde alles durchlesen. Und das Schöne: Das meiste bekam ich kostenlos! Zugegeben: Für manches habe ich einen Euro bezahlt. Doch bisher habe ich nur zwei oder drei Bücher gekauft, die um die zehn Euro kosteten.

Wer kann es widerstehen? Das gesamte Sherlock Holmes für Pfennigbeträge. Oder das gesamte Kafka. Meine Frau hat sich Dickens für einen Apfel und ein Ei geschnappt. Nick liest lieber die Philosophen. Adorno hat er kostenlos bekommen. Und Heidi (Name verfälscht), eine alte Freundin meiner Frau, schaut jeden Tag nach Sonderangeboten. Sie mag aber am liebsten die Krimis.

Zur Erinnerung: Als die ersten CD-Spieler auf den Markt kamen, war es ähnlich. Man hat vieles spottbillig erhalten. So ist es beim Marketing. Man muss den Kunden erst ködern.

Doch das E-Buchphänomen ist anders als das CD-Geschäft: CDs konnte man auf beliebigen Abspielgeräten lauschen. E-Bücher sind Gerätehersteller-abhängig. Amazon, Sony, Barnes and Nobles verkaufen E-Bücher, die nur auf dem eigenen Reader lesbar sind. Kein Wunder, dass gewiefte Hacker Software entworfen haben, um die Codes zu knacken, damit jedes Buch auf jedem Reader zu schmökern ist. Gäbe es diese Programme nicht, wäre es schier unmöglich, Ein „Buch“ einem zweiten Leser„auszuleihen“.

Stellen Sie sich eine fünfköpfige Familie vor. Drei aus dieser Familie möchten dasselbe E-Buch lesen. Dies wäre mit einer Kopie des E-Buches nur möglich, wenn einer dem anderen das Lesegerät, worauf das Buch gespeichert ist, in die Hände gäbe. Nur: Ein Lesegerät enthält unter Umständen eine ganze Bibliothek. Wie kann man das „Buch“ ausleihen, wenn man gleichzeitig ein anderes „Buch“ auf dem Reader lesen will? Fazit: Man bräuchte mehrere Lesegeräte und den gleichen Titel mehrmals, sollten alle gleichzeitig das Buch lesen können. Ohne Hacker-Software freilich ein Alptraum.

Gegenwärtig jedenfalls möchten uns Amazon, B&N, Sony usw. erst auf den Geschmack bringen, was natürlich unbedingt mit Vorteilen verbunden sein muss. Man will uns also erst süchtig machen, den Sammeltrieb durch günstige Angebote erwecken. Erklären Sie mir bitte, wie man die Versuchung widerstehen kann?

Dazu spart man Platz. Schon lange höre ich, dass Adalbert Stifter tolle, langsam zu lesende Büchergenüsse geschrieben hat. Es sind aber dicke Wälzer, nehmen viel Platz auf dem Bücherregal. Für mich wieder ein Vorteil, sie elektronisch zu besitzen.

Aber was ist, wenn wir eines Tages nur noch E-Bücher zu lesen bekommen? Werden Sie vielleicht teurer? Wird manches nicht mehr gedruckt, um dann ganz vom Radarschirm zu verschwinden? Befinden wir uns an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Literatur, das zu einem radikalen Aussortieren des Vorhandenen führen wird, wie einst nach dem Zusammenbruch Roms in den Klöstern geschah?

Heute ist das mir schnurzegal. Ich möchte lieber raffen, raffen raffen, so lange es noch geht. Ich heiße der Sprachbloggeur und bin E-Bookaholiker.

Lies!

Hand aufs Herz. Was sagt Ihnen obiges Titelwort? Es lässt sich nämlich – meiner Meinung nach – in unserer multikulturellen Umwelt zweierlei deuten. Gestern stellte ich A. diese Frage. Sie antwortete spontan: „Na, ganz klar. Das ist vom Wort ‚lesen‘. Man wird aufgefordert, etwas zu lesen.“

A. hat recht. Es handelt sich tatsächlich um die Befehlsform des Verbs „lesen“.

Aber nicht nur: Das Wort könnte ebenso die Mehrzahl des englischen „lie“, also „Lüge“ sein.

Ich komme darauf, weil ich vor ein paar Tagen im Spiegel-Online auf ein Foto stieß, worauf ein bärtiger Mann mit Kopfbedeckung und loser, weißer Bekleidung dargestellt wurde. Er stand neben einem Poster, auf dem in großen Buchstaben das Wort „Lies!“ zu sehen war.

Man erkennt ihn vermittels seiner Kluft als „Islamist“. Ein komisches Wort, mit dem ich mich lange nicht angefreundet habe. Sagt man „Christist“? Besser wäre, ihn als „islamischer Fundamentalist“ zu bezeichnen. Auch christliche, jüdische, Hindu usw. „Fundamentalisten“ gibt es.

Den Begriff „Fundamentalist“ versteht ohnehin jeder. Es sind Menschen, die ihre heiligen Bücher sehr wörtlich deuten.

Aber zurück zum Poster. Ich sah einen Menschen, der mir zweifelsfrei als islamischer Fundamentalist vorkam, neben einem Poster stehen, auf dem das Wort „Lies!“ zu lesen war, und ich habe das Wort als englische Vokabel verstanden. Er will sich gegen die Lügen der westlichen Zivilisation auslassen, dachte ich. Tja. Wäre nichts Neues.

Ich bin wie viele Menschen, die in einer fortschrittlichen Schreibkultur groß geworden sind. D.h.: Ich lese das Kleingedruckte allzu selten. Nur das groß gedruckte „Lies!“ machte auf mich Eindruck. Erst im Nachhinein las ich die Nachrichtenüberschrift oberhalb vom Bild. Es ging darum, dass Salafisten diverse Journalisten bedroht hätten. Die Gründe dafür waren in der Überschrift nicht klar ersichtlich. Ich klickte also neugierig auf den Hypertext, um mehr im Artikel zu erfahren. Nun las ich, dass diese sogenannten „Salafisten“, also „Fundamentalisten“, dabei waren, 25 Millionen Ausgaben des muslimischen heiligen Textes, des Koran, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz unter das Volk zu bringen und dass sie Journalisten, die dieses Vorhaben kritisierten, bedroht hätten. Eine beachtliche Bücherauflage, dachte ich. Über die Qualität der Übersetzung und über die Kommentare weiß ich freilich nichts.

Erst jetzt schaute ich etwas genauer auf das Bild, und endlich visierte ich das Kleingedruckte. Der Gesamttext lautete: „Lies! Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat.“ Aha! dachte ich. Denn es fiel mir nämlich ein, dass ich dieses Zitat irgendwoher kenne. Schnell schlug ich in meiner Koranausgabe nach und wurde fundig: Es handelt sich um ein Zitat aus Sura 96, einer der kürzesten Suren in dem Buch. Falls Sie es nicht wissen: Der Koran ist nach der Länge der Abschnitte (genannt „Suren“) und nicht nach Thematik oder Chronologie organisiert. Die kürzesten Abschnitte befinden sich also am Schluss. Sura 96 gehört übrigens zu den zeitlich frühesten Texten dieser Sammlung und wird oft mit einer netten Legende in Zusammenhang gebracht, die besagt, dass der Engel Gabriel (in der arabischen Sprache „Dschibril“ genannt ) Muhammed aufgefordert hat zu lesen. Damit ist gemeint, er sollte seine Texte laut vortragen. Muhammeds schüchterne Antwort laut der Legende: „Ich kann aber nicht lesen“, eine Repartie, die an Mose erinnert, der, als er den göttlichen Befehl bekam, Pharao nahezulegen, die hebräischen Sklaven zu befreien, antwortete, er sei kein Redner.

Wie dem auch sei. Eine nette Geschichte, und auf sie wird womöglich das „Lies!“ auf dem Poster dieser Koranverteilenden bezogen.

Dennoch meiner Meinung nach eine ungünstige Textauswahl für die Werbung. Und zwar deswegen, weil diese Fundamentalisten an den Büchertischen durch ihre Bekleidung ausgesprochen fremdartig wirken. Somit kann man aus der Ferne, die Aufforderung zum Lesen leicht in die falsche Kehle bekommen, so wie es mir passiert ist.

Glauben Sie mir: Ich stehe nicht allein da mit diesem Gedanken. Ich kenne auch andere, die den gleichen Fehler gemacht haben wie ich. Hätten die Fundamentalisten ein lokal angepasstes Aussehen gehabt, würde man nie auf diese Doppeldeutigkeit kommen. So schnell entstehen die Missverständnisse auf dieser Welt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Kritik gilt nur der Möglichkeit, dass man diesen Poster aus der Ferne falsch deuten könnte. Gegen die Verteilung von Korantexten habe ich hingegen grundsätzlich keine Einwände und freue mich darauf, im Namen der Gleichberechtigung auch mal Bibel in Saudi Arabien, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Jordanien usw. zu verteilen.

In den Grass beißen – oder heute das (hoffentlich) letzte Wort zu einem leidigen Thema

Schulze: Nein, er ist ein Vollidiot! Diese letzte Tinte, von der er redet, ist die eines Demenzkranken.

Schultze: Im Gegenteil, er hat nur das gesagt, was gesagt werden muss. Er hat ein Tabu gebrochen.

Schulze: Was gesagt werden muss? Gesagt wird es seit Jahren beinahe täglich. Tabu gebrochen! Er hat lediglich eine Lanze gebrochen – und zwar in eigener Sache.

Schultze: Verstehst du nicht? Er hat alles aufgemischt. Alles. Ich finde das geradezu genial.

Schulze: Was heißt aufgemischt? Er hat sich nur selbst in Szene gesetzt, weil, es zu lange um ihn still geworden war. Das ist vielleicht genial.

Schultze: Du hast keine Ahnung. Der Weltfriede ist so brüchig wie lange nicht mehr. Er hat sich, koste, was es wolle, aufgeopfert, um auf die dringenden Probleme wieder aufmerksam zu machen.

Schulze: Man ahnt, dass er auf einer Nebenstraße gelandet ist, wenn die Ostermarschierer seine Sprüche zum Fanal machen. Man kann es beinahe als Naturgesetz formulieren: Diese sogenannten Friedensaktivisten machen fast immer die Falschen zum Feindbild. Wo in aller Stille wirklich abgeschlachtet wird, da schauen diese Weicheier stets in die andere Richtung.

Schultze: Ich weiß, worauf du hinauswillst: Du willst nur ablenken. Sein Gedicht ist ein Meisterwerk. Nur Snobs wie du lästern, dass es kein Gedicht ist, sondern Sätze aus einem Leserbrief, die er willkürlich in Verszeile und Strophen eingeteilt hat. Ist es dir nicht klar, wie egal das ist? Es geht um die Wirkung.

Schulze: Was für Wirkung? Wer mit ihm einer Meinung ist, fühlt sich lediglich in der eigenen Meinung bestätigt. Mit diesem populistischen Machwerk spricht er höchstens die Stammtische an.

Schultze: Eben nicht. Er hat die Grundlage für einen neuen Dialog ins Leben gerufen. Inzwischen redet man auf der ganzen Welt darüber. Das kann nicht jeder. Hut ab.

Schulze: Und was wird das Ergebnis sein? Hat er Meinungen geändert? Mitnichten. Einzig hat er manche Leute dazu provoziert, eigene Dummheiten von sich zu geben. Lob von Extremisten und Idioten. Und ich gebe zu: Das mit der persona non grata ist ja auch wenig hilfreich.

Schultze: Vielleicht war das Provozieren doch sinnvoll.

Schulze: Wenn du das als sinnvoll bezeichnest, dann hat gar
nichts mehr einen Sinn. Verstehst du nicht, was du behauptest?

Schultze: Bitte, erzähle…

Schulze: …dass er mit seinen dummen Sprüchen in der Lage ist, neue Dummheiten hervorzurufen. Das kann also nur heißen, dass Dummheit Dummheit erzeugt und nie und nimmer in der Lage sein wird, wirkliche Probleme zu lösen.

Schultze: Du deutest die Sache sehr einseitig, mein Lieber.

Schulze: Nein, im Gegenteil. Du deutest sie einseitig. Und die

Zeitungen, die diese Dummheit kommentarlos veröffentlichten, hatten ohnehin kein Interesse, eine vertrackte Lage zu entwirren. Es ging schlicht und einfach darum, die Auflage in die Höhe zu schnellen.

Schultze: Du bist ein Dummkopf.

Schulze: Du bist ein Dummkopf.

Schultze: Warum willst du mich nicht verstehen?

Schulze: Warum willst du mich nicht verstehen?

Schultze: Habe ich dich nicht überzeugt?

Schulze: Habe ich dich nicht überzeugt?

Oje – der Sprachbloggeur gibt schon wieder Privates preis

Endlich habe ich es schwarz auf weiß: Zweisprachige Menschen sind offenbar doch schlauer als diejenigen, die sich mit nur einer Sprache durchschlagen.

Ich will mich keineswegs mit dieser Nachricht brüsten. Im Gegenteil. Es stellt sich vielmehr heraus, dass das, was ich jahrelang als Nachteil betrachtet habe – nämlich das endlose (und mal vergebliche) Suchen nach Wörtern, das ständig Sich-in-einem-Satz-verheddern, weil ich zwischen Redewendungen in zwei Sprachen steckenbleibe – letztendlich nur Vorteile bringt.

Ich zitiere aus einem Artikel, den ich am 20. März in der „International Herald Tribune“ entdeckte. Der (die?) Autor(in), Yudhijit Bhattacharjee zitiert wiederum einen Forscher, Albert Costa, von der spanischen Pompea Fabra Universität: „Zweisprachige müssen häufig von der einen in die andere Sprache umschalten. Das fordert eine ständige Kontrolle der Veränderungen um sich, so in etwa wie wir unsere Umwelt überprüfen, wenn wir autofahren.“

Das heißt: Wir Zwei- oder Mehrsprachige sind – notgedrungen – kontinuierlich damit beschäftigt, die Welt zu analysieren und neuzuordnen.
Noch ein Vorteil dieser bisweilen anstrengenden Umschaltung sei offenbar eine reduzierte Anfälligkeit für Alzheimer und sonstige Demenzkrankheiten. Schön wäre es. Leider kenne ich genügend Mehrsprachige, die in geistige Umnachtung versunken sind. Aber egal.

Doch nicht wegen all dieser Vorteile bin ich zweisprachig geworden, sondern weil ich bereits als Kind bewusst nach der Entfremdung gesehnt habe. Achtung Psychologie-Interessierte! Hier gilt es genau hinzuhören. Der Sprachbloggeur wird heute leichtsinnig und enthüllt seine Geheimnisse.
Jawohl: Als Kind sehnte ich danach, eine Welt zu bewohnen, wo man eine Sprache sprach, die völlig anders war als das mir heimische Englisch (bzw. Amerikanisch). Ich stellte mir eine Sprache vor, bei der jedes Wort einen anderen Klang hatte als in meiner Muttersprache.

So betrachtet, war Deutschland nicht unbedingt die klügste Wahl, um diesen Wunschtraum zu erfüllen, zumal es in diesen beiden germanischen Sprachen, Englisch und Deutsch, so unglaublich viele etymologisch verwandte Wörter, gibt. Etwa: „bring“/ „bringen“, „see/ „sehen“, „head“/ „Kopf“ (nur ein dummer Witz) und ebenfalls so viele „false friends“. Sie wissen schon: „mist“ und „Mist“, „fiend“ und „Feind“, „eventual“, „eventuell“ usw. Das Denglische nicht zu vergessen. Besser wäre es gewesen, wenn ich mich ins Chinesische oder ins Ungarische eingetaucht hätte. Tja.

Ich weiß nicht, warum ich von dieser Sehnsucht nach der Fremde so besessen war. Die Antwort auf diese Frage überlasse ich gern den Hobbyanalytikern.

Ich träumte ebenfalls davon als Jugendliche, in der Fremdsprache zu schreiben. Ja, das Schreiben ist bei mir eine alte Sucht. Mit sechszehn hatte ich schon ein kurzes Theaterstück auf Französisch geschrieben – es war natürlich sehr existentialistisch oder absurdistisch formuliert. Warum in der Fremdsprache? Damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Heute schon.

Es war (und ist) mir wichtig – hören Sie genau zu, liebe Psychologen – es war (und ist) mir fast ein Leben lang ein Bedürfnis, mich durch das Schreiben als Fremden zu erleben. Somit gewinne ich die Perspektive eines Außenstehenden oder vielleicht besser, eines Entwurzelten. Denn ich war (und bin) überzeugt, dass ich als Außenseiter die Welt viel genauer beobachten und veranschaulichen konnte (kann). Das kann man meines Erachtens am besten in einer Fremdsprache! Und noch dazu: Wenn man in der Fremdsprache schreibt, verliebt man sich in die eigene Formulierungskunst nicht so leicht. Man schreibt also keine aufgetakelten Sätze – weil man das nicht kann! Man ist froh, wenn die Sätze wenigstens einigermaßen korrekt sind.

Alles klar? Mir nicht ganz. Denn im vorigen August geschah Sonderbares: Ich verspürte eines Tages ganz plötzlich den Drang Lyrik zu schreiben – und zwar in meiner Muttersprache. Ich sollte Ihnen vielleicht erklären, dass mir als Schriftsteller die Lyrik stets meine erste Liebe war, und ich habe Lyrik jahrelang geschrieben, d.h., bis 1986. Dann passierte es auf einmal, dass ich nicht mehr wollte. Mir kam die Lyrik sinnlos vor. Lyrik habe ich übrigens ausschließlich auf Englisch geschrieben. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ein Gedicht auf Deutsch zu formen. Komisch. Nicht wahr?

Unerwartet hat es mich im August 2011 überwältigt, regelrecht umgehauen. Die Lyrik stieg aus mir hinauf wie das Magma aus dem Vulkan. Ein dringendes Bedürfnis, ein sehr befriedigendes Bedürfnis, möchte ich betonen.

Inzwischen weiß ich Folgendes: Dieser Schriftsteller will unbedingt in zwei Sprachen schreiben: weil jede Sprache andere Bedürfnisse erfüllt. Wenn ich Deutsch schreibe, bin ich der neugierige Außenseiter, der bemüht ist, die Welt von außerhalb zu umfassen. Wenn ich hingegen meine englischsprachige Lyrik schreibe, werde ich selbst zum Ausdruck dessen, was es zu umfassen gilt. Ende der Enthüllung.

Hier Wichtiges über Ihre Nase!

Wissen Sie was ein flehmendes (nein, kein flämmendes) Pferd ist? Vielleicht wird es Sie trösten, falls Sie dieses Wort nicht kennen, dass mein Duden Universalwörterbuch und auch mein Grimm ebenso ratlos sind.

Nur im Großen Duden und natürlich im Internet bin ich fündig geworden.

Nicht nur Pferde, sondern Kamele, Hunde, Ziegen und vielleicht auch Menschen flehmen – allerdings nur die männlichen.

Aber zur Sache: Wenn Tier (oder Mensch) die Oberlippe nach oben zieht, um das Weibchen (bzw. Frau) präziser zu beriechen, dann flehmt es (bzw. er). Wenn der Hengst sie anflehmt, so weiß die Stute, dass er sein unmittelbares Interesse zeigt. So gesehen, ist das Flehmen ein wichtiges Signal bei der Paarung.

Ich bin erst am Wochenende auf dieses Wort gestoßen, als ich zufällig in einem Buch „Wie riecht Leben“ zu lesen begann. Bald hat mich die Lektüre gefesselt. Den Autor, Walter Kohl, hat ein ungewöhnliches und eigentlich schreckliches Schicksal ereilt: Bei einem Fahrradunfall ist er mit dem Gesicht gegen den Asphalt geknallt und hat sich dabei mehrere Schädel- und Gesichtsknochen zerschmettert. Das Resultat: Er ist seitdem nicht mehr in der Lage Gerüche wahrzunehmen.

Vielleicht denken Sie, dass hier „schreckliches Schicksal“ übertrieben klingt, um Kohls Unglück zu beschreiben. Dem Autor zufolge mit Sicherheit nicht. (Herr Kohl muss übrigens auch mit einem zweiten Schicksalsschlag fertigwerden: Er hat nämlich den gleichen Namen wie der Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Auch dieser Walter Kohl ist Schriftsteller. Man bringt die zwei Personen ganz leicht durcheinander, wenn man nicht aufpasst. Der Autor des „Wie riecht Leben“ ist jedenfalls Österreicher, sein Namensvetter Deutscher).

Doch wie riecht Leben? Wer riechen kann, so Herr Kohl, stellt sich diese Frage nie. Er kann sich jederzeit ans Flehmen machen und die unterschiedlichen Düfte und üblen Gerüche des Lebens zelebrieren.

Man ahnt nicht, wie sehr wir vom Riechen abhängig sind, so Kohl. Wer nicht riechen kann, weiß nicht, ob sein Hemd stinkt, ob die Wurst verdorben oder die Gasleitung leck ist. Durch Walter Kohl habe ich erfahren, wie sehr der Anbandelprozess von kaum wahrgenommenen Duftmolekülen abhängt. Man liebt also durch die Nase. Manche wollen aber können nicht, sagt der Autor, er kann aber seit dem Unfall will nicht.

Kohl drückt in diesem eloquent geschriebenen Buch ein sehr privates Leid aus. Um die Folgen seiner Behinderung zu veranschaulichen, fordert er die Riechenden dieser Welt heraus, ihm beizubringen, wie man einem Nichtriechenden Gerüche und Düfte erlebbar macht. Natürlich eine Fangfrage, so wie wenn man dem Blinden Farben beschreiben will.

Ich denke, dass diese schwierige Aufgabe nur mithilfe eines Parallelsystems möglich wäre: zum Beispiel Duftnoten als Farben zu beschreiben. So könnte man dann sagen: „Stellen Sie sich vor, dass rot, grün und orange - alle etwas aufgewärmt – durch Ihre Nase flössen. So riecht ein Sommertag auf der Wiese.“

Ich gebe zu. Der Vergleich hinkt gewaltig. Immerhin bietet er eine Art sinnliches Erlebnis.

Und dann sollte man die Phantomgerüche erwähnen. Die Nase bildet sich ein, dass sie etwas gerochen hat. Das ist wie die Phantomschmerzen der Beinamputierten. Phantomgerüche stinken übrigens.

Ja, schrecklich, wenn man nicht riechen kann, und trotzdem zählen wir Menschen nicht zu den Geschöpfen mit dem besten Riecher. Hunde und diverse Insekten sind uns diesbezüglich haushoch überlegen. Dafür – das habe ich neulich irgendwo gelesen – gelten wir als das Lebewesen mit dem ausgefeiltesten Geschmackssinn. Nur wir werden zu Feinschmeckern. Hund und Co. verschlingen ihren Fraß ohne ästhetischen Genuss. Der Geschmack interessiert sie gar nicht. Hauptsache die Menge stimmt.

Kein Trost für Herrn Kohl. Denn leider ist der feine Geschmackssinn eines Menschen völlig vom Geruchssinn abhängig. Ohne Nase kann die Zunge lediglich süß, sauer, bitter, und salzig unterscheiden. Wenn Herr Kohl Schokolade isst, weiß er nur, dass sie süß ist.

Walter Kohl hat recht. Ein Leben ohne Düfte bedeutet große Entbehrungen. Es handelt sich hier um einen Verlust, der weitgehend unbekannt und unterschätzt ist.

Der Autor behauptet übrigens, dass er seit seinem Unfall viel Leidenschaft und auch viel von seiner sprachlichen Fähigkeiten eingebüßt habe. Das nehme ich ihm allerdings nicht ab. Wenn Sie ein leidenschaftliches und sprachbewandertes Plädoyer für den Sinn des Geruchssinnes lesen möchten, dann bitte schön dieses Buch. Man lernt endlich bewusst zu flehmen und angeflehmt zu werden.

Justin Bieber als Geschäftsmodell

Wurm: O Herr, bitte nicht!

Vorstandsvorsitzender: Winden Sie sich nicht so, Wurm! Außerdem sitzt die Perücke falsch. Jetzt in die Stirn verschieben. Ein bisschen nach links, damit sie apart und frech aussieht.

Wurm: Die juckt mich aber.

Vorstandsvorsitzender: Wens juckt, der kratze sich. Seien Sie nicht so narrisch. Konzentrieren Sie sich. Es ist ohnehin nur ein kurzes Video. Und dazu braucht man keine teure Perücke. Also packen Sie die Gitarre, als würde es Ihnen Spaß machen zu singen.

Wurm: Ooooo.

Vorstandsvorsitzender: Was ist also jetzt?

Wurm: Nichts. Ich habe nur geübt.

Vorstandsvorsitzender: Es heißt aber nicht „Ooooo“ sondern Eiiii, und zwar achtmal infolge.

Wurm: Eiii eiii eiii eiii eiii!

Vorstandsvorsitzender: Das waren nur fünfmal. Mit Gefühl, verdammt noch mal. Mit Gefühl. Denken Sie daran, dass unsere Zukunft, besser gesagt, Ihre Zukunft, von diesem Moment abhängt. Und nicht vergessen, schön flott singen: „Me plus you, I’ma tell you one time“. Und zwar zweimal. Stets heiter! Also one, two three:

Wurm: Eiiiiii! Mi plass ju, eima tell ju wann teim. O Herr, muss das sein?

Vorstandsvorsitzender: Jammern Sie nicht so elend daher. Außerdem klingt Ihr Englisch erbärmlich. Haben Sie mir nicht versprochen, Sie würden den Text auswendig und perfekt lernen? Das ganze war ohnehin Ihre Idee.

Wurm: Meine Idee?

Vorstandsvorsitzender: Jawohl. Haben Sie das schon vergessen? Setzt bei Ihnen wohl die Altersdemenz ein? Sie waren es, der mir endlos vom Erfolg diesen Justin Bieber vorgeschwärmt haben. „So jemanden bräuchten wir, um den Umsatz ein bisschen in die Höhe zu zwicken.“ Das haben Sie gesagt. Ich zitiere wörtlich.

Wurm: Aber ich habe es anders gemeint.

Vorstandsvorsitzender: Wie dann anders? Dass er für uns Texte schreibt? Das ist ein Knabe, war nie auf der Journalistenschule. Nur Mädchen, Mütterchen und Päderasten stehen auf ihn. Denken Sie daran: Wir möchten mit Ihrem Auftritt ein ganz anderes Publikum becircen.

Wurm: Aber warum muss ich dieses dämliche Kostüm anziehen? Ich bin schon 55 Jahre alt.

Vorstandsvorsitzender: Was? Schon so alt? Wir müssen bald an die Frührente denken, mein lieber Wurm. Allmählich glaube ich, Sie haben aufgehört, kreativ mitzudenken. Wozu bezahle ich Sie denn? Wir sind Medientiere. Wer nicht untergehen will, der darf das Querdenken nicht verlernen.

Wurm: Habe ich Ihnen aber nicht die Idee gegeben, alle Journalisten zu kündigen und nur die alten, recycleten Texte zu drucken?

Vorstandsvorsitzender: Ja, das war ja vielleicht keine so schlechte Idee. Allerdings nicht ganz durchdacht. Leider. Und nun werden wir von allen Seiten wegen Verletzung der Urheberrechte verklagt – obwohl wir unsere Autoren damals dazu zwangen, Knebelverträge, in denen sie ihre Urheberrechte abtraten, zu unterschreiben. Sie lassen einfach nach, Wurm. Ich bin aber gnädig. Das wissen Sie. Deshalb bekommen Sie heute Ihre letzte Chance. Wir werden den Song in YouTube uploaden. Wird er zum Hit, dann sind Sie gerettet. Sonst…

Wurm: Eiii eiii eiii eiii eiii eiii eiii eiii!

Vorstandsvorsitzender: Sehr schön. Diesmal haben Sie’s mit Gefühl gesungen. Wer braucht so einen Justin Bieber? Man hat lediglich das Geschäftsmodell nötig, mein lieber Wurm.

Scharfe Wörter aus meinem Giftkabinett

Heute möchte ich ein Exempel statuieren. Nein, falsch. Ich möchte die Probe aufs Exempel machen. Nein auch das nicht.

Heute möchte ich Intimes preisgeben.

Als ehrgeiziger Fremdsprachler war ich schon immer bestrebt, Ihre deutsche Muttersprache so zu beherrschen, dass meine Identität als Ausländer (zumindest in der Schriftsprache) akzentfrei erscheint. Als Messlatte für die Realisierung dieses ersehnten Zustands hatte ich zwei coole Redewendungen „Exempel statuieren“ und „die Probe aufs Exempel machen“, ausgewählt. Wenn ich in der Lage bin, diese unauffällig in einem Satz unterzubringen, habe ich‘s mir jedenfalls eingebildet, so als würde ich einfach „der Kaffee ist kalt“ oder „keiner mag Ungeziefer“ über die Lippen bringen, dann wüsste ich: Ich bin so weit.

Und es fällt auf, wie behände ich mit Ihrer Sprache umgehe – fast wie der Töpfer mit dem nassen Ton. Oder? Nein, im Gegenteil. Inzwischen weiß ich, dass mein Ziel in weiter Ferne liegt. Mir ist nämlich klar: Für manche Vokabeln dieser deutschen Sprache habe ich nach wie vor ein taubes Ohr. Damit meine ich: Es gibt gewisse Wörter, deren Sinn meiner Aufnahmefähigkeit entgehen. Es schmerzt mir sehr, dies eingestehen zu müssen.

Hier möchte ich Ihnen manche der schlimmsten aus meinem privaten Wörtergiftschrank vorstellen.

Zum Beispiel: „indes“ und „indessen“. Ich wäre so froh, wenn ich dieses konträre Zwillingspaar selbstbewusst und unzögerlich in meine Sätze einbauen könnte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe „indes“ schon öfters in Sätzen geschrieben. (An „indessen“ wage ich mich gar selten heran!) Machen Sie selbst die Probe aufs Exempel: Googeln Sie die Stichworte „Sprachbloggeur“ und „indes“. Sie werden mehrere Beispiele meines Wagemutes entdecken. Trotzdem fühle ich mich jedesmal unwohl dabei.

Noch schlimmer ist indes jene schreckliche Vokabel „nachgerade“. Mit Verlaub: Wann haben Sie, liebe Muttersprachler, zum letzten Mal „nachgerade“ in einem eigenen Satz verwendet? Ich persönlich habe eine richtige Phobie gegen dieses Wort. Und ich habe seinen Sinn, so sehr ich mich bemüht habe, noch nie einprägen können. Wenn ich einen fremden Satz , in dem es vorkommt, lese, muss ich es jedesmal im Wörterbuch nachschlagen. Wenn ich es selbst in einem Satz verwenden würde, käme ich mir wie ein Hochstapler vor.

Das Problem ist berechtigt. Denn „nachgerade“ hat – so Duden – zwei Bedeutungen: 1.) „nach und nach“ 2.) geradezu. Wie kann ein einziges Hilfswort zwei so unterschiedliche Bedeutungen haben?! Gleiches gilt übrigens für „indes“/“indessen“. Diese zickige Zweisamkeit drückt sowohl eine Gleichzeitigkeit wie auch eine gewisse Gegensätzlichkeit aus. Alles klar? Wie soll ein sprachgeschundener Migrationshintergründler wie ich so etwas jemals kapieren?

Und noch ein Beispiel aus dem Giftkabinett. Hier geht es um den scheußlichsten Begriff in der deutschen Sprache überhaupt: „gleichsam“. Ein tückisches Wort. Denn Jahre lang habe ich mir eingebildet, ich verstehe dessen Sinn. Für mich war es schon immer die niedliche Kusine von „gleichfalls“ oder „ebenfalls“. Ha! Heute sehe ich mich genötigt, dieses Scheißwort jedesmal nachzuschlagen. Ich merke es mir so gut wie n i e.

Denn dieses Wort bedeutet zeitgleich „sozusagen“ und „gewissermaßen“. Wie ist das möglich? Mein Hirn streikt indes, wenn ich versuche diese Frage zu beantworten. Deshalb habe ich noch nie versucht, das Wort in einen Satz einzubauen. Ja und bitte schön: Wann haben Sie es zum letzten Mal benutzt? Hmm?

Sie sehen. Heute habe ich mich nachgerade aus dem Fenster gelehnt. Indessen habe ich gleichsam meine schöne Maske der Souveränität fallen lassen. Ist doch okay. Es tut manchmal gut, Verschämtes zuzugeben. Wie soll man sonst in der Lage sein, ein Exempel zu statuieren?

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