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Deutsch vs. Englisch: etwas, was ich nicht ganz verstehe…

Etwas stimmte mit dem Satz nicht …aber was?

Tagelang studierte ich ihn immer wieder. Manchmal konnte ich mich kurz beruhigen. Er ist in Ordnung, konstatierte ich und lullte mich erneut in einen Zustand der falschen Hoffnung.

Doch bald kehrte der hartnäckige Zweifel zurück…

Liebe Leser, heute etwas Seltenes: Ich gewähre Ihnen Zutritt in den Gedankenprozess eines Menschen, der in der Fremdsprache schreibt. Willkommen in meinem geplagten Kopf. Fürwahr: Es ist ein hartes Schicksal, Schriftsteller in der Fremdsprache zu sein.

Aber zurück zum fraglichen Satz. Er lautete folgendermaßen:

„Jedesmal reichte Sie mir die Hand an der Tür zur Begrüßung.“

Wäre ich deutscher Muttersprachler, würde niemand an diesen Satz Anstoß nehmen. Muttersprachler genießen eine gewisse Narrenfreiheit. Ihre Fehler bezeichnet man als Ergebnisse des „individuellen Sprachgefühls“.

Des armen Migrantlers Worte hingegen werden mit anderen Maßstäben gemessen. Sein „Individuelles Sprachgefühl“ wird meistens schlichtweg als fehlerhaft ausgelegt. Und dagegen ist noch kein Kraut gewachsen!

Zum Beispiel der oben zitierte Satz. Wenn ich Muttersprachler wäre, würde er höchstwahrscheinlich nicht auffallen. Sie würden ihn als Resultat gewisser stilistischer Überlegungen seitens des Autors erachten. Schreibt ihn aber der Migrantler, so weiß schon jeder Muttersprachler, wie der Satz besser klingen könnte. Nur ich weiß es nicht.

Zufällig rief Ernst vor ein paar Tagen an, um Hallo zu sagen. Wie immer plauderten wir eine Weile über Gott und die Welt. Dann fiel mir mein Satz ein. „Du, Ernst, darf ich dir einen Satz vorlesen. Ich bin überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Ich komme aber selber nicht drauf.“

„Na, klar.“

Ich las Ernst meinen Satz vor.

Wie aus der Pistole geschossen, antwortete er: „‘Jedesmal reichte sie mir zur Begrüßung an der Tür die Hand.‘ So muss es heißen.“

„Aha!“, sagte ich und schrieb seine Version dankend auf. „Ja, du hast recht. Es klingt jetzt wirklich viel logischer – auch viel rhythmischer.“ Das sagte ich. Bloß: Ich wäre nicht in der Lage meine neu entdeckte Begeisterung zu begründen.

Das konnte aber Ernst: „Im Deutschen“, sagte er, „will man in einem Satz das Wichtigste bis zum Schluss aufbewahren – praktisch als Bonbon. Wenn in deinem Satz bereits am Anfang die ‚Hand‘ in Erscheinung tritt, kann es vorkommen, dass dem Leser weniger die ‚Begrüßung an der Tür‘ auffällt. Diese Worte könnten dann zu Beiwerk werden. Wenn aber die Hand noch nicht erwähnt wurde, wächst die Spannung, und die anderen Elemente wirken wie heiße Spuren in einem Krimi.“

„Scheißsprache“, entgegnete ich. Das sage ich immer, wenn ich feststelle, dass ich diese Sprache nach so vielen Jahrzehnten immer noch nicht beherrscht habe. Aber Ernst hatte bestimmt recht. Und zum ersten Mal habe ich von einem native speaker eine brauchbare Regel erhalten für die knifflige Wortstellung der deutschen Sprache.

Ich will mich aber nicht zu früh freuen. Denn es gibt, wie man weiß, immer eine Ausnahme für jede Regel. Ich kenne sie nur noch nicht.

By the way: Erst nach dem Gespräch mit Ernst ist es mir eingefallen, dass die Wortstellung in meinem Satz höchstwahrscheinlich vom Sog meiner englischen Muttersprache beeinflusst wurde. Hier jetzt eine englische Übersetzung: „Each time, she extended me her hand at the door to greet me.“ Ein einwandfreier Satz auf Englisch.

Aber nun wurde ich erst recht stutzig: Auf Englisch muss die Spannung wohl nicht erst am Schluss aufgelöst werden, dachte ich. Und dennoch käme niemand auf die Idee, andere Worte im Satz als „Beiwerk“ zu erachten.

Warum geht das auf Englisch aber nicht auf Deutsch?

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