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Plagiat mal ganz anders

Auch ich bin nur Gefangener des Zeitgeistes. Klar, dass ich immer wieder über Themen schreibe, die in der Luft liegen wie zum Beispiel Felix Baumgartner, der vor kurzem aus einer Höhe von 39.000 Metern aus einer Art Raumkapsel ins Leere gesprungen ist, wohl um diverse Weltrekorde zu brechen, damit er in die Geschichte oder in das Guiness Book of Records eingehe.

Doch weil ich mich nur begrenzt für solche Waghalsigkeiten interessiere, ist für mich ein Thema wie Baumgartner wenig ergiebig und schnell erledigt. Ich hoffe nur, dass ihm keiner so schnell nacheifert. Wem ein solcher Sprung nicht gelingt (auch wenn der Sponsor für alle Kosten aufkommt), sieht hinterher aus, wie eine reife Wassermelone, die vom Lieferwagen auf die Landstraße geklatscht ist.

Nein, keine kühnen Sprünge. Ich schreibe heute lieber über das Plagiat, ohnehin schon lange ein aktuelles Thema – zumindest in Deutschland. Und die Entlarvung von Doktorarbeit-PlagiatorInnen (notabene: hier eine politisch korrekte Form) scheint für manche mittlerweile zu einem neuen Beruf(ung) zu werden.

Ich wäre selbst mal gern ein Herr Doktor geworden, habe allerdings nie eine Doktorarbeit geschrieben. Einmal vor dreißig Jahren sagte mir ein Bankier (heute „Bankmitarbeiter“ bzw. „Bankberater“): „Grüß Gott, Herr Doktor.“ Ich habe ihn schleunigst korrigiert, weil ich schon damals lang genug in Deutschland gewesen war, um zu wissen, dass die Erschleichung eines Doktortitels strafbar ist.

Dr. Blumenthal klang aber nett, Fachrichtung egal. Damals konnte man nämlich in München Wohnungen leichter bekommen, wenn man sich mit Doktortitel vorstellte. Der Grund: Vermieter hatten gerne Namen mit „Dr.“ auf dem Klingelbrett. Es machte irgendwie Eindruck.

Momentan ein undankbarer Titel wegen der Jagd auf die Doktoren, vor allem, wenn sie Politiker sind. Und jeder Bürger kann helfen, die Erschlichenen zu entlarven, indem er plagiierte Stellen in drögen Doktorarbeiten aufdeckt. Das Internet demokratisiert.

Umso mehr wollte ich als sprachinteressierter Mensch, das Wort „Plagiat“/“Plagiator(in)“ ein wenig erläutern. Denn ich wusste selbst nur wenig darüber.

„Plaga“ auf Lateinisch bedeutet „Hieb“, „Streich“ und im übertragenen Sinn „Plage“ und „Seuche“. Der „plagiarius“ war Ausführender einer „plaga“ ein „Schlägertyp“ also – einer, z.B., der von der Mafia losgeschickt wurde, um Schutzgelder von säumigen Schuldnern zu kassieren. Es liegt auf der Hand, dass dieses Wort zusätzlich die Bedeutung „Folterknecht“ bekam. Was hat das mit demjenigen zu tun, der geistiges Eigentum entwendet? Noch gar nichts. Erst um die Zeit von Augustus Cäsar bekam dieses Wort die Bedeutung „Plünderer“, „Räuber“ und somit kommen wir der Sache etwas näher.

Auch ein „Menschenentführer“ war für den Römer ein „plagarius“. Warum, weiß ich nicht. Außerdem sagten manche anstatt „plagarius“ „plagiator“. Beide Wörter hatten irgendwie denselben Sinn. Nur: „Plagiator“ benutzte man auch, um einen Verführer von Jugendlichen zu schildern. Immer noch kein „Entführer“ von geistigem Eigentum.

Dass dieses Wort seine heutige Bedeutung bekam, haben wir einem einzigen Menschen zu danken: dem römischen Dichter, M. Valerius Martialis, Martial auf Deutsch. Er lebte von 40 n.Chr. bis etwa 102, und verbrachte viele Jahre in der Innenstadt Roms, wo er eine kleine Wohnung in einem mehrstöckigen Wohnhaus hatte. Aus den Fenstern seiner Wohnung (die er nur mit Fensterläden zumachen konnte) schaute er auf eine belebte Straße. Es gab Lärm, Schmutz, Gestank und viel Betrieb da unten. Die Großstadt war seine Welt, und sie war auch der Inhalt seiner Werke. Er saß an seinem Schreibtisch, zündete eine Öllampe an und erfasste seine Welt in lebendiger Lyrik, mal satirisch, mal rührend, mal bissig. Jeder kannte ihn.

In einem Gedicht (1,52 seiner „Epigramme“) beklagte er sich bei einem gewissen Quintianus, einem wohlhabenden Patrizier, der einen eigenen Hausdichter anstellte. Dieser Hausdichter pflegte aber Gedichte von Martial zu rezitieren als wären es die eigenen. Das brachte Martial verständlicherweise auf die Palme. In einem Gedicht an Quintianus beschreibt er dessen Hausangestellten als „plagiarius“. Vielleicht meinte er damit nur, dass der andere ein „Plünderer“ oder „Entführer“ sei. Egal. Das Wort prägte. Dank Martial heißen alle, die das Werk anderer für das eigene Werk ausgeben ohne Hinweis auf den Urheber, „Plagiatoren“ – auf Englisch „plagiarizers“.

Nebenbei: Wer die Werke der Antike liest, erfährt auch von einem Menschen, der wie der oben erwähnte Felix Baumgartner aus einer großen Höhe herunterstürzte: Ikarus. Letzterer hatte leider keinen Fallschirm, nur Flügel. Diese waren leider aus Wachs und schmolzen im Sonnenlicht dahin.

In eigener Sache: Bin nächste Woche ausnahmsweise verreist. Berichte erst in zwei Wochen wieder aus der Welt.

Hier erfahren Sie, warum es Gesetze gibt

Ist etwas „tierisch gut“, so freut sich PETA, d.h., die „People for the Ethical Treatment of Animals“ – so der Name der bekannten Tierschutzorganisation. PETA mag es, wenn die Tiere in ein positives Licht gerückt werden.

Ist etwas „tierisch schlecht“, so freut sich PETA eben nicht. Dann wird „tierisch“ nämlich zu einem Begriff, der eine Diskriminierung ausdrückt. „Der Mensch ist kein Tier“, sagte Brecht. Sowas hört PETA gar nicht gern.
Entschuldigen Sie, wenn ich an dieser Stelle meinen Gedanken so mit lauter Stimme nachgehe. Dieses Gedankenspiel fand allerdings schon letzte Woche statt, während ich Nachrichten glotzte. Eine Frau – ich vergesse den Zusammenhang – stand vor der Kamera und gebrauchte das Idiom „tierisch gut“. Ich hatte diese Redewendung seit langem nicht mehr gehört. Gleich fiel mir PETA ein und obige skurrile Wörterspielerei. So funktioniert mein Kopf oft – er ist einfach tierisch assoziativ.

Inzwischen habe ich in meinen Nachschlagwerken festgestellt, dass „tierisch“ in der Bedeutung von „sehr“, „äußerst“, „ungemein“ ein relativ neuer Ankömmling in der Umgangssprache ist. Die eine Quelle, Herr Küppers Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, gibt als Entstehungsdatum das Jahr 1970 an. Mein sechsbändiger Duden aus den 1970er Jahren markiert das Wort in diesem Sinn als „Jugendsprache“.

Die Dame in den Nachrichten, für die etwas „tierisch gut“ war, hatte sich diesen Sprachpartikel, könnte man annehmen, als Mädchen in den 70er Jahren angeeignet. Ich damals als Sprachfrischling in Deutschland habe es ebenfalls gehört. Ich konnte freilich nicht wissen, dass es sich um eine neue Zutat in einer brodelnden Sprachsuppe handelte. Ihn letzte Woche wiederzuentdecken war für mich wie das Wiedersehen mit einem alten Freund, den ich mit den Jahren aus den Augen verloren hatte.

Mir fällt dieses Wörtchen nach einer tierisch anstrengenden Woche ein. Wer mein Beitrag der vorigen Woche gelesen hat, weiß, dass ich ziemlich durch den Wind war. Meine Spammer hatten das Fass endlich zum überlaufen gebracht. Ich begann über die „Unsprache“ tierisch zu schwadronieren. Täglich war ich damit beschäftigt, falsche Benutzerkonten zu löschen, aber es kamen immer neue dazu. Es war, als ob ich in einem löchrigen Schlauchboot säße und ständig am Ausschöpfen war. Ich war mit der Geduld am Ende. Schließlich wandte ich mich an meinen Serveranbieter und bat um Hilfe.

Eine gute Entscheidung, und er ergriff wirksame, wenn auch drastische Mittel. Ganz einfach: Er kappte die Leser-Option „Registrieren“. Das heißt: Kein Leser kann seitdem ein beim Sprachbloggeur neues Benutzerkonto eröffnen. Darüber hinaus installierte er ein Cyber-Werkzeug namens „Captcha“. Für Menschen kein Problem. Man muss halt eine einfache Frage beantworten, um zu beweisen, dass man Mensch ist. Nur Botnet-Automaten tun sich mit „Captcha“ schwer.

Wie gesagt: drastische Mittel. Wer ein Benutzerkonto eröffnen möchte, muss künftig mir eine Mail schicken und wird dann von mir höchstpersönlich als Benutzer eingetragen. Handwerk also. Diese Maßnahmen haben bereits Wirkung gezeigt. Heute habe ich erfahren, dass ich, seitdem ich für Ordnung gesorgt habe, 7669 Botnet-„Benutzer“ ferngehalten habe – täglich sind es etwa 1300. Das tut gut. Ein Gefühl, als ob ich den Kammerjäger geholt hätte, so dass das Ungeziefer endlich weg ist.

„Ungeziefer“? Das klingt beinahe wie „Tiere“. Falls sich ein PETA-Mitglied unter meinen Lesern befindet, möchte ich klar betonen, dass meine Spammer keine richtigen Tiere waren. Es waren elektronische Impulse, die die Aufgabe hatten, Kommunikation zu zerstören. Im Übrigen: Diese Impulse wurden von Menschentiere auf den Weg gebracht.

Doch nicht nur „Tiere“ und „tierisch intensive“ Erlebnisse beschäftigen mich heute. Meine drastische Lösung fürs Botnet-Problem war zugleich eine Art Aha-Erlebnis. Denn jetzt verstehe ich, wie es dazu kam, dass es Gesetze gibt. Auch ich habe für Gesetz und Ordnung gesorgt, weil Wilderer meine Ordnung zu zerstören drohten. Gesetz bedeutet aber Freiheiten einschränken. Das habe ich getan. Ich bin überzeugt, dass jede Gesetzgebung auf ähnlichen Beweggründen beruht. Fazit: Wegen der Ungebührlichkeit der Wenigen, müssen die Vielen auf Freiraum verzichten.

Habe ich schon wieder die Geschichte der Welt erzählt? Nun muss man sich fragen, was die Idioten davon haben, dass sie anderen die Freiheit vermiesen.

Vorruf zum Nachruf für das „Botnet“

Nicht zum ersten Mal schreibe ich über meine Spammer. Eine Zeitlang habe ich sie sogar richtig lieb gewonnen. Früher meinte ich, wenn von meinen Spammern die Rede war, ohnehin nur jene strebsamen Billigarbeiter in Indien, China, Bangladesch usw., die auf meine Kosten auf ihre Kosten zu kommen versuchten. Sie leisteten sorgfältige Handarbeit, um an diese Adresse Werbung für Potenzmittel, Wochenendhäuser in Polen, nutzlose Medikamente, Penisvergrößer usw. zu schicken.

Das war eine schöne Zeit. Man hatte zumindest mit Menschen zu tun.

Inzwischen wurde die Branche automatisiert. Die netten Arbeitssklaven von damals wurden schroff vor die Tür gesetzt und mit leistungsstarken Datenrobotern, „Bots“ genannt, ausgetauscht. „Bots“ muss man nicht bezahlen. Sie verlangen lediglich Strom, um unermüdlich tätig zu bleiben.

Das Resultat: Seitdem die Datenroboter am Werk sind, finde ich täglich etwa 750 neue „Benutzer“ auf dieser Seite vor. Das heißt: Die „Bots“ richten beim Sprachbloggeur (oft in Minutentakt) „Benutzerkonten“ ein. (Sie wissen nichts davon. Nur ich sehe sie). Minute für Minute tauchen neue Namen auf meine Benutzerliste auf. Diese „Benutzer“ heißen „MDJQHMrYRA“ oder „dispusaTusSaG“ oder“ lqoCXcKAca“ oder „KisgiHFkQF“ und geben Email-Adressen von gmail oder aol.com an. Alles geschieht automatisch.

Bisweilen schreiben sie sogar Kommentare. (Auch diese sehen Sie nicht, weil ich sie lösche, bevor es dazu kommt). Diese Kommentare bestehen üblicherweise aus Nonsensbuchstabenreihen, etwa: Eti4e08934.ev43i3afelfd-dijroqjafje:http://eisirfeu3+2-dfjweiru-vef oder so.

Anfänglich ging ich mit diesen „Benutzern“ behutsam um. Ich dachte: Vielleicht gibt es unter ihnen auch echte Benutzer. Ich wollte keine richtigen Konten versehentlich löschen.

Es waren aber keine echten Benutzer, sondern nur Cyberheuschrecken. Als die Angriffe die Oberhand zu nehmen drohten, begann ich die neuen Konten reihenweise zu löschen, ohne viel zu überlegen. Echte Benutzer von den falschen zu unterscheiden, hätte zu viel Zeit gekostet. Das heißt: Falls Sie mal vergebens versucht haben, hier ein Benutzerkonto zu öffnen, wissen Sie nun, warum es nicht geklappt hat.

Trotzdem nahmen die Angriffe weiterhin zu. Inzwischen lese ich die Benutzernamen nicht mehr durch. Stattdessen konzentriere ich mich auf die „IP-Adressen“, sprich „Internetprotokoll-Adressen“. So heißen die Server, die als Postamt für die Versendung von neuen „Benutzern“ dienen. Diese IP-Adressen sehen folgendermaßen aus: 37.122.349.34 oder 176.453.945.345 usw. Im Internet findet man endlose Listen, die verraten, welche von diesen IP-Adressen in Wirklichkeit nur „Botnet“-Adressen sind. Als Betreiber dieser Seite kann ich, wenn ich will, IP-Adressen sperren oder löschen. Genau das tue ich – mehrmals täglich sogar. Doch dies hilft leider nur kurz. Bald werden neue Botnet-Adressen generiert, und dann geht das Spiel wieder von vorne los. Nebenbei: Meine Plagegeister stammen hauptsächlich aus Russland und aus der Ukraine. So viel weiß ich. Auch China und die Seychellen sitzen in der ersten Reihe. Gestern sperrte ich eine IP-Adresse aus Schweden, weil sie vom Botnet gekapert wurde. Mit IP-Adressen aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Österreich muss ich vorsichtig sein. Manche tragen sowohl Spambotschaften wie auch die der normalen Surfer.

Die tägliche Aufräumarbeit kostet mir mittlerweile ca. 30 Minuten Zeit.

Die Situation ist so widersinnig geworden, dass ich mich mittlerweile frage, was die Botnets eigentlich bezwecken. Sie wollen scheinbar weder Potenzmittel noch Datschas verkaufen wie früher. Man kann nicht wissen, was sie wollen, weil ihre Botschaften nur noch aus Buchstabensalat bestehen.

Ich bin sicher, dass ich nicht der einzige Webseitenbetreiber bin, der täglich gegen diese Cyberhysterie zu kämpfen hat. Kaum vorstellbar, wie viel kostbare Zeit mit dem Scheiß verloren geht.

Umso mehr frage ich mich: Wozu das Chaos, das allmählich zu einer Unsprache geworden ist? Kommunikation spielt hier keine Rolle mehr – nur Zerstörungswut zählt. Die Betreiber der Botnets haben jegliche Verhältnismäßigkeit verloren.

Ja, liebe Leser, hier ein Bericht von der Front aus der Pionierzeit der weltweiten Vernetzung.

Aber nicht verzagen. Ich gehe davon aus, dass diese Plage eines Tages so rapide verschwindet wie sie einst erschienen ist. So ist es halt mit den Plagen. Eines Tages steht man auf, die Sonne scheint, und die Plagegeister sind weg. Das ist das Schöne an der Dummheit. Es sind nur die Dummen, die das nicht verstehen.

Gegen die Frust der Zeit – diese frohe Botschaft

Beinahe hätte ich für diese Glosse eine lange Geschichte über einen jungen Mann namens Mohammed, wohnhaft im Münchener Westend, erzählt. Er will sich auf der Leopoldstraße von einem Zeichner porträtieren lassen. In meiner sehr langen Geschichte, inzwischen gelöscht, weigert sich der Zeichner den jungen Mann zu zeichnen. Warum? Weil er Mohammed heißt!

Es sollte nur ein Witz sein und außerdem die momentane Atmosphäre des Misstrauens bezeugen. Mir wurde die Geschichte ohnehin etwas zu kopflästig.

Heute stattdessen eine frohe Botschaft: Alles vergeht! Ja, das meine ich ernst und könnte damit diese Glosse augenblicklich beenden. Denn das Wichtigste habe ich schon gesagt: Alles vergeht.

Ich schreibe aber weiter, weil ich Ihnen eine ganz andere, unpolitische Geschichte erzählen möchte. Etwas, auf die ich neulich in der „Weltwoche“ aufmerksam wurde. Vielleicht kennen sie den Künstler Damian Hirst. Er gilt seit langem als Bad Boy der Kunstszene. Womöglich haben Sie Fotos seines mit Juwelen bedeckten Totenkopfs gesehen. Der Titel dieses Werkes: „For the Love of God“ (etwa: „Gott zuliebe“ oder „um Gottes willen“). Es handelt sich um den Platinabguss eines Menschenschädels, der mit 8601 Diamanten besetzt wird. Auf der Stirn strahlt – gewissermaßen als Krönung der Sache – ein 52-Karat-Diamant in die Welt. Der tüchtige Künstler hat dieses symbolträchtige Werk für fünfzig Millionen englische Pfund an den Mann gebracht. Ich hätte es nicht gekauft. Meine Hausratsversicherung hätte sich geweigert, einen eventuellen Verlust bzw. Diebstahl hundertprozentig zu decken. Außerdem finde ich das Werk, wenn ich ehrlich bin, zu knallig und glitzrig. Nicht mein Geschmack.

Hirst hat aber 1991 ein anderes sehr bekanntes Werk angefertigt, der den Titel: “The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living” (etwa: „die physische Unmöglichkeit des Todes im Vorstellungsvermögen eines Lebenden“) trägt. Es handelt sich um eine wuchtige Installation, genauer gesagt, um einen präparierten Tigerhai mit dramatisch aufgerissenem Maul, der in einem mit Formaldehyd gefüllten Tank rumdümpelt. Auch nicht, ehrlich gesagt, mein Geschmack. Außerdem hätten wir in der Wohnung nicht den nötigen Platz für so etwas Gigantisches. Einen Liebhaber fand der Künstler für dieses Werk dennoch. Und dieser war bereit, ca. neun Millionen Euro. dafür zu blechen. Immerhin: Einbrecher würden sich sicherlich hüten, so ein Ding mitgehen zu lassen.

Und dann ging’s los: 2006 begann der Tigerhai – seines Formaldehydbads zum Trotz – zu verwesen, ja sich regelrecht zu zersetzen. Der betuchte Sammler war verständlicherweise entsetzt. Seine Wertanlage drohte zu einer giftigen Fischfetzensuppe zu werden, zum Totalverlust also.

Glücklicherweise zeigte der Künstler in der Sache kulant und schenkte dem Sammler prompt einen nagelneuen Haifisch (und wohl frischen Formaldehyd) für den Tank.

Happy End? Ich persönlich bin mir nicht so sicher. Ich frage mich, ob der Sammler – unter diesen Umständen – diese Installation jemals gewinnbringend weiter wird verkaufen können. Schließlich muss man davon ausgehen, dass eines Tages auch der neue Fisch zu stinken anfängt. Zugegeben: Künstler Hirst – Jahrgang 1965 – ist noch relativ jung und könnte kulanterweise den Haifisch mindestens noch zwei- oder gar dreimal austauschen. Doch eines Tages wird auch die physische Unmöglichkeit des Todes im Vorstellungsvermögen eines Lebenden den Künstler selbst heimsuchen. Was dann?

Diese Moritat soll nur eines beweisen: Alles vergeht! Was übrigens auch für die lustigen Videos gilt, die Sie vielleicht vor zwanzig Jahren von den Kindern oder vom Urlaub gedreht haben. Und nicht zu vergessen: Auch die tausende Digi-Fotos auf Ihrer Festplatte haben ein Verfallsdatum.

Und deshalb diese frohe Botschaft heute auch für einen jungen Mann namens Mohammed – falls es ihn gibt – , der sich gern von einem Straßenzeichner porträtieren lassen möchte. Ja, lieber Mo, du bekommst mal dein Bild.

Neu aus den USA: „muslim rage“

ich habe lang überlegt. Soll ich, oder soll ich nicht.

Ja, es geht ums Brimborium ums Filmchen „Innocence of the Muslims“. Haben Sie es gesehen? Ich schon. Diesen dilettantischen Rundumschlag als Film zu bezeichnen wäre vielleicht übertrieben. Er existiert ohnehin nur als „preview“, Vorschau. Bisher kennt niemand die ganze alberne Schulhofprovokation. Existiert sie überhaupt? Auf jeden Fall: Schlecht gespielt, hölzerner Dialog, billig, dumm.

Ich gehe davon aus, dass ich hier wahrscheinlich nichts Neues über diese immer surrealer werdende Situation (heute bei Google 259 millionen Treffer für „Innocence of the Muslims“) hinzuzufügen habe. Alles wurde schon gesagt – mehrmals.

Ich habe keine Antworte, dafür aber Fragen.

Zum Beispiel: Das kurze Video fristete bei YouTube Monate lang ein einsames Dasein, kaum beachtet. Warum wurde es ausgerechnet erst wenige Tage vom dem 11. Jahrestag des „nine-eleven“ entmottet und ins Arabische übersetzt?

Und: Wer hat es übersetzt – bzw. hat veranlasst, dass es in arabischer Übersetzung dreckgeschleudert durch die Welt wird?

Wer profitiert davon, dass mittlerweile Hunderte von Menschen als Resultat dieses Blödsinns tot sind – die meisten selbst Muslime?

Rückblick: „Mohammed-Karikaturen“. Auch damals mussten viele Menschen aus nichtigen Gründen sterben. Wer kann sich aber noch heute erinnern, dass der Skandal erst dann aufflammte, nachdem zwei dänische Imame, Ahmad Abu Laban und Ahmed Akkari in Richtung Ägypten und Libanon (s. Wikipedia) mit besagten Zeichnungen aufbrachen? Dort angekommen, zeigten sie allerdings nicht nur die zwölf Karikaturen aus dem „Jyllands-Posten“, sondern auch drei zusätzlichen Bilder, die als besonders geschmacklos galten. Erst nachdem die 15 Zeichnungen rumgereicht wurden, ging es los. Nur: Wer hat die drei besonders fiesen Bilder, die nicht im „Jyllands-Posten“ erschienen waren, gezeichnet? Und warum? Diese Fragen wurden, soweit ich weiß, nie befriedigend beantwortet.

Nebenbei: Iran reagierte auf die „Mohammed-Karikaturen“ damals mit einem Bilder-Wettbewerb: Die geschmacklosesten Holocaust-Zeichnungen sollten prämiert werden. Warum ausgerechnet Holocaust-Zeichnungen?

Letzte Woche hatte ich ein sehr offenes und freundliches Gespräch mit zwei Persern aus meinem Bekanntenkreis. „Eins verstehe ich nicht“, sagte einer. „Warum hat die US-Regierung die Veröffentlichung dieses Films nicht gleich verboten?“

„Weil es in Amerika wegen der Redefreiheit keine Vorzensur gibt. In Amerika darf man Hitler öffentlich preisen oder im Radio gegen jede Religion hetzen. Glauben Sie mir aber: Keiner außer vielleicht den üblichen Schwachköpfen hört zu. Aber auch ich habe eine Frage: Warum muss sich eine so große Religionsgemeinschaft wie die islamische jedesmal aus den Fugen geraten, wenn ein paar Idioten mit einer unbeholfenen, albernen Provokation hervortreten? Wäre es nicht würdiger, solche Irritationen einfach zu ignorieren?“

Gestern las ich, dass „Newsweek“ mit einer Titelgeschichte „Muslim Rage“ (muslimische Wut) für Furore sorgte. (Keine Ahnung, warum übrigens). Aber noch wichtiger: Ich habe erfahren, dass „muslim rage“ in den USA zu einem stehenden Begriff wird. Einerseits von jungen Muslimen gebraucht, die eigene „Muslim Rage Comics“ produzieren, um die eigene Frust von der Seele zu schreiben ( eine gute Idee, finde ich. Damit kann man die eigene Situation durch Kunst und Ironie überwinden); andererseits, wenn ich es richtig verstanden habe, von nichtmuslimischen Amerikanern, die „muslim rage“ als Redewendung etwa in der Bedeutung von „Stinkwut“ benutzen. Beispiel: „Ich kriege eine „muslim rage“, wenn mein Wagen nicht anspringt.

Aber wozu diese Rage? Meine Theorie: Die Zahl der Jugendichen ist in vielen muslimischen Ländern sehr hoch, die Bildungschancen hingegen sehr niedrig (geschweige denn die Bildungschancen der Mädchen). Diktaturen fürchten sich stets vor einer gebildeten Jugend (siehe den heutigen Iran).

Entrüstung gegen „gottlose“ westliche Ländern zu schüren, ist ein altbewährtes Mittel, um die Jugend bei Laune zu halten – auch wenn dabei einige zu Tode kommen.

Ich erzähle nichts Neues. Außerdem kennen auch wir im Abendland eine eigene „muslim rage“ bzw. „Christenfurore“, wenn freilich aus früheren Zeiten, als Häretiker, Brunnen vergiftende Juden und diverse Freidenker instrumentalisiert wurden, um von wahren meist wirtschaftlichen Problemen abzulenken.

Sie erinnern sich vielleicht vor ein paar Monaten ans umstrittene Papstbild am Cover der Satire-Zeitschrift „Titanic“. Früher hätte man die unartigen Eulenspiegel dieser streichsüchtigen Redaktion geköpft, gerädert oder gevierteilt wegen dieses pietätslosen Verstoßes gegen Gottes Stellvertreter auf Erden. Im heutigen Deutschland zuckt man stattdessen etwas müde mit den Achseln. Nach einer Woche ist die alberne Provokation ohnehin vergessen. Hätte der Papst die Sache zur Staatsaffäre aufgeblasen, dann wäre erst recht die Hölle los.

Ende der Predigt.

Die Fremdsprache als Fahrt auf der Titanic – eine Klage

Kennen Sie das neue Buch vom tschechischen Ökonomen Tomáš Sedláček: „Die Ökonomie von Gut und Böse“? Hier keine Schleichwerbung, obwohl der Mann nicht auf den Mund gefallen ist. Ich habe das Buch ohnehin nie gelesen, lediglich ein Interview mit dem Autor. Meine Überlegungen sind vielmehr sprachlicher Natur. Es geht um den Titel.

„Wieso heißt das Buch ‚Die Ökonomie von Gut und Böse‘“, fragte ich, „und nicht ‚Die Ökonomie von Gutem und Bösem‘ oder ‚Die Ökonomie vom Guten und Bösen‘“?

„Weil“, erwiderte meine Frau, geduldig wie immer, „ ‚Gut und Böse‘ ein stehender Begriff ist. Es klingt einfach besser.“

„Ich wusste, dass du so antworten würdest. Dennoch bin ich überzeugt: Würde ich ein Buch mit diesem Titel schreiben, hätte ihn mir ein fleißiger Lektor aus grammatikalischen Erwägungen gestrichen. Nur Muttersprachler dürfen sich Freiheiten mit der Sprache erlauben.“

„Der Autor ist aber kein Deutscher. Er ist Tscheche.“

„Dann hat sich einer im Verlag den Titel ausgedacht.“

„Kann ich nicht sagen.“

Nein, hier kein Anfall der Larmoyanz. Trotzdem werde ich nie vergessen, was mir ein Textchef, als wir über Formulierungen feilschten, einst einschärfte: „Schließlich ist es unsere Sprache, Herr Blumenthal.“

Inzwischen bin ich überzeugt, dass zwei Richtsätze gelten: einer für die Muttersprachler: einer für die Schwiegermuttersprachler. Ein ganz anderes Beispiel: Wenn ich mir gönne, ein keckes „drauf“, ein lockeres „stehn“, ein umgängliches „rum“ (anstelle von „herum“) in einem Text zu schreiben, werden mir solche stilistische Freiheiten meistens gestrichen.

Freundin H., einer großartige Schriftstellerin, zeige ich manchmal meine bereits ausgebesserten Text. Einmal sagte sie: „Dein Deutsch hört sich manchmal zu gut an, es wirkt brav, lebt nicht. Vielleicht wäre es doch besser, wenn du Englisch schreibst. Da wirst du bestimmt lockerer.“

Ein richtiges Dilemma, aber dies ist nur die halbe Geschichte. Denn, um ehrlich zu sein: Manches werde ich in der Schwiegermuttersprache nie meistern. Zum Beispiel das mit dem Genus. „Verlasse dich auf deine Gefühle“, empfahl mir einst Kollege Th., „Dann wirst du von allein jedes Wort richtig erfassen.“

Ha. Wenn Th. nur wüsste. Hier einige Beispiele meines Sprachgefühls: Fangen wir mit „Aufruhr“ an. Mein Gefühl, auf das ich mich verlassen will, möchte DIE Aufruhr schreiben. Das ist aber falsch. Aber warum falsch? Immerhin heißt die Krankheit, die den Darm in Aufruhr versetzt, DIE Ruhr. Oder „Motor“. Für mich eindeutig ein DAS Motor. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich verlasse mich einfach auf meine Gefühle. Oder „Kissen“. Dieser gemütliche Polster ist für mich ein DER. „DER Kissen“ klingt so richtig in meinen Ohren wie „DER Baum“. Wieso muss es ein DAS sein? Und wieso ist „Zucker“ ein DER und kein DAS. DAS Zucker hat was Süßes, finde ich jedenfalls.

Wäre ich Deutscher, würde jeder sagen, wenn ich „DIE Aufruhr“ schreibe: „Das ist offenbar seine Tradition. Immerhin: Der Bayer sagt „DER Butter“, und keiner meint, das sei komisch. Dialekt halt. Und bedenken Sie: Bis heute haben sich Deutsche nicht geeinigt, ob „Email“ ein DIE oder DAS ist. Mein Schweizer Freund René sagt stets „DAS Email“. Auch Karl, ein feinfühliger Gelehrter, betrachtet seine Email als ein DAS. Ich, der ängstliche Konformist, bleibe bei „DIE Email“, weil ich es so gelernt habe.

Nein ich erwarte keine klärenden Worte. Heute habe ich einfach das Bedürfnis, meine sprachliche Frust von der Seele zu schreiben, wobei ich lediglich an der Oberfläche gekratzt habe. Die Lage ist viel schlimmer. Die Unsicherheiten sind tief wie ein Eisberg. Bei jedem Gespräch fühle ich mich wie auf der Titanic.

Leiden Sie am Venus-Williams-Syndrom?

Es ist eine Krankheit, eine Malaise, die Ohr, Hirn und Zunge angreift und verwirrt.

Ich habe sie „Venus-Williams-Syndrom“ genannt, muss nur darum bitten, dass Sie hier keine unterschwellige Kritik an einer Tennisspielerin, die diesen Namen trägt, argwöhnen. Das habe ich gar nicht im Sinn. Meine Kenntnisse über das Tennisspielen beschränken sich sowieso auf die Geschwindigkeit, mit der ich, wenn ich gelegentlich „channel-surfing“ betreibe, zum nächsten Sender umschalte. Sonst weiß ich, dass man früher häufig über „unsere Steffi“ jubelte und dass sich der junge Boris weigerte, sich „Bumm-Bumm Becker“ etikettieren zu lassen. (Damals kursierte der Witz: Er ist jung, blond, großgewachsen und deutsch. Warum muss er ausgerechnet „Boris“ heißen?).

Damit habe ich meine Kenntnisse übers Tennisspiel ziemlich erschöpft und kehre nun zum „Venus-Williams-Syndrom“ zurück.

Auch bevor ich auf deutschen Schollen strandete, fiel mir auf, dass viele Deutsche, wenn sie Englisch sprachen, das englische „V“ wie in „Venus“ oder „victory“ in ein englisches „double-u“ verwandelten. Aus „Venus“ wurde „uie-nuss“, aus „victory“ „uikk-to-rie“.

Im Gegenzug sprach der Deutsche das „W“ des englischen „Williams“, „we“, „work“ usw. so aus, als wäre es ein deutsches „W“ wie in „wichtig“, „werken“, „wunderbar“ usw.

Ich fand das schon damals eigenartig. Aus dem englischen „V“ wurde ein englisches „W“; aus dem englischen „W“ hingegen ein englisches „V“. Das heißt: Der Deutsche war in der Lage, beide Laute korrekt zu artikulieren – nur verkehrt herum. Komisch, nicht wahr? Was dieses Phänomen noch merkwürdiger machte: Jeder Deutsche sprach das „V“ im Namen der römischen Göttin „Venus“ meistens so aus, wie Englisch Sprechende es tun – als stimmhaften Reibelaut.

Ich habe neulich an dieses Phänomen gedacht, als ich einem Bericht im Radio über besagte Venus Williams lauschte. Zufällig hatte ich Gelegenheit, den Namen der Tennisspielerin von drei verschiedenen Rundfunksprechern hören zu können. Der erste Sprecher glänzte mit dem altbewährten „Uienuss Uilliams“. Zweimal „Ui“ also.

Der zweite überraschte mit einem gekonnt artikulierten „Wie-nuss“ (also deutsches „W“) gefolgt von einem „Will-jams“, dass ebenfalls verdeutscht wurde.

Der dritte Sprecher sagte alles ganz richtig. Also: „Wie-nuss Uill-jams“. Nun fragte ich mich, warum der dritte Sprecher alles richtig sagte und die anderen nicht. Mein vorsichtiges Fazit: Die Ära des „Uie-nuss Will-jams“ geht langsam zu Ende.

Hier meine Fantasie: Die ersten zwei Sprecher sind älteren Jahrgangs. Das heißt: Sie entstammen einer Zeit, als man das englische „V“ und „W“ regelmäßig durcheinanderbrachte. Der dritte Sprecher ist – und dies habe ich an seiner hellen Tonlage erkannt – noch jung. Er entstammt einem Zeitalter also, wo sich der Kontakt mit der angelsächsischen Welt – dank der Globalisierung der Musik und dank den Musiksendern in der TV – verfestigt hat. Der dritte Sprecher käme also nie in die Versuchung, Stevie Wonder zu einem „Wunder“ zu mutieren oder die „Velvet Underground“ als „ueluett“ zu radebrechen. (Ja, ich weiß: Es sind die Namen von Rockopas, aber die alten sind komischerweise immer noch die neuen).

Im Zeitalter der „Wellness“-Bewegung und der „Video-Aufnahme“ werden neue Sprachgewohnheiten unentwegt eingeprägt.

Ich frage mich nur: Woher kommt es, dass Generationen von Deutschen das englische „V“ und „W“ vertausch(t)en? Ich weiß es nicht. Fest steht nur: Hier sind ganz bestimmt uralte Sprachinstinkte am Werk. Jeder, auch wenn er nie Latein gelernt hat, kennt den berühmten Spruch Julius Cäsars: „veni vidi vici“, „ich kam, ich sah, ich siegte“. Diese Worte klangen aus dem Mund Cäsars folgendermaßen: ue-ni, ui-di, ui-ki, eine Aussprache, die den in Rom beheimateten Germanen wohl nicht passte. Sie machten daraus ein „we-ni, wi-di, wi-zi“. Bis heute klingt es ähnlich, wenn ein Italiener spricht. Nur sein „wi-zi“ ist zu einem „wi-tschi“ geworden.

Hören Sie bitte in sich hinein: Sind Sie noch vom „Venus-Williams-Syndrom“ befallen?

Kleine Lüge große Folgen oder: Wie ich nach München kam

Wissen Sie den Unterschied zwischen einer Lüge und einer Liege?

Für manche gibt es keinen. Zum Beispiel für Schlesier und Sudetendeutsche. Nein, das meine ich nicht als charakterliche Verleumdung. Auch Bayer unterscheiden nicht ganz. Englisch Sprechende erst recht nicht. Wie eineiige Zwillinge stehen die zwei Wörter „to lie“ und „to lie“ da – wie „tweedle-dee and tweedle-dum“, sagen wir.

Sprachhistoriker haben viel über „liegen“ und „lügen“ zu erzählen. Ersteres hat, wie es sich herausstellt, viele Verwandte in den verschiedensten indogermanischen Sprachen, ist sogar mit dem lateinischen „lectus“, also „Bett“, verwandt, was einleuchtend ist. Die Lüge hat mit Ausnahme eines einzigen altkirchenslawischen Verwandten – dies habe ich in Kluge („Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“) gelesen – eine unbekannte Vergangenheit, hat also gewissermaßen kurze Beine.

Dies alles nur als erläuternder Hintergrund, um über eine persönliche Lüge zu erzählen: die Geschichte von Georges le Grèc. Nein, hier keine lästernde Geschichte über die Rolle Griechenlands in der EU. Wir schreiben das Jahr 1975. Ich bin ein junger Mann und lebe in einer kleinen Wohnung am siebten Stock eines Hauses an der Avenue Georges Bernanos in Paris gleich gegenüber vom Park de L’Observatoire, wo vor 200 Jahren Mme Guérin mit Victor dem jungenWilden von Aveyron, damals eine Art Weltsensation, spazieren ging.

Ich habe wenig Geld und brauche dringend Arbeit, sonst kann ich in Paris nicht viel länger bleiben. Bekannte empfehlen, dass ich mich mit einem gewissen Amerikaner (seinen Namen habe ich vergessen) kurzschließe. Er arbeite bei einer Organisation (welche habe ich vergessen)und wisse viel. Ich verabrede mich mit ihm. Er ist sympathisch, wirklich bestens vernetzt in Paris und sehr zuvorkommend. Weil ich aber keine Arbeitserlaubnis habe, sagt er, könne er mir leider nicht weiterhelfen. Er kenne allerdings einen gewissen Georges le Grèc. Vielleicht habe er eine Idee.

Ich bekomme die Telefonnummer des Georges le Grèc und rufe ihn an. Wir einigen uns, am Abend im Park de L’Observatoire – meine Idee – uns zu treffen.

Anders als zur Zeit von Victor ist dieser Park heute nur eine kleine grüne Insel mit ein paar Bänken und liegt schräg neben dem großen Jardin de Luxembourg.

Es ist Abend. Ich sitze auf einer Bank unter einer Laterne und warte. Nun tritt George le Grèc in Erscheinung. Er ist ein bulliger Mensch, nicht besonders groß, mit grauem Bürstenschnitt und Schnurbart, wirkt auf mich wie ein alter Matrose. Er reicht mir die pummelige Hand und setzt sich neben mich.

Wir reden eine gute Stunde. Er habe sehr wohl Arbeit für mich, tut er bald kund: Ich müsse mich auf einem Fest bei einer sehr wohlhabenden Amerikanerin einschmeicheln, mit Charmeoffensive weichmachen sozusagen, damit sie Geld „für die Revolution“ spende.

„Nein, das kann ich nicht. So einer bin ich nicht“, sage ich Georges le Grèc.“

„Mais oui“, erwidert er. „Das kannst du sehr wohl. Du bist jung, bist intelligent, charmant. Natürlich kannst du das.“

Während der nächsten Stunde wiederholen wir diese zwei Sätze in hundert Variationen. Nach und nach fängt es an zu nieseln, aber ich beharre darauf, weiterhin im Park trotz des Wetters zu sitzen. Georges aber wird zunehmend ungehalten: „Sag mal. Wohnst du vielleicht in der Nähe? Mir wird es hier allmählich zu ungemütlich.“

Ich will nicht lügen und sage: „Ja. Da drüben wohne ich.“ Ich zeige auf das Haus.

„Gehen wir dann zu dir.“

Genau das will ich aber nicht. Allein in meiner Wohnung mit diesem bulligen Gauner? Denn das war er ganz bestimmt.

Aber nun die Lüge: „Ja, das können wir“, sage ich. „Aber hör zu: Wir müssen bei mir sehr leise sein. Sehr leise, verstehst du. Ich habe nämlich einen Mitbewohner, und er schläft, weil er Nachtschicht arbeitet. Wehe, wenn wir ihn wecken, dann tobt er wie ein Wilder. Das möchtest du nicht erleben.“ Natürlich hatte ich keinen Mitbewohner.

Georges steigt mit mir in den 7. Stock hinauf. Bereits an der Tür halte ich den Finger an den Lippen, schhhh, und wispere: „Bitte sehr leise sein.“ Ich schaue sogar ins Schlafzimmer, wo mein Mitbewohner schläft und mache dann die Tür wieder zu. Schhhh.

Georges le Grèc gibt sich große Mühe, leise zu sein. Wir flüstern noch etwa fünf Minuten über die reiche Amerikanerin. Doch bald wird es ihm klar, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. „Ich gehe“, sagt er. „Ich habe noch einen Termin. Sag mal: Hast du vielleicht zehn Franc für mich?“

Ich gebe ihm hastig das Geld – heute etwa fünf Euro, und er geht.
Wäre etwas passiert, wenn ich damals nicht gelogen hätte? Das weiß ich natürlich nicht. Ich fühlte mich aber in Gefahr, und wenn man in Gefahr ist, tut man das, was man muss. Nein, hier kein Kommentar über eine verlogene Welt. Ich fand jedenfalls keine Arbeit in Paris und kam deshalb bald nach München, wo ich arbeiten durfte. Nur wegen dieses Umzugs gibt es heute diese Glosse zu lesen.

Von der Nacktheit

Nacktheit. Na bitte. Was ist ja passender bei den Hundetagen? Steigende Wärme hat schon immer den Entkleidungsdrang gefördert.

Nacktheit. Das bloße Wort hat die Macht, Neugier zu erwecken. Nacktheit stößt nur selten auf Gleichgültigkeit. Vielleicht weil viele meinen: Wenn die Hüllen fallen, da lande ich bald beim noch Wesentlicheren: beim Geheimnis der Sexualität.

Ich hingegen sinniere, wenn ich an die Nacktheit denke, lieber über die Schönheit,. Zum Beispiel Sonntag. Ich war mit Freund Fritz im Englischen Garten in München unterwegs. Temperaturen um die 35 Grad. Tausende Menschen mit reduzierter Körperdrapierung im Park unterwegs. Männlein und Weiblein.

„An einem so herrlichen Sommertag kann man die Vergänglichkeit der menschlichen Schönheit wirklich genießen“, sagte ich Fritz.

Er stimmte zu.

Ja Schönheit. Jungs und Mädchen surften, sprangen in den Eisbach, ließen sich willig von den Strömen wegtragen, oder tauchten sich in der Kühle, während sich andere wie lange Eidechsen auf dem Gras hinstreckten, in Badeanzügen oder in Spinnfädenstoffen angezogen. Die Unternehmungslustigen spielten Ball, Frisbee, Gitarre, trommelten pseudo-afrikanischen Rhythmen, aßen Eis.

Nein, ich will hier keine bloße Malerei betreiben. Das hätte Adolf Menzel an diesem Sonntag ohnehin noch besser gemacht als ich. Als ich durch den Englischen Garten flanierte, fiel mir jedenfalls die Nacktheit ein, denn ich wusste, dass die Münchner, jung und alt, vor zwanzig Jahren nackt auf einer bestimmten Wiese –„Nacktwiese“ genannt, lagen und sich völlig entblößt neben dem Eisbach genüsslich aalten.

„Weißt du, Fritz“, sagte ich, „Ich wette, dass man keine Nackten mehr auf der Nacktwiese findet.“

„Könnte sein“, antwortete er.

„Und weißt du, ich wette, dass sie von allein verschwunden sind, ohne irgendein Nacktheitsverbot.“

„Die Nacktheit ist einfach nicht mehr zeitgemäß“, konstatierte Fritz.
Wir hatten beide recht. Auf der Nacktwiese hatten sich Tausende versammelt, doch alle waren bekleidet. Nein, nicht alle. Ein einzelner Nackter stand plötzlich auf. Er war vielleicht 40, ein letzter Überbleibsel einer vergangenen Zeit.

„Aber warum meinst du, dass sie weg sind?“ fragte ich.

„Ganz klar“, sagte Fritz. „Um sich öffentlich die Kleider abzulegen, braucht man eine Zeit der Unschuld. Die unsere Zeit ist nicht mehr unschuldig. Alles wird vermarktet, erst recht die Nacktheit.“

Mir fällt das Thema Nacktheit heute auch aus einem anderen Grund ein. Auf vielen Fronten kann man sich gegenwärtig nicht mehr entblößen, will man nicht riskieren, in die Schusslinie zu geraten. Das gilt auch für Blogs. Beispiel: Seit drei Tagen wird die Internetseite namens Sprachbloggeur von Spammern heftigst angegriffen. Das merken Sie als Leser freilich nicht. Es läuft aber folgendermaßen ab: Die Spammer melden sich als neue Benutzer an, um Konten einzurichten, damit sie ihre giftigen Inhalte auf dieser Seite hinterlassen können. Das heißt: Sie möchten Werbung, Viren, Phishing-Fallen usw. bei mir deponieren und hoffen auf naive Kundschaft. Ich habe während der letzten Tage bereits 300 „Benutzerkonten“ restlos gelöscht. Ein lästiges Unterfangen, das außerdem den freien Zugang zu dieser Seite behindert. Keine Webseite kann es sich heute leisten, nackt dazustehen.

Die Spammer greifen ständig an, mal mehr mal weniger, aber wie hartnäckige Wespen beim Picknick. Die meisten meiner Spammer stammen momentan aus Russland, aus der Ukraine, Polen, Indien und China. Die einfachen Handlanger haben eigentlich nichts gegen mich. Nicht einmal meine Sprache verstehen sie. Es sind elende Menschen, die froh sind, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben.

Ihre Arbeitgeber hingegen sind keineswegs unschuldig. Sie sind Gangster und möchten gerne meine und Ihre Passwörter, Bankkontonummer usw. aufdecken, entblößen. Sie möchten uns nutzlose Medikamente, billige Sonnenbrillen und gefälschte Luxusuhren verkaufen.

Meine Spammer liefern, wie gesagt, den Beweis, dass dies kein Zeitalter für die Nacktheit ist. Googeln Sie unter Stichwort „nackt“. Sie werden verstehen, warum sich die Nacktheit ins Private zurückgezogen hat. Oder versuchen Sie es mit dem englischen Wort „naked“. Da ist alles noch viel schlimmer.

Warum Deutsch nicht Englisch ist

Gestern stieß ich in Spiegel Online auf folgende Überschrift: „Warum sich Seehofer an Merkels iPad stört.“

Ein einfacher Satz, den jeder Deutsche auf Anhieb versteht. Oder?

Keine Sorge. Hier stellt Ihnen der Sprachbloggeur keine Fangfrage.

Natürlich handelt es sich um einen Satz, der für jeden Deutschen ab drei Jahren sinnvoll klingt – und ist.

Für einen Englischsprechenden hingegen, der nur, sagen wir, Basiskenntnisse der deutschen Sprache hat, löst obiger Satz entweder Bewunderung oder Panik aus. Warum?

Weil die Wortstellung so weit von der des Englischen ist wie Grönland von Island entfernt ist.

Als ich noch Anfänger war, hätte ich als studierter Altphilologe wahrscheinlich gejauchzt: „Mein Gott! Es ist wie Lateinisch!“
Kein Witz. Am Anfang meiner Karriere als Migrationshintergründler, war ich überzeugt, dass die deutsche Sprache vieles gemeinsam hatte mit der Sprache der alten Römer. Vielleicht kennen Sie das Brecht-Lied:

Denn wie man sich bettet, so liegt man.
Es deckt einen da keiner zu.
Und wenn einer tritt, dann bin ich es,
wird einer getreten, dann bist’s du.

Mich beeindruckte insbesondere den zweiten Vers: „Es deckt einen da keiner zu“. Fast wie Latein, weil das Subjekt des Satzes, also „keiner“, dem Objekt des Satzes, „einen“, nachgestellt und als solches durch eine Kasusendung erkennbar gemacht wird. Ein solcher Satz wäre in meiner Muttersprache völlig unmöglich. Das Englische verlangt nämlich – fast immer – Subjekt, Verb, Objekt: „Keiner deckt zu einen da.“ (wir lassen das irritierende „es“ beiseite), „No one covers someone there“, weil im Englischen Kasusendungen die Ausnahme sind.

Und jetzt zurück zu der Frage, warum sich Seehofer an Merkels iPad stört.
Im Englischen ein undenkbarer Satz. Es geht schon mit dem „sich stören“ los. Reflexive Verben sind im Englischen selten und werden meistens durch das Passiv ausgedrückt. Ein „sich stören“ ist also kein „irritates himself“, sondern ein „is irritated by“. Dazu stört sich der Englischsprechende an der Nebensatzkonstruktion des Deutschen, wo das Verb ans Satzende gestellt wird. Lateinisch halt.

Subjekt, Verb, Objekt ist unser englisches Zuhause. Merkels iPad wird zum Subjekt, und Seehofer, der sich stört, zum Objekt. Etwa: „Why Merkel’s iPad bothers Seehofer“.

Doch jetzt drehen wir den Spieß um: Stellen Sie sich vor, dass Sie den englischsprachigen Satz „Why Merkel’s iPad bothers Seehofer“, ins Deutsche übersetzen müssten. Wäre Ihnen „Warum sich Seehofer an Merkels iPad stört“ spontan eingefallen? Oder hätten Sie diesen englischen Satz mit „Wieso Merkels iPad Seehofer irritiert?“ übersetzt?

Ich tippe auf Letzteres, und zwar deshalb, weil sich dieser englische Satz leicht im Deutschen nachbilden lässt. Wer „Warum sich Seehofer an Merkels iPad stört“ verfasst, braucht einen freien Kopf, der seine heimische deutsche Hirnverkabelung zum Vorschein treten lässt.

Nebenbei: Ich habe „Warum sich Seehofer an Merkels iPad stört“ bei Google-Translate eingegeben. Das Ergebnis: „Why bother to Merkel Seehofer iPad“, ein Nonsenssatz. Fazit: Google-Translate ist mit der echten deutschen Hirnverkabelung überfordert. Danach ließ ich Google „Why Merkel’s iPad bothers Seehofer“ ins deutsche übersetzen und siehe da: „Warum Merkels iPad stört Seehofer?“ erschien auf dem Monitor.

Endlich haben Sie den Beweis: Deutsch ist (allem Denglisch zum Trotz) nicht Englisch.

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