Heute Englischunterricht beim Sprachbloggeur.
Ich war am Sonntag in der Pinakothek der Moderne in München und setzte mich kurz bei der Besichtigung einer Ausstellung über die Geschichte der Architektur (sehr interessant, empfehlungswert) auf eine Bank hin.
Bald nahm neben mir ein Amerikaner mit seiner deutschen Freundin Platz. Vielleicht waren sie Studenten. Sie sprachen Englisch miteinander.
Normalerweise lausche ich den Gesprächen anderer nicht. Ich bin eher Voyeur (eine Tätigkeit, die die Fantasie beflügelt) als „eavesdropper“. „To eavesdrop“ (sprich: „iews-dropp“) bedeutet „lauschen“. „Eaves“ sind „Dachvorsprünge“. Als „eavesdrop“ bezeichnete man im Mittelalter einen Auffangtrog für Regenwasser, der vor dem Hauseingang oder neben einem Fenster stand. Ein „eavesdropper“ war jemand, der an fremden Türen und Fenstern lauschte.
Mein Sitznachbar redete sehr laut und deutlich. Es war unmöglich, nicht zu eavesdroppen. Er erzählte seiner Freundin, dass er auf einer Party gewesen wäre und dass jemand ihn sehr spät in der Nacht angequatscht hätte: „And I say: ‚Like it’s four o’clock! I’m going to bed!’”
Aber so what.
Mich interessierte lediglich seinen Gebrauch des Wortes “like”. Denn ich überlegte in diesem Moment, dass man dieses „like“ ins Deutsche schwer übersetzen kann.
Fest steht aber: Die Verwendung dieses „like“ ist in der amerikanischen Sprache weit verbreitet. Man hört es vor allem bei jungen Menschen. Like man kann fast jeden amerikanischen Satz mit dieser Vokabel anfangen. Like es ist beinahe unmöglich einen Satz ohne „like“ zu beginnen, wenn man es so haben will. Like ich weiß, wovon ich rede. Like auch ich habe in meiner Jugend meine Sätze mit „like“ kräftig angepfeffert.
Ahnen Sie schon, wie dieses „like“ zu übersetzen ist?
Ich jedenfalls like kaum. Es gibt nämlich keine richtige eins-zu-eins Übersetzung. Like man, like you don’t know what you’re talking about.
Vielleicht wäre „Fakt ist“ eine Möglichkeit. Ein „Fakt ist“ scheint jedenfalls in den meisten oben geschriebenen Beispielen sinnvoll zu sein. Auch „hey“, wäre machbar. Oder „Pass mal auf“ oder „weißt du“ usw. Like dieses „like“ ist eigentlich nur ein Füller. Es übermittelt dem Hörer des Satzes sonst keine neue Information. Es scheint vielmehr ein Sprachelement zu sein, das allein dem Satzrhythmus und dem Zeitgeist dient.
Im Deutschen kenne ich Ähnliches. Zum Beispiel „Du“ in dem Satz: „Du, ich hab drüber nachgedacht.“ Dieses „Du“ lässt sich ins Englische mit „you“ oder „hey you“ kaum übertragen. Dafür könnte ich es aber mit „like“ übersetzen: „like I was thinking about it“. Ob dies für alle „Du’s“ gilt, weiß ich nicht. Du, das müsste ich mir überlegen.
Auch „schon“ taucht im Deutschen häufig als unübersetzbare Füllerpartikel auf. Zum Beispiel: „Ich denk schon, er hat recht.“ Wie soll ich dieses „schon“ ins Englische übersetzen? Eine Möglichkeit: mit „like“! Etwa: „Like I think he’s right“.
Vielleicht könnte man „like“ mit dem Füller „ja“ übersetzen. „Ich bin ja kein Idiot.“ „Like I’m not an idiot.“
Streng genommen bedeutet dieses „like“ „ähnlich wie“ und ist etymologisch mit dem deutschen „gleich“ verwandt. Außerdem mit „Leiche“. „Leiche“ sagte man dereinst nicht nur, um einen toten Körper, sondern jeden Körper zu bezeichnen. Irgendwann bekam dieses Wort die Nebenbedeutung „Vergleich“ und schließlich gebrauchte man es im Sinne von „wie“. Das Suffix „-lich“ – wie in „freundlich“, „ängstlich“ und „abenteuerlich“ – ist in Wirklichkeit nichts anders als eine abgeschwächte „Leiche“. Das englische „like“ machte die gleiche Entwicklung durch und steht heute ebenfalls als Suffix da: „-ly“ wie in „quickly“, „correctly“ usw.
Das alles nur nebenbei, um zu zeigen wie radikal die Sinnwandlung von Wörtern vonstatten gehen kann. Heute hat „like“ manchmal keine Bedeutung mehr und ist in der Umgangssprache trotzdem wichtiger denn je geworden.
Dass die Welt grausam ist, weiß ich seit meinem zwölften Lebensjahr. Ich hatte in diesem Alter eine Arbeit bei einer Apotheke als Lieferjunge, belieferte die ganze Gegend mit Medikamenten und diversen Salben. Manchmal radelte ich zu den Kunden – auch nachdem mein Fahrrad einen Plattfuß bekam. Ich wusste nämlich nicht, dass man ein Platten reparieren kann. Das zähe Strampeln machte mir aber nichts aus.
Das war freilich nicht die Grausamkeit, von der hier die Rede sein soll. Die geschah eines Tages – ganz überraschend – , als ich eine französische Familie, die ums Eck von der Apotheke wohnte, eine Bestellung vorbeibringen sollte.
Damals hatte ich in der Schule zwei Jahre Französisch mit Fleiß und Eifer – schon gelernt. Ja, die Liebe zu Sprache zeigte sich bei mir früh. Die Vorstellung, eine richtige Fremdsprache zu sprechen, fand ich aufregend. Es war zwar nur Schulfranzösisch, und ich konnte auch die einfachsten Dinge, etwa: „Dein Hosentürl ist offen“ oder „Das Omelett schmeckt wie aufgewärmte Kotze“ usw., noch nicht sagen; aber immerhin.
Sprache bedeutet immer, neue Welten öffnen und erforschen. Dazu braucht man aber Zeit.
Ich liebte diese Fremdsprache aber, nicht nur weil sie die Sprache von Maurice Chevalier (kennt man ihn noch?) und Charles de Gaulle war, sondern die Sprache von „Parie“, von der Liebe, von der Hochkultur und von den Helden der Résistance.
Ich stand vor der Tür und klingelte. Ich vernahm eine Stimme hinter der Tür, die „Yes?“ oder „Oui?“ murmelte. Das weiß ich nicht mehr. Ich antwortete mit dem Namen der Apotheke und hörte, wie Menschen miteinander parlierten. Nun hatte ich die Idee, dass auch ich in dieser Situation Französisch reden könnte, d.h., ein wahrhaftiges Gespräch in der Fremdsprache führen. Die Tür ging auf. Eine unfreundlich dreinschauende Frau stand da.
Bonjour, Madame!“, posaunte ich stolz. „Ici votres médicaments. Vous payez trois dollars et trente-cinq cents.“ So ungefähr dürfte ich es gesagt haben. Immerhin: Es war mein allererster Versuch, mich in einer Fremdsprache zu verständigen.
Zu einem Gespräch kam es aber nicht. Der unfreundliche Mensch, der mir gegenüberstand, antwortete etwas, und zwar äußerst knapp auf akzentuiertes Englisch und bezahlte – ohne mir ein Trinkgeld zu geben. Kein „merci bien“, nicht einmal ein „thank you“. Die Madame nahm die Tüte aus meiner Hand und ließ die Tür einfach wieder zufallen. Es war zwar kein Zuknallen, aber so kam es meinem unschuldigen Herzen dennoch vor. Die Enttäuschung stand mir im Gesicht.
Mir fiel dieses lang verschüttete Ereignis wieder ein, als wir, meine Frau und ich, neulich in Paris waren. Mittlerweile kann ich übrigens problemlos auf Französisch sagen, dass ein Omelett wie aufgewärmte Kotze schmeckt (ça a un goût de dégueulis réchauffée) oder „dein Hosentürl ist offen“ (ton fermeture est ouvert).
Wir waren in der Pinacothèque de Paris, um eine Hiroshige-Ausstellung zu besuchen. Ich fragte eine Museumsmitarbeiterin – auf Französisch – , wie es weiter geht. Die Ausstellungsräume waren nämlich labyrinthartig und auf verschiedenen Ebenen eingeteilt. Die junge Dame antwortete auf Englisch: „Ju aw tu go hupp.“ Das heißt: You have to go up. Sie sprach halt mit Akzent. Es hat mich aber irritiert, dass sie Englisch geantwortet hatte. Ja. Die alte Wunde ging wieder auf.
War es eine Wiederholung meines Jugendtraumas? Das habe ich zunächst gemeint. Doch dann überlegte ich, ob ich die Situation vielleicht verkehrt herum interpretieren sollte. Das heißt: Hätte ich ihr, zum Beispiel, eine Freude machen können, wenn ich Englisch geantwortet hätte?
Was tat ich aber?
Ich sagte: „Merci“, und ging kaltschnäuzig weiter.
In dem Augenblick war mir klar, dass ich eine Glosse mit dem Titel „Sprache und Macht“ schreiben musste, um jene Grauzone zu erforschen, die entsteht, wenn zwei Menschen, die verschiedene Muttersprache haben, aufeinander stoßen und man sich für eine gemeinsame Sprache entscheiden muss.
So einfach ist so eine solche Situation nämlich nicht. Es kommt viel öfters als man denkt zu einem Duellieren mit Worten. Man will sich verständigen, findet aber keine Sprache. Komisch, nicht wahr?
O Graus! Schon wieder diese Zeit der Kunststoffgeister. Schon wieder muss ich mich aufregen. Schon wieder feiert man Halloween in Deutschland.
Vor ein paar Tagen war ich in Paris. Auch dort wird es „Soirées Halloween“ geben. Brumm.
Nein! Ich schweige nicht länger. Geben Sie mir meine Feier zurück! Ich will sie nicht so leichtsinnig aus der Hand geben.
Ich weiß. Ich ärgere mich vergebens. Erst gestern las ich in der Zeitung, dass Halloween in Deutschland zu einer Großindustrie geworden ist – nimmt Platz drei der Feiertage hinter Weihnachten und Ostern ein.
Feiertag? Wer wirklich feiert, das sind die Marketinggenies, die es verstanden haben, einen Anlass zu erfinden, Süßigkeiten, Gruseldeko und Polyesterkostüme schmackhaft zu machen. (Mehr darüber unten).
Drehen wir den Spieß kurz mal um: Oktoberfest in den USA. Das kennen Sie schon, oder? Und Sie schmunzeln gern darüber, oder? In den USA werden hunderte „Oktoberfeste“ – im Oktober – gefeiert. Ursprünglich wohl die Erfindung nostalgischer Auswanderer aus Bayern. Heute ist es ein „deutsches“ Fest unter Amerikanern geworden.
Als ich eines Tages in San Francisco mit meiner damaligen deutschen Lebensabschnittspartnerin die Market Street herunter flanierte, hielten wir vor einem Friseurladen an und lasen im Schaufenster einen Anhang: „Jubel, Trubel Heiterkeit! Oktoberfest San Francisco!“ hieß es.
Meine deutsche Lebensabschnittspartnerin lachte laut. „Ach, ihr Amerikaner“, sagte sie. „Der Spruch ist hier völlig falsch. Man spricht nur während Fasching von ‚Jubel, Trubel, Heiterkeit‘. Total irre.“
„Bedeutet ‚Trubel‘ etwas wie ‚trouble‘?“ fragte ich, stets der Sprachinteressierte.
„Nein, es heißt nur, dass viel los ist. ihr Amerikaner. Ihr seid Naivlinge.“
Was soll ich denn über Halloween in Deutschland meinen?
Nebenbei: Als ich 1975 in München ankam, war diese Feier so gut wie unbekannt – außer in den amerikanischen Kasernen, was aber verständlich ist.
Fakt ist: Das deutsche Halloween ist eine Erfindung der 1990er Jahre. Hier ein Zitat aus dem „Stern“ vom 31. Oktober 2011:
„Die ‚Fachgruppe Karneval im Deutschen Verband der Spielwarenindustrie (DVSI)‘ erhebt für sich den Anspruch, Halloween im Alleingang nach Deutschland gebracht zu haben. Die Fachgruppe entstand, nachdem 1991 wegen des Golfkriegs der Karneval abgesagt wurde, was den Kostümherstellern brutale Einbußen bescherte.“
Macht das nicht nachdenklich? Ja, und wer feiert in Deutschland Halloween? Es sind meistens junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 30, die bereit sind, Geld für teure Kunststoffkürbislampionen und sonstiges Gruselzubehör auszugeben und gerne einen Anlass zum Feiern suchen.
In Amerika handelt es sich hingegen um ein Fest für Kinder. Diese bekleiden sich und marschieren Tür zu Tür (heutzutage unter Aufsicht der Eltern), um Süßigkeiten zu erbetteln. „Trick or treat!“, rufen die schrillen Kinderstimmen aus. „Süßes oder Saures“ heißt das auf Neudeutsch. Mit 13 oder 14 hört der Spaß auf. Die Teenies machen untereinander Feste vielleicht.
Hallowe’en ist ein Erntefest. Notabene: Man setzt einen Apostroph zwischen die „E“s. „Hallowe’en“ ist nämlich ein Wort aus dem Englischen eines früheren Jahrhunderts und steht für „hallow“, also „heilig“ „e’en“, oder „even“, also „Abend“. Es ist der heilige Abend vor „All Hallows“, also „Allerheilige“.
Erwachsene Amerikaner– vor allem auf dem Land und in den Kleinstädten –feiern auch aber anders als die Kinder. Sie basteln Menschenfiguren aus einer mit Blättern gefüllten Hose und einem mit Blättern gefüllten Hemd. Obendrauf kommt ein ausgestopfter Sack als Kopf und da drauf ein Strohhut. Diese Figuren setzt man auf einen Stuhl auf der Veranda. Weiß der Himmel, wie alt dieser Brauch ist. Oft werden Maiskolben, Kürbisse und sonstige Herbsterzeugnisse auf die Veranda oder ins Fenster gestellt. Wie gesagt: ein Erntefest.
Vielleicht geht Hallowe’en auf eine alte keltische Feier zurück. Das ist aber eine sehr komplizierte Frage, und ich werde hier nicht drauf eingehen.
Ich will nur darauf hinweisen, dass es meine Feier und nicht Ihre ist.
Außerdem wird Hallowe‘en NUR am 31. Oktober gefeiert. Niemals davor und niemals danach.
Meine bescheidene Bitte an alle vernünftige Deutsche, Franzosen usw.: Schaffen Sie Halloween ab. Bitte.
Auch ich bin nur Gefangener des Zeitgeistes. Klar, dass ich immer wieder über Themen schreibe, die in der Luft liegen wie zum Beispiel Felix Baumgartner, der vor kurzem aus einer Höhe von 39.000 Metern aus einer Art Raumkapsel ins Leere gesprungen ist, wohl um diverse Weltrekorde zu brechen, damit er in die Geschichte oder in das Guiness Book of Records eingehe.
Doch weil ich mich nur begrenzt für solche Waghalsigkeiten interessiere, ist für mich ein Thema wie Baumgartner wenig ergiebig und schnell erledigt. Ich hoffe nur, dass ihm keiner so schnell nacheifert. Wem ein solcher Sprung nicht gelingt (auch wenn der Sponsor für alle Kosten aufkommt), sieht hinterher aus, wie eine reife Wassermelone, die vom Lieferwagen auf die Landstraße geklatscht ist.
Nein, keine kühnen Sprünge. Ich schreibe heute lieber über das Plagiat, ohnehin schon lange ein aktuelles Thema – zumindest in Deutschland. Und die Entlarvung von Doktorarbeit-PlagiatorInnen (notabene: hier eine politisch korrekte Form) scheint für manche mittlerweile zu einem neuen Beruf(ung) zu werden.
Ich wäre selbst mal gern ein Herr Doktor geworden, habe allerdings nie eine Doktorarbeit geschrieben. Einmal vor dreißig Jahren sagte mir ein Bankier (heute „Bankmitarbeiter“ bzw. „Bankberater“): „Grüß Gott, Herr Doktor.“ Ich habe ihn schleunigst korrigiert, weil ich schon damals lang genug in Deutschland gewesen war, um zu wissen, dass die Erschleichung eines Doktortitels strafbar ist.
Dr. Blumenthal klang aber nett, Fachrichtung egal. Damals konnte man nämlich in München Wohnungen leichter bekommen, wenn man sich mit Doktortitel vorstellte. Der Grund: Vermieter hatten gerne Namen mit „Dr.“ auf dem Klingelbrett. Es machte irgendwie Eindruck.
Momentan ein undankbarer Titel wegen der Jagd auf die Doktoren, vor allem, wenn sie Politiker sind. Und jeder Bürger kann helfen, die Erschlichenen zu entlarven, indem er plagiierte Stellen in drögen Doktorarbeiten aufdeckt. Das Internet demokratisiert.
Umso mehr wollte ich als sprachinteressierter Mensch, das Wort „Plagiat“/“Plagiator(in)“ ein wenig erläutern. Denn ich wusste selbst nur wenig darüber.
„Plaga“ auf Lateinisch bedeutet „Hieb“, „Streich“ und im übertragenen Sinn „Plage“ und „Seuche“. Der „plagiarius“ war Ausführender einer „plaga“ ein „Schlägertyp“ also – einer, z.B., der von der Mafia losgeschickt wurde, um Schutzgelder von säumigen Schuldnern zu kassieren. Es liegt auf der Hand, dass dieses Wort zusätzlich die Bedeutung „Folterknecht“ bekam. Was hat das mit demjenigen zu tun, der geistiges Eigentum entwendet? Noch gar nichts. Erst um die Zeit von Augustus Cäsar bekam dieses Wort die Bedeutung „Plünderer“, „Räuber“ und somit kommen wir der Sache etwas näher.
Auch ein „Menschenentführer“ war für den Römer ein „plagarius“. Warum, weiß ich nicht. Außerdem sagten manche anstatt „plagarius“ „plagiator“. Beide Wörter hatten irgendwie denselben Sinn. Nur: „Plagiator“ benutzte man auch, um einen Verführer von Jugendlichen zu schildern. Immer noch kein „Entführer“ von geistigem Eigentum.
Dass dieses Wort seine heutige Bedeutung bekam, haben wir einem einzigen Menschen zu danken: dem römischen Dichter, M. Valerius Martialis, Martial auf Deutsch. Er lebte von 40 n.Chr. bis etwa 102, und verbrachte viele Jahre in der Innenstadt Roms, wo er eine kleine Wohnung in einem mehrstöckigen Wohnhaus hatte. Aus den Fenstern seiner Wohnung (die er nur mit Fensterläden zumachen konnte) schaute er auf eine belebte Straße. Es gab Lärm, Schmutz, Gestank und viel Betrieb da unten. Die Großstadt war seine Welt, und sie war auch der Inhalt seiner Werke. Er saß an seinem Schreibtisch, zündete eine Öllampe an und erfasste seine Welt in lebendiger Lyrik, mal satirisch, mal rührend, mal bissig. Jeder kannte ihn.
In einem Gedicht (1,52 seiner „Epigramme“) beklagte er sich bei einem gewissen Quintianus, einem wohlhabenden Patrizier, der einen eigenen Hausdichter anstellte. Dieser Hausdichter pflegte aber Gedichte von Martial zu rezitieren als wären es die eigenen. Das brachte Martial verständlicherweise auf die Palme. In einem Gedicht an Quintianus beschreibt er dessen Hausangestellten als „plagiarius“. Vielleicht meinte er damit nur, dass der andere ein „Plünderer“ oder „Entführer“ sei. Egal. Das Wort prägte. Dank Martial heißen alle, die das Werk anderer für das eigene Werk ausgeben ohne Hinweis auf den Urheber, „Plagiatoren“ – auf Englisch „plagiarizers“.
Nebenbei: Wer die Werke der Antike liest, erfährt auch von einem Menschen, der wie der oben erwähnte Felix Baumgartner aus einer großen Höhe herunterstürzte: Ikarus. Letzterer hatte leider keinen Fallschirm, nur Flügel. Diese waren leider aus Wachs und schmolzen im Sonnenlicht dahin.
In eigener Sache: Bin nächste Woche ausnahmsweise verreist. Berichte erst in zwei Wochen wieder aus der Welt.
Ist etwas „tierisch gut“, so freut sich PETA, d.h., die „People for the Ethical Treatment of Animals“ – so der Name der bekannten Tierschutzorganisation. PETA mag es, wenn die Tiere in ein positives Licht gerückt werden.
Ist etwas „tierisch schlecht“, so freut sich PETA eben nicht. Dann wird „tierisch“ nämlich zu einem Begriff, der eine Diskriminierung ausdrückt. „Der Mensch ist kein Tier“, sagte Brecht. Sowas hört PETA gar nicht gern.
Entschuldigen Sie, wenn ich an dieser Stelle meinen Gedanken so mit lauter Stimme nachgehe. Dieses Gedankenspiel fand allerdings schon letzte Woche statt, während ich Nachrichten glotzte. Eine Frau – ich vergesse den Zusammenhang – stand vor der Kamera und gebrauchte das Idiom „tierisch gut“. Ich hatte diese Redewendung seit langem nicht mehr gehört. Gleich fiel mir PETA ein und obige skurrile Wörterspielerei. So funktioniert mein Kopf oft – er ist einfach tierisch assoziativ.
Inzwischen habe ich in meinen Nachschlagwerken festgestellt, dass „tierisch“ in der Bedeutung von „sehr“, „äußerst“, „ungemein“ ein relativ neuer Ankömmling in der Umgangssprache ist. Die eine Quelle, Herr Küppers Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, gibt als Entstehungsdatum das Jahr 1970 an. Mein sechsbändiger Duden aus den 1970er Jahren markiert das Wort in diesem Sinn als „Jugendsprache“.
Die Dame in den Nachrichten, für die etwas „tierisch gut“ war, hatte sich diesen Sprachpartikel, könnte man annehmen, als Mädchen in den 70er Jahren angeeignet. Ich damals als Sprachfrischling in Deutschland habe es ebenfalls gehört. Ich konnte freilich nicht wissen, dass es sich um eine neue Zutat in einer brodelnden Sprachsuppe handelte. Ihn letzte Woche wiederzuentdecken war für mich wie das Wiedersehen mit einem alten Freund, den ich mit den Jahren aus den Augen verloren hatte.
Mir fällt dieses Wörtchen nach einer tierisch anstrengenden Woche ein. Wer mein Beitrag der vorigen Woche gelesen hat, weiß, dass ich ziemlich durch den Wind war. Meine Spammer hatten das Fass endlich zum überlaufen gebracht. Ich begann über die „Unsprache“ tierisch zu schwadronieren. Täglich war ich damit beschäftigt, falsche Benutzerkonten zu löschen, aber es kamen immer neue dazu. Es war, als ob ich in einem löchrigen Schlauchboot säße und ständig am Ausschöpfen war. Ich war mit der Geduld am Ende. Schließlich wandte ich mich an meinen Serveranbieter und bat um Hilfe.
Eine gute Entscheidung, und er ergriff wirksame, wenn auch drastische Mittel. Ganz einfach: Er kappte die Leser-Option „Registrieren“. Das heißt: Kein Leser kann seitdem ein beim Sprachbloggeur neues Benutzerkonto eröffnen. Darüber hinaus installierte er ein Cyber-Werkzeug namens „Captcha“. Für Menschen kein Problem. Man muss halt eine einfache Frage beantworten, um zu beweisen, dass man Mensch ist. Nur Botnet-Automaten tun sich mit „Captcha“ schwer.
Wie gesagt: drastische Mittel. Wer ein Benutzerkonto eröffnen möchte, muss künftig mir eine Mail schicken und wird dann von mir höchstpersönlich als Benutzer eingetragen. Handwerk also. Diese Maßnahmen haben bereits Wirkung gezeigt. Heute habe ich erfahren, dass ich, seitdem ich für Ordnung gesorgt habe, 7669 Botnet-„Benutzer“ ferngehalten habe – täglich sind es etwa 1300. Das tut gut. Ein Gefühl, als ob ich den Kammerjäger geholt hätte, so dass das Ungeziefer endlich weg ist.
„Ungeziefer“? Das klingt beinahe wie „Tiere“. Falls sich ein PETA-Mitglied unter meinen Lesern befindet, möchte ich klar betonen, dass meine Spammer keine richtigen Tiere waren. Es waren elektronische Impulse, die die Aufgabe hatten, Kommunikation zu zerstören. Im Übrigen: Diese Impulse wurden von Menschentiere auf den Weg gebracht.
Doch nicht nur „Tiere“ und „tierisch intensive“ Erlebnisse beschäftigen mich heute. Meine drastische Lösung fürs Botnet-Problem war zugleich eine Art Aha-Erlebnis. Denn jetzt verstehe ich, wie es dazu kam, dass es Gesetze gibt. Auch ich habe für Gesetz und Ordnung gesorgt, weil Wilderer meine Ordnung zu zerstören drohten. Gesetz bedeutet aber Freiheiten einschränken. Das habe ich getan. Ich bin überzeugt, dass jede Gesetzgebung auf ähnlichen Beweggründen beruht. Fazit: Wegen der Ungebührlichkeit der Wenigen, müssen die Vielen auf Freiraum verzichten.
Habe ich schon wieder die Geschichte der Welt erzählt? Nun muss man sich fragen, was die Idioten davon haben, dass sie anderen die Freiheit vermiesen.
Nicht zum ersten Mal schreibe ich über meine Spammer. Eine Zeitlang habe ich sie sogar richtig lieb gewonnen. Früher meinte ich, wenn von meinen Spammern die Rede war, ohnehin nur jene strebsamen Billigarbeiter in Indien, China, Bangladesch usw., die auf meine Kosten auf ihre Kosten zu kommen versuchten. Sie leisteten sorgfältige Handarbeit, um an diese Adresse Werbung für Potenzmittel, Wochenendhäuser in Polen, nutzlose Medikamente, Penisvergrößer usw. zu schicken.
Das war eine schöne Zeit. Man hatte zumindest mit Menschen zu tun.
Inzwischen wurde die Branche automatisiert. Die netten Arbeitssklaven von damals wurden schroff vor die Tür gesetzt und mit leistungsstarken Datenrobotern, „Bots“ genannt, ausgetauscht. „Bots“ muss man nicht bezahlen. Sie verlangen lediglich Strom, um unermüdlich tätig zu bleiben.
Das Resultat: Seitdem die Datenroboter am Werk sind, finde ich täglich etwa 750 neue „Benutzer“ auf dieser Seite vor. Das heißt: Die „Bots“ richten beim Sprachbloggeur (oft in Minutentakt) „Benutzerkonten“ ein. (Sie wissen nichts davon. Nur ich sehe sie). Minute für Minute tauchen neue Namen auf meine Benutzerliste auf. Diese „Benutzer“ heißen „MDJQHMrYRA“ oder „dispusaTusSaG“ oder“ lqoCXcKAca“ oder „KisgiHFkQF“ und geben Email-Adressen von gmail oder aol.com an. Alles geschieht automatisch.
Bisweilen schreiben sie sogar Kommentare. (Auch diese sehen Sie nicht, weil ich sie lösche, bevor es dazu kommt). Diese Kommentare bestehen üblicherweise aus Nonsensbuchstabenreihen, etwa: Eti4e08934.ev43i3afelfd-dijroqjafje:http://eisirfeu3+2-dfjweiru-vef oder so.
Anfänglich ging ich mit diesen „Benutzern“ behutsam um. Ich dachte: Vielleicht gibt es unter ihnen auch echte Benutzer. Ich wollte keine richtigen Konten versehentlich löschen.
Es waren aber keine echten Benutzer, sondern nur Cyberheuschrecken. Als die Angriffe die Oberhand zu nehmen drohten, begann ich die neuen Konten reihenweise zu löschen, ohne viel zu überlegen. Echte Benutzer von den falschen zu unterscheiden, hätte zu viel Zeit gekostet. Das heißt: Falls Sie mal vergebens versucht haben, hier ein Benutzerkonto zu öffnen, wissen Sie nun, warum es nicht geklappt hat.
Trotzdem nahmen die Angriffe weiterhin zu. Inzwischen lese ich die Benutzernamen nicht mehr durch. Stattdessen konzentriere ich mich auf die „IP-Adressen“, sprich „Internetprotokoll-Adressen“. So heißen die Server, die als Postamt für die Versendung von neuen „Benutzern“ dienen. Diese IP-Adressen sehen folgendermaßen aus: 37.122.349.34 oder 176.453.945.345 usw. Im Internet findet man endlose Listen, die verraten, welche von diesen IP-Adressen in Wirklichkeit nur „Botnet“-Adressen sind. Als Betreiber dieser Seite kann ich, wenn ich will, IP-Adressen sperren oder löschen. Genau das tue ich – mehrmals täglich sogar. Doch dies hilft leider nur kurz. Bald werden neue Botnet-Adressen generiert, und dann geht das Spiel wieder von vorne los. Nebenbei: Meine Plagegeister stammen hauptsächlich aus Russland und aus der Ukraine. So viel weiß ich. Auch China und die Seychellen sitzen in der ersten Reihe. Gestern sperrte ich eine IP-Adresse aus Schweden, weil sie vom Botnet gekapert wurde. Mit IP-Adressen aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Österreich muss ich vorsichtig sein. Manche tragen sowohl Spambotschaften wie auch die der normalen Surfer.
Die tägliche Aufräumarbeit kostet mir mittlerweile ca. 30 Minuten Zeit.
Die Situation ist so widersinnig geworden, dass ich mich mittlerweile frage, was die Botnets eigentlich bezwecken. Sie wollen scheinbar weder Potenzmittel noch Datschas verkaufen wie früher. Man kann nicht wissen, was sie wollen, weil ihre Botschaften nur noch aus Buchstabensalat bestehen.
Ich bin sicher, dass ich nicht der einzige Webseitenbetreiber bin, der täglich gegen diese Cyberhysterie zu kämpfen hat. Kaum vorstellbar, wie viel kostbare Zeit mit dem Scheiß verloren geht.
Umso mehr frage ich mich: Wozu das Chaos, das allmählich zu einer Unsprache geworden ist? Kommunikation spielt hier keine Rolle mehr – nur Zerstörungswut zählt. Die Betreiber der Botnets haben jegliche Verhältnismäßigkeit verloren.
Ja, liebe Leser, hier ein Bericht von der Front aus der Pionierzeit der weltweiten Vernetzung.
Aber nicht verzagen. Ich gehe davon aus, dass diese Plage eines Tages so rapide verschwindet wie sie einst erschienen ist. So ist es halt mit den Plagen. Eines Tages steht man auf, die Sonne scheint, und die Plagegeister sind weg. Das ist das Schöne an der Dummheit. Es sind nur die Dummen, die das nicht verstehen.
Beinahe hätte ich für diese Glosse eine lange Geschichte über einen jungen Mann namens Mohammed, wohnhaft im Münchener Westend, erzählt. Er will sich auf der Leopoldstraße von einem Zeichner porträtieren lassen. In meiner sehr langen Geschichte, inzwischen gelöscht, weigert sich der Zeichner den jungen Mann zu zeichnen. Warum? Weil er Mohammed heißt!
Es sollte nur ein Witz sein und außerdem die momentane Atmosphäre des Misstrauens bezeugen. Mir wurde die Geschichte ohnehin etwas zu kopflästig.
Heute stattdessen eine frohe Botschaft: Alles vergeht! Ja, das meine ich ernst und könnte damit diese Glosse augenblicklich beenden. Denn das Wichtigste habe ich schon gesagt: Alles vergeht.
Ich schreibe aber weiter, weil ich Ihnen eine ganz andere, unpolitische Geschichte erzählen möchte. Etwas, auf die ich neulich in der „Weltwoche“ aufmerksam wurde. Vielleicht kennen sie den Künstler Damian Hirst. Er gilt seit langem als Bad Boy der Kunstszene. Womöglich haben Sie Fotos seines mit Juwelen bedeckten Totenkopfs gesehen. Der Titel dieses Werkes: „For the Love of God“ (etwa: „Gott zuliebe“ oder „um Gottes willen“). Es handelt sich um den Platinabguss eines Menschenschädels, der mit 8601 Diamanten besetzt wird. Auf der Stirn strahlt – gewissermaßen als Krönung der Sache – ein 52-Karat-Diamant in die Welt. Der tüchtige Künstler hat dieses symbolträchtige Werk für fünfzig Millionen englische Pfund an den Mann gebracht. Ich hätte es nicht gekauft. Meine Hausratsversicherung hätte sich geweigert, einen eventuellen Verlust bzw. Diebstahl hundertprozentig zu decken. Außerdem finde ich das Werk, wenn ich ehrlich bin, zu knallig und glitzrig. Nicht mein Geschmack.
Hirst hat aber 1991 ein anderes sehr bekanntes Werk angefertigt, der den Titel: “The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living” (etwa: „die physische Unmöglichkeit des Todes im Vorstellungsvermögen eines Lebenden“) trägt. Es handelt sich um eine wuchtige Installation, genauer gesagt, um einen präparierten Tigerhai mit dramatisch aufgerissenem Maul, der in einem mit Formaldehyd gefüllten Tank rumdümpelt. Auch nicht, ehrlich gesagt, mein Geschmack. Außerdem hätten wir in der Wohnung nicht den nötigen Platz für so etwas Gigantisches. Einen Liebhaber fand der Künstler für dieses Werk dennoch. Und dieser war bereit, ca. neun Millionen Euro. dafür zu blechen. Immerhin: Einbrecher würden sich sicherlich hüten, so ein Ding mitgehen zu lassen.
Und dann ging’s los: 2006 begann der Tigerhai – seines Formaldehydbads zum Trotz – zu verwesen, ja sich regelrecht zu zersetzen. Der betuchte Sammler war verständlicherweise entsetzt. Seine Wertanlage drohte zu einer giftigen Fischfetzensuppe zu werden, zum Totalverlust also.
Glücklicherweise zeigte der Künstler in der Sache kulant und schenkte dem Sammler prompt einen nagelneuen Haifisch (und wohl frischen Formaldehyd) für den Tank.
Happy End? Ich persönlich bin mir nicht so sicher. Ich frage mich, ob der Sammler – unter diesen Umständen – diese Installation jemals gewinnbringend weiter wird verkaufen können. Schließlich muss man davon ausgehen, dass eines Tages auch der neue Fisch zu stinken anfängt. Zugegeben: Künstler Hirst – Jahrgang 1965 – ist noch relativ jung und könnte kulanterweise den Haifisch mindestens noch zwei- oder gar dreimal austauschen. Doch eines Tages wird auch die physische Unmöglichkeit des Todes im Vorstellungsvermögen eines Lebenden den Künstler selbst heimsuchen. Was dann?
Diese Moritat soll nur eines beweisen: Alles vergeht! Was übrigens auch für die lustigen Videos gilt, die Sie vielleicht vor zwanzig Jahren von den Kindern oder vom Urlaub gedreht haben. Und nicht zu vergessen: Auch die tausende Digi-Fotos auf Ihrer Festplatte haben ein Verfallsdatum.
Und deshalb diese frohe Botschaft heute auch für einen jungen Mann namens Mohammed – falls es ihn gibt – , der sich gern von einem Straßenzeichner porträtieren lassen möchte. Ja, lieber Mo, du bekommst mal dein Bild.
ich habe lang überlegt. Soll ich, oder soll ich nicht.
Ja, es geht ums Brimborium ums Filmchen „Innocence of the Muslims“. Haben Sie es gesehen? Ich schon. Diesen dilettantischen Rundumschlag als Film zu bezeichnen wäre vielleicht übertrieben. Er existiert ohnehin nur als „preview“, Vorschau. Bisher kennt niemand die ganze alberne Schulhofprovokation. Existiert sie überhaupt? Auf jeden Fall: Schlecht gespielt, hölzerner Dialog, billig, dumm.
Ich gehe davon aus, dass ich hier wahrscheinlich nichts Neues über diese immer surrealer werdende Situation (heute bei Google 259 millionen Treffer für „Innocence of the Muslims“) hinzuzufügen habe. Alles wurde schon gesagt – mehrmals.
Ich habe keine Antworte, dafür aber Fragen.
Zum Beispiel: Das kurze Video fristete bei YouTube Monate lang ein einsames Dasein, kaum beachtet. Warum wurde es ausgerechnet erst wenige Tage vom dem 11. Jahrestag des „nine-eleven“ entmottet und ins Arabische übersetzt?
Und: Wer hat es übersetzt – bzw. hat veranlasst, dass es in arabischer Übersetzung dreckgeschleudert durch die Welt wird?
Wer profitiert davon, dass mittlerweile Hunderte von Menschen als Resultat dieses Blödsinns tot sind – die meisten selbst Muslime?
Rückblick: „Mohammed-Karikaturen“. Auch damals mussten viele Menschen aus nichtigen Gründen sterben. Wer kann sich aber noch heute erinnern, dass der Skandal erst dann aufflammte, nachdem zwei dänische Imame, Ahmad Abu Laban und Ahmed Akkari in Richtung Ägypten und Libanon (s. Wikipedia) mit besagten Zeichnungen aufbrachen? Dort angekommen, zeigten sie allerdings nicht nur die zwölf Karikaturen aus dem „Jyllands-Posten“, sondern auch drei zusätzlichen Bilder, die als besonders geschmacklos galten. Erst nachdem die 15 Zeichnungen rumgereicht wurden, ging es los. Nur: Wer hat die drei besonders fiesen Bilder, die nicht im „Jyllands-Posten“ erschienen waren, gezeichnet? Und warum? Diese Fragen wurden, soweit ich weiß, nie befriedigend beantwortet.
Nebenbei: Iran reagierte auf die „Mohammed-Karikaturen“ damals mit einem Bilder-Wettbewerb: Die geschmacklosesten Holocaust-Zeichnungen sollten prämiert werden. Warum ausgerechnet Holocaust-Zeichnungen?
Letzte Woche hatte ich ein sehr offenes und freundliches Gespräch mit zwei Persern aus meinem Bekanntenkreis. „Eins verstehe ich nicht“, sagte einer. „Warum hat die US-Regierung die Veröffentlichung dieses Films nicht gleich verboten?“
„Weil es in Amerika wegen der Redefreiheit keine Vorzensur gibt. In Amerika darf man Hitler öffentlich preisen oder im Radio gegen jede Religion hetzen. Glauben Sie mir aber: Keiner außer vielleicht den üblichen Schwachköpfen hört zu. Aber auch ich habe eine Frage: Warum muss sich eine so große Religionsgemeinschaft wie die islamische jedesmal aus den Fugen geraten, wenn ein paar Idioten mit einer unbeholfenen, albernen Provokation hervortreten? Wäre es nicht würdiger, solche Irritationen einfach zu ignorieren?“
Gestern las ich, dass „Newsweek“ mit einer Titelgeschichte „Muslim Rage“ (muslimische Wut) für Furore sorgte. (Keine Ahnung, warum übrigens). Aber noch wichtiger: Ich habe erfahren, dass „muslim rage“ in den USA zu einem stehenden Begriff wird. Einerseits von jungen Muslimen gebraucht, die eigene „Muslim Rage Comics“ produzieren, um die eigene Frust von der Seele zu schreiben ( eine gute Idee, finde ich. Damit kann man die eigene Situation durch Kunst und Ironie überwinden); andererseits, wenn ich es richtig verstanden habe, von nichtmuslimischen Amerikanern, die „muslim rage“ als Redewendung etwa in der Bedeutung von „Stinkwut“ benutzen. Beispiel: „Ich kriege eine „muslim rage“, wenn mein Wagen nicht anspringt.
Aber wozu diese Rage? Meine Theorie: Die Zahl der Jugendichen ist in vielen muslimischen Ländern sehr hoch, die Bildungschancen hingegen sehr niedrig (geschweige denn die Bildungschancen der Mädchen). Diktaturen fürchten sich stets vor einer gebildeten Jugend (siehe den heutigen Iran).
Entrüstung gegen „gottlose“ westliche Ländern zu schüren, ist ein altbewährtes Mittel, um die Jugend bei Laune zu halten – auch wenn dabei einige zu Tode kommen.
Ich erzähle nichts Neues. Außerdem kennen auch wir im Abendland eine eigene „muslim rage“ bzw. „Christenfurore“, wenn freilich aus früheren Zeiten, als Häretiker, Brunnen vergiftende Juden und diverse Freidenker instrumentalisiert wurden, um von wahren meist wirtschaftlichen Problemen abzulenken.
Sie erinnern sich vielleicht vor ein paar Monaten ans umstrittene Papstbild am Cover der Satire-Zeitschrift „Titanic“. Früher hätte man die unartigen Eulenspiegel dieser streichsüchtigen Redaktion geköpft, gerädert oder gevierteilt wegen dieses pietätslosen Verstoßes gegen Gottes Stellvertreter auf Erden. Im heutigen Deutschland zuckt man stattdessen etwas müde mit den Achseln. Nach einer Woche ist die alberne Provokation ohnehin vergessen. Hätte der Papst die Sache zur Staatsaffäre aufgeblasen, dann wäre erst recht die Hölle los.
Ende der Predigt.
Kennen Sie das neue Buch vom tschechischen Ökonomen Tomáš Sedláček: „Die Ökonomie von Gut und Böse“? Hier keine Schleichwerbung, obwohl der Mann nicht auf den Mund gefallen ist. Ich habe das Buch ohnehin nie gelesen, lediglich ein Interview mit dem Autor. Meine Überlegungen sind vielmehr sprachlicher Natur. Es geht um den Titel.
„Wieso heißt das Buch ‚Die Ökonomie von Gut und Böse‘“, fragte ich, „und nicht ‚Die Ökonomie von Gutem und Bösem‘ oder ‚Die Ökonomie vom Guten und Bösen‘“?
„Weil“, erwiderte meine Frau, geduldig wie immer, „ ‚Gut und Böse‘ ein stehender Begriff ist. Es klingt einfach besser.“
„Ich wusste, dass du so antworten würdest. Dennoch bin ich überzeugt: Würde ich ein Buch mit diesem Titel schreiben, hätte ihn mir ein fleißiger Lektor aus grammatikalischen Erwägungen gestrichen. Nur Muttersprachler dürfen sich Freiheiten mit der Sprache erlauben.“
„Der Autor ist aber kein Deutscher. Er ist Tscheche.“
„Dann hat sich einer im Verlag den Titel ausgedacht.“
„Kann ich nicht sagen.“
Nein, hier kein Anfall der Larmoyanz. Trotzdem werde ich nie vergessen, was mir ein Textchef, als wir über Formulierungen feilschten, einst einschärfte: „Schließlich ist es unsere Sprache, Herr Blumenthal.“
Inzwischen bin ich überzeugt, dass zwei Richtsätze gelten: einer für die Muttersprachler: einer für die Schwiegermuttersprachler. Ein ganz anderes Beispiel: Wenn ich mir gönne, ein keckes „drauf“, ein lockeres „stehn“, ein umgängliches „rum“ (anstelle von „herum“) in einem Text zu schreiben, werden mir solche stilistische Freiheiten meistens gestrichen.
Freundin H., einer großartige Schriftstellerin, zeige ich manchmal meine bereits ausgebesserten Text. Einmal sagte sie: „Dein Deutsch hört sich manchmal zu gut an, es wirkt brav, lebt nicht. Vielleicht wäre es doch besser, wenn du Englisch schreibst. Da wirst du bestimmt lockerer.“
Ein richtiges Dilemma, aber dies ist nur die halbe Geschichte. Denn, um ehrlich zu sein: Manches werde ich in der Schwiegermuttersprache nie meistern. Zum Beispiel das mit dem Genus. „Verlasse dich auf deine Gefühle“, empfahl mir einst Kollege Th., „Dann wirst du von allein jedes Wort richtig erfassen.“
Ha. Wenn Th. nur wüsste. Hier einige Beispiele meines Sprachgefühls: Fangen wir mit „Aufruhr“ an. Mein Gefühl, auf das ich mich verlassen will, möchte DIE Aufruhr schreiben. Das ist aber falsch. Aber warum falsch? Immerhin heißt die Krankheit, die den Darm in Aufruhr versetzt, DIE Ruhr. Oder „Motor“. Für mich eindeutig ein DAS Motor. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich verlasse mich einfach auf meine Gefühle. Oder „Kissen“. Dieser gemütliche Polster ist für mich ein DER. „DER Kissen“ klingt so richtig in meinen Ohren wie „DER Baum“. Wieso muss es ein DAS sein? Und wieso ist „Zucker“ ein DER und kein DAS. DAS Zucker hat was Süßes, finde ich jedenfalls.
Wäre ich Deutscher, würde jeder sagen, wenn ich „DIE Aufruhr“ schreibe: „Das ist offenbar seine Tradition. Immerhin: Der Bayer sagt „DER Butter“, und keiner meint, das sei komisch. Dialekt halt. Und bedenken Sie: Bis heute haben sich Deutsche nicht geeinigt, ob „Email“ ein DIE oder DAS ist. Mein Schweizer Freund René sagt stets „DAS Email“. Auch Karl, ein feinfühliger Gelehrter, betrachtet seine Email als ein DAS. Ich, der ängstliche Konformist, bleibe bei „DIE Email“, weil ich es so gelernt habe.
Nein ich erwarte keine klärenden Worte. Heute habe ich einfach das Bedürfnis, meine sprachliche Frust von der Seele zu schreiben, wobei ich lediglich an der Oberfläche gekratzt habe. Die Lage ist viel schlimmer. Die Unsicherheiten sind tief wie ein Eisberg. Bei jedem Gespräch fühle ich mich wie auf der Titanic.
Es ist eine Krankheit, eine Malaise, die Ohr, Hirn und Zunge angreift und verwirrt.
Ich habe sie „Venus-Williams-Syndrom“ genannt, muss nur darum bitten, dass Sie hier keine unterschwellige Kritik an einer Tennisspielerin, die diesen Namen trägt, argwöhnen. Das habe ich gar nicht im Sinn. Meine Kenntnisse über das Tennisspielen beschränken sich sowieso auf die Geschwindigkeit, mit der ich, wenn ich gelegentlich „channel-surfing“ betreibe, zum nächsten Sender umschalte. Sonst weiß ich, dass man früher häufig über „unsere Steffi“ jubelte und dass sich der junge Boris weigerte, sich „Bumm-Bumm Becker“ etikettieren zu lassen. (Damals kursierte der Witz: Er ist jung, blond, großgewachsen und deutsch. Warum muss er ausgerechnet „Boris“ heißen?).
Damit habe ich meine Kenntnisse übers Tennisspiel ziemlich erschöpft und kehre nun zum „Venus-Williams-Syndrom“ zurück.
Auch bevor ich auf deutschen Schollen strandete, fiel mir auf, dass viele Deutsche, wenn sie Englisch sprachen, das englische „V“ wie in „Venus“ oder „victory“ in ein englisches „double-u“ verwandelten. Aus „Venus“ wurde „uie-nuss“, aus „victory“ „uikk-to-rie“.
Im Gegenzug sprach der Deutsche das „W“ des englischen „Williams“, „we“, „work“ usw. so aus, als wäre es ein deutsches „W“ wie in „wichtig“, „werken“, „wunderbar“ usw.
Ich fand das schon damals eigenartig. Aus dem englischen „V“ wurde ein englisches „W“; aus dem englischen „W“ hingegen ein englisches „V“. Das heißt: Der Deutsche war in der Lage, beide Laute korrekt zu artikulieren – nur verkehrt herum. Komisch, nicht wahr? Was dieses Phänomen noch merkwürdiger machte: Jeder Deutsche sprach das „V“ im Namen der römischen Göttin „Venus“ meistens so aus, wie Englisch Sprechende es tun – als stimmhaften Reibelaut.
Ich habe neulich an dieses Phänomen gedacht, als ich einem Bericht im Radio über besagte Venus Williams lauschte. Zufällig hatte ich Gelegenheit, den Namen der Tennisspielerin von drei verschiedenen Rundfunksprechern hören zu können. Der erste Sprecher glänzte mit dem altbewährten „Uienuss Uilliams“. Zweimal „Ui“ also.
Der zweite überraschte mit einem gekonnt artikulierten „Wie-nuss“ (also deutsches „W“) gefolgt von einem „Will-jams“, dass ebenfalls verdeutscht wurde.
Der dritte Sprecher sagte alles ganz richtig. Also: „Wie-nuss Uill-jams“. Nun fragte ich mich, warum der dritte Sprecher alles richtig sagte und die anderen nicht. Mein vorsichtiges Fazit: Die Ära des „Uie-nuss Will-jams“ geht langsam zu Ende.
Hier meine Fantasie: Die ersten zwei Sprecher sind älteren Jahrgangs. Das heißt: Sie entstammen einer Zeit, als man das englische „V“ und „W“ regelmäßig durcheinanderbrachte. Der dritte Sprecher ist – und dies habe ich an seiner hellen Tonlage erkannt – noch jung. Er entstammt einem Zeitalter also, wo sich der Kontakt mit der angelsächsischen Welt – dank der Globalisierung der Musik und dank den Musiksendern in der TV – verfestigt hat. Der dritte Sprecher käme also nie in die Versuchung, Stevie Wonder zu einem „Wunder“ zu mutieren oder die „Velvet Underground“ als „ueluett“ zu radebrechen. (Ja, ich weiß: Es sind die Namen von Rockopas, aber die alten sind komischerweise immer noch die neuen).
Im Zeitalter der „Wellness“-Bewegung und der „Video-Aufnahme“ werden neue Sprachgewohnheiten unentwegt eingeprägt.
Ich frage mich nur: Woher kommt es, dass Generationen von Deutschen das englische „V“ und „W“ vertausch(t)en? Ich weiß es nicht. Fest steht nur: Hier sind ganz bestimmt uralte Sprachinstinkte am Werk. Jeder, auch wenn er nie Latein gelernt hat, kennt den berühmten Spruch Julius Cäsars: „veni vidi vici“, „ich kam, ich sah, ich siegte“. Diese Worte klangen aus dem Mund Cäsars folgendermaßen: ue-ni, ui-di, ui-ki, eine Aussprache, die den in Rom beheimateten Germanen wohl nicht passte. Sie machten daraus ein „we-ni, wi-di, wi-zi“. Bis heute klingt es ähnlich, wenn ein Italiener spricht. Nur sein „wi-zi“ ist zu einem „wi-tschi“ geworden.
Hören Sie bitte in sich hinein: Sind Sie noch vom „Venus-Williams-Syndrom“ befallen?
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