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Ah, Süße Unschuld! – z.B.: "The Thing?"

Vorab ein paar unspektakuläre Zitate:

1.) Antonin Artaud, französischer Schriftsteller und Dramatiker, lebte neun Jahre im Irrenhaus. Einmal sagte er so etwas wie „La réalité me voûte“. Zu Deutsch: „Die Wirklichkeit drückt auf mich wie ein Gewölbe“.

2.) Ezra Pound, amerikanischer Dichter, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg – als Landesverräter – mehrere Jahre im amer. Irrenhaus St. Elisabeth untergebracht. Er meinte einmal: „Lebt man in Amerika, dann am besten im Irrenhaus.“

Mit obigen Zitaten will ich lediglich darauf hinweisen, dass die Zeiten schon wieder spruchreif geworden sind. Deshalb möchte ich diese Woche dem Wahnsinn kurz ausweichen. Ich möchte eine Pause einlegen. Daher diese süße Erinnerung aus einer Zeit der Unschuld. Wir schreiben das Jahr 1975. Ich bin mit meiner damaligen Lebensabschnittspartnerin auf dem Weg nach Europa – auf dem Weg in mein Schicksal…

Ein Bericht über The Thing: Irgendwo in den Längen New Mexicos tritt auf einmal am öden Straßenrand eine große Werbetafel in Erscheinung. Darauf ist zu lesen: The Thing?. Man fragt sich: Hmm, The Thing?. Etliche Meilen später, wieder eine Werbetafel: The Thing? – rv Parking, also Parkplätze für Wohnwagen (recreational vehicles). Dann wieder nach einigen Meilen: The Thing? – Desert Mystery – Wüstengeheimnis. Und so geht es immer weiter. Bald läuft der Countdown: „Zehn Meilen bis zu The Thing?“, „Fünf Meilen“, „Zwei Meilen“, „eine Meile“, „eine halbe Meile“ : Und dann The Thing? You’re almost there – Exit 322. Schließlich Open for Breakfast 7h täglich – the Thing?.

Wenn man Ausfahrt 322 erreicht, ist man schon außerordentlich neugierig. Auch wir, und wir nahmen diese Ausfahrt, die zum Ding führt. Man kommt nun auf eine kurvenreiche Straße in der Wüste und fährt immer weiter, bis man oben auf einer Anhöhe eine lange Holzbaracke, genauer gesagt, eine Erfrischungsstation, erreicht. Auf dem Dach des Hauses steht in großen bunten Buchstaben auf einer hauslangen Tafel: The Thing? What is it? Ja, eine Erfrischungsstation. Man kann hier tanken, essen, trinken, aufs Klo gehen, sich Andenken kaufen. Und selbstverständlich kann man the Thing? besichtigen.

„Wir möchten zu the Thing“, gab ich ein bisschen verschämt zu erkennen, weil es mir längst klar war, dass ich mich über den Tisch ziehen lasse. Einen Dollar kostete das Ticket – damals nicht sonderlich billig. Wir bezahlten und betraten einen Raum, in dessen Mitte ein offener Sarg zu sehen war, der mit einer durchsichtigen Glasplatte zugedeckt wurde. Endlich das Ding. Und was für ein Ding. Im Sarg lag nämlich eine Art Frankensteinfigur, schön eingenistet wie ein Weihnachtsgeschenk auf lauter farbigen Kissen. Nur wirkte diese Figur irgendwie billig, dilettantisch hergestellt. „Ist the Thing echt?“ fragte ich. Zugegeben, eine dumme Frage, aber ich wollte zumindest etwas sagen.

„Wenn ich ehrlich bin“, antwortete die Aufseherin schön routiniert, „nein. Aber ich halte es für meine Pflicht, wahrhaftig zu antworten.“

„Es ist aus Pappmaschee, oder?“

„Ja.“

Wir schwiegen. Schließlich sagte ich: „Aber mein Kompliment. Ihre Werbung ist ausgezeichnet. Sie haben uns richtig neugierig gemacht.“

„Danke. Wenn man in dieser Gegend lebt, muss man sich was einfallen lassen.“

Nachtrag: Ich bin 2009 dieselbe Strecke gefahren. The Thing? war immer noch da. Diesmal hielt ich aber nicht an. Ich höre aber, dass es inzwischen mehrere Konzessionen im Südwesten der USA gibt, die diese Masche verwenden. Ist doch klar. Angebot und Nachfrage waren schon immer die Grundlage des Kapitalismus.

Nächste Woche wende ich mich den Grausamkeiten der Gegenwart wieder – selbstverständlich mit sprachlichem Bezug.

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