Die Untoten schlafen, wenn alle wach sind, sind wachsam, wenn die anderen schlafen.
Dieser Unterschied erklärt, weshalb ich erst jetzt dazu komme, über Jörg Kachelmanns Formulierung „Opfer-Abo“ zu schreiben, eine Formulierung, für die er schon vor zwei Wochen als Schöpfer des Unwortes des Jahres 2012 ausgezeichnet wurde.
Zugegeben: Ich verschlafe viele Dinge. Doch zufällig weiß ich, dass Kachelmann ein Wetterfrosch ist, dass er über eine fetzige Sprache verfügt und dass sein Intimleben eine Zeitlang in den Zeitungen für gestiegene Auflagen sorgte. Verlangen Sie von mir bitte keine sonstigen Details. Wir Untoten müssen uns besonders anstrengen, um mit den endlosen Ergüssen der Unterhaltungsindustrie standzuhalten. Denn die Events dieser Industrie finden meistens statt, während wir schlafen.
Immerhin habe ich zufällig Kachelmanns eigene getwitterte Reaktion auf seine Auszeichnung mitbekommen. "Leider ist es die Wahrheit, die manchmal politisch unkorrekt ist", hatte er geschrieben. Mir kam der Satz, ganz ehrlich, im Gegensatz zu seiner witzigen Formulierung „Opfer-Abo“ etwas larmoyant vor. Für sein „Opfer-Abo“ sehe ich allerdings eine lange und produktive Zukunft.
Hier ein Beispiel, wie man diesen Begriff in der Tagessprache künftig verwenden wird: „Hör doch bitte auf zu jammern. Du hast kein Opfer-Abo.“ Klingt nett, nicht wahr? Wäre für fast jede mögliche Situation passend. Männer, Frauen, Interessengruppen, politische Parteien, ja, sogar Nationen und Religionen könnte man anprangern, weil sie sich verhalten, als hätten sie ein Opfer-Abo.
Praktisch, nicht wahr? Ohne praktische Begriffe, kann man ohnedies aufhören zu reden.
Zufällig schaltete ich mein altes und wenig gebrauchtes Fernsehgerät an dem Tag ein, als über Kachelmanns Ehrung taufrisch in den Nachrichten berichtet wurde. Eine sehr ernst wirkende Dame las einen längeren Text vor und erläuterte, warum Kachelmann mit dem Preis fürs Unwort des Jahres 2012 ausgezeichnet wurde. Ich kann mich nicht mehr genau an den Wortlaut erinnern, lediglich, dass die Dame sehr abschätzig über Kachelmanns „Opfer-Abo“ sprach. Sie meinte, der Begriff sei ausgesprochen frauenfeindlich und verdiente unbedingt den Titel „Unwort des Jahres“.
Offensichtlich hatte Kachelmann seine Formulierung zum ersten Mal in einem Interview verwendet und auf eine bestimmte Situation und eine bestimmte Person bezogen. Das kommt bei neuen Wörtern öfters vor. Doch solche Wörter entwickeln dann ein Eigenleben und werden schnell ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissen. Dann sagt man über sie, sie seien nun im „übertragenen Sinn“ gebraucht worden. Das ist, zum Beispiel, der Fall, wenn ich „in die Röhre schaue“ oder einen für „vogelfrei“ erkläre. Oder?
So auch das „Opfer-Abo.“
Nebenbei: Wir Untoten haben gar keine „Opfer-Abos“. Das ist so, weil wir uns nie für Opfer halten.
Was nicht unbedingt bedeutet, dass es für Untote keine Unwörter gibt. Nein, im Gegenteil.
Zum Beispiel, „Missbrauchsskandal“. Das Wort habe ich zufällig in einer Zeitung gelesen. „Missbrauchsskandal“? fragte ich mich. Was soll das bedeuten? Ich mochte den Begriff auf Anhieb nicht, konnte aber meine Ablehnung lange nicht erklären, bis ich endlich ein Aha-Erlebnis hatte: Ein „Missbrauch“, so dachte ich, ist allein schon ein „Skandal“. Ein Begriff wie „Missbrauchsskandal“ kam mir als Tautologie vor.
Dennoch wollte ich wissen, was es bedeuten könnte. Offensichtlich bezieht sich besagter Skandal auf ein skandalöses Benehmen. Insofern ist ein „Missbrauchsskandal“ ein Skandal über einen Skandal.
Das klingt ziemlich kompliziert, nicht wahr? So habe ich mir überlegt, ob man den gleichen Inhalt möglicherweise anders ausdrücken könnte. Mir fiel leider nichts Passendes ein. Vielleicht Ihnen. Mein Vorschlag: Wie wäre es, wenn „Missbrauchsskandal“ zum Unwort des Jahres 2013 auserkoren wird?
Falls es so wird, werde ich womöglich nichts darüber erfahren. Passiert mir oft. Wir Untoten schlafen, wie gesagt, wenn andere wach sind. Zu dumm, nicht wahr?
Ein Neuling in der deutschen Sprache suchte ich mit meiner damaligen Lebensabschnittspartnerin nach einer Wohnung in München. Wir schreiben das Jahr 1975.
Wir klingelten an einer Wohnungstür, wo wir einen Termin mit dem Vermieter verabredet hatten. Ein langer, bebrillter Mann mit kurzem Kinnbart machte auf. Forsch reichte er mir die Hand und sagte: „Fick“.
Ich, der ich erst kurz zuvor aus dem Jünglingsalter herausgewachsen war, wollte zu kichern anfangen, habe mich aber rechtzeitig gefangen. Denn meine Kenntnisse dieser Fremdsprache reichten gerade noch aus, um zu konstatieren, dass er mir lediglich seinen Namen vorgesagt hatte und kein anzügliches Angebot machen wollte. Nebenbei: Wir haben die Wohnung nicht genommen.
Nächstes Beispiel: In einem Antiquariat in San Francisco stieß ich eines Tages vor vielen Jahrzehnten auf ein Buch – ich weiß nicht mehr, ob es in Englisch oder Deutsch war. Der Autor hieß jedenfalls„Fucks“, eigentlich die norddeutsche Variante von „Fuchs“. Ein voriger amer. Besitzer des Buches hatte unter dem Namen „I bet he does“ (Ich bin sicher, dass er es tut) geschrieben. Haha.
Zur Info: Auch der Name „Fuchs“, mit „h“ also und nicht mit „k“ geschrieben, bereitet Amerikanern Schwierigkeiten. Man bemüht sich, den Namen als „Fjuk-s“ auszusprechen, um jegliche Doppeldeutigkeit zu im Keim zu ersticken. Meine Großmutter, die nur leidlich Englisch sprach, sagte trotzdem „Fokks“ – zum Leide ihrer Kinder.
Nächstes Beispiel: Immanuel Kant. In Amerika – und in England, so habe ichs von einer zuverlässigen Quelle – ist man ungern ein Kantianer. Denn „Kant“ (weil wir im Englischen kein langes „a“ kennen) klingt beinahe wie „cunt“, ein sehr vulgäres Wort für das weibliche Geschlechtsteil – aber das Wort kennen Sie wahrscheinlich schon.
Der Name wird bisweilen wirklich zum Problem für Lehrer. Stellen Sie sich vor: Sie unterrichten lauter junge Menschen im Alter von – sagen wir – 18 und 20 und müssen stets von „Kant“ reden. Sätze wie „Kant is very important“ oder die Frage „Who likes Kant?“ bringt jeden Lehrer an seine Grenzen.
Und noch ein Beispiel: Der „Hahn“ heißt auf Englisch „cock“ oder „rooster“. Heute wird, den Kindern zuliebe, Letzteres bevorzugt, weil „cock“ – das wissen Sie auch schon – „Penis“ bedeuten kann.
Anstatt „weathercock“, also „Wetterhahn“, sagt man heute lieber „weathervane“. (Ich denke, „vane“ muss etymologisch mit „Fahne“ verwandt sein).
Es gibt dennoch Fälle, wo „cock“ nicht weichen will. Z.B.: Der „petcock“, eine Art Ventil, das auf- und zugedreht wird, um Öl aus dem Öltank eines Autos zu lassen. Der „Hahnenkampf“ heißt nach wie vor „cockfight“. „Roosterfight“ klingt einfach zu niedlich. Er findet übrigens im „cockpit“ statt.
Ein Wort, zwei Seelen.
Und so komme ich zum eigentlichen Thema dieses Diskurses: Die Entscheidung des Thieneman Verlags bestimmte Wörter in Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ mit anderen auszutauschen. So werden in diesem Buch, zum Beispiel, Schuhe und Stiefeln nicht mehr „gewichst“, sondern wohl „poliert“ oder so. Der „Negerkönig“, so habe ich gelesen, wird zum „Südseekönig“ oder so.
Nichts gegen politische Korrektheit – manchmal hat man sie nötig – aber manchmal…. In Mark Twains „Huckleberry Finn“ wollten PCer in den USA der Hauptfigur „Nigger Jim“ einen neuen, neutralen Namen verpassen. Nein, heute keine Beispiele aus der Bibel…die gibt es aber…
„Overkill“ heißt das auf Englisch. Etwa: „des Guten zu Viel“. Als ich mich 1975 in München zum ersten Mal beim KVR anmeldete, stieß ich im Formular auf die Frage nach meiner „Konfession“.
„Was ist eine ‚Konfession‘?“ fragte ich, zumal „confession“ auf Englisch „Geständnis“ bedeutet.
„Ihre Religion“, antwortete der Beamte.
„Ach so“, sagte ich und schrieb im Formular „Jude“.
Der Beamte stierte mich merklich irritiert an, als wollte ihn provozieren, strich mein Wort durch und ersetzte es mit „Isr.“…
Nun mache ich Schluss, sonst habe ich bald zehn Seiten oder ein ganzes Buch geschrieben. Ein ausbaufähiges Thema. Grüße an Herrn Fick.
Im August dieses Jahres wird der elektrische Stuhl 123 Jahre alt. Das ist zwar kein runder Geburtstag (Blattmacher, was ich ohnehin nicht bin, freuen sich auf runde Geburtstage, um leere Seiten zu füllen) aber ein schöner Zahl – weil man eins, zwei, drei zählt.
123 Jahre alt aber schon ein Auslaufmodel . Tja. Man denkt auch an die Analogfotografie, die Schreibmaschine, die eiserne Jungfrau – alles praktische Dinge mit Verfallsdatum. Aber jetzt ein bisschen Hintergrundgeschichte.
Ein junger New Yorker Elektriker namens Harold P. Brown bastelte an dem Urelektrischen Stuhl. Das war in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Idee, dass man mit Starkstrom töten könnte, hatte aber als erster ein Zahnarzt namens Alfred Southwick aus der Stadt Buffalo in New York. Ihm schwebte ein mit Strom betriebenes Tötungsinstrument vor (keinen Stuhl allerdings), das humaner töten würde als mit Strick oder Fallbeil.
Immerhin konnte dieser Vordenker mittels eines Starkstromgenerators, diverse Tiere mausetot machen. Von diesem Erfolg angeregt, wandte er sich 1887 mit seiner Idee an den damals berühmten Erfindergeist Thomas Edison. Edison war beeindruckt, unternahm aber nichts. Doch nun etwas Hintergrund zum Hintergrund:
1879 hatte Edison mit der Vermarktung seiner neuen Erfindung, der Glühbirne, angefangen. Er wollte mit seinen elektrischen Lampen ganze Städte beleuchten und viel Geld verdienen. Doch dazu brauchte er, um die Glühbirnen mit Strom einzuspeisen, Kraftwerke. Solche Kraftwerke gab es natürlich noch nicht. Also musste er selbst den Anfang machen und baute in einer Ecke Manhattans einen ersten Generator, genauer gesagt, einen Gleichstromgenerator. Der Wechselstrom war damals noch ziemlich unbekannt. Nur: Es stellte sich bald heraus, dass Gleichstrom für seinen Zweck ungeeignet war. Der Strom, der aus einem Gleichstromgenerator fließt, wird nämlich, je weiter vom Generator entfernt, zunehmend schwächer. Nun wollte es aber der Zufall, dass um diese Zeit ein Rivale Edisons, George Westinghouse, auf die Idee kam, einen Generator auf Basis des Wechselstroms zu bauen. Dieser beförderte Elektrizität viel effizienter als Gleichstrom.
Der Einfall des Rivalen erfreute Edison wenig. Denn er hatte bereits viel Geld in seine Gleichstromanlagen investiert. Er suchte also nach einer Möglichkeit, den Wechselstrom irgendwie zu diskreditieren.
Jetzt kommen wir auf Harold P. Brown, Erfinder des elektrischen Stuhls, zurück. Brown hatte sich wie Southwick vor ihm mit seiner Idee an Edison gewandt. Doch nun war Edison aufnahmefähig. Denn Brown behauptete, dass man einen elektrischen Stuhl besser auf Basis des Wechselstroms konstruieren sollte, weil dieser schneller tötete als der Gleichstrom. Ein Aha-Erlebnis. Edison lud nun eine Gruppe Journalisten zum Firmengelände in New Jersey, um ihnen das Töten mit Strom vorzuführen. Erst ließ er seine Testtiere, Hunde, Kälber und Pferde, mit Gleichstrom qualvoll sterben. Dann machte er das gleiche mit Wechselstrom und bewies, dass der Westinghouse’sche Wechselstrom viel schneller, sprich humaner“, tötete als sein Gleichstrom.
Szenenwechsel. Wir schreiben den 6. August 1890. An diesem Tag sollte der zu Tode verurteilte Axt-Mörder, der 30jährige William Kemmler, als erster Mensch auf einem elektrischen Stuhl sterben. 27 Zeugen nahmen Platz in einem Kellerraum im Auburn Gefängnis in New York. Herr Kemmler im schicken Anzug betrat den Raum, verbeugte sich vor dem Publikum, zog seine Jacke aus und setzte sich auf den Stuhl. Als man ihm die Lederriemen anlegte, sagte er hilfreich: „Etwas fester.“
Anschließend wurde ihm eine Ledermaske über das Gesicht gestülpt. Nur Augen und Mund waren sichtbar. Auf seinen Kopf setzte man ein nasser Schwamm, was den Strom besser leiten sollte.
„Goodbye, William“, sagt der Gefängnisdirektor.
„Goodbye, Mr. Durston“, sagte Kemmler. Der Strom wurde eingeschaltet. Der Körper des Mörders machte einen Ruck nach vorne. Die Augen quollen hervor, der Mund wurde zu einem makabren Grinsen, die Hände ballten sich zu Fäusten.
17 Sekunden später verkündete ein Arzt, „Er ist tot!“. Stimmte aber nicht. Plötzlich stöhnte Kemmler und holte verzweifelt Luft. Panisch jagte man Strom durch den Körper wieder. Funken flogen, und bald roch der Raum stark nach verbranntem Fleisch. Ein Zeuge übergab sich, ein anderer wurde ohnmächtig. Nach zwei Minuten war William Kemmler tot. In der Zeitung hieß es, auf den Punkt gebracht: „Kemmler gewestinghouset“.
Edison war mit dieser Demonstration höchst zufrieden. Für ihn bedeutete es den Sieg des Gleichstroms über den Wechselstrom als Mittel, Städte zu beleuchten. Doch sein Triumph wahrte, wie jeder weiß, nur kurz. Immerhin spielte er eine entscheidende Rolle bei der Einführung eines nagelneuen Tötungsinstruments…
Warum erzähle ich diese Geschichte? Hat sie, als erste Glosse des neuen Jahres, überhaupt etwas mit Sprache zu tun? Wahrscheinlich nicht. Nein, doch. Ohne Sprache wäre es nie möglich gewesen, Geschichten, alle Geschichten, in Worten zu fassen…
Wann war das wieder? Ich denke, es war 1968. Damals – in Santa Barbara, Kalifornien – hatte es sich herumgesprochen, dass DER Erdbeben, mit dem alle rechneten – „the big one“, wie es hieß – , unmittelbar bevorstünde. Freund Jonathan, der bestens vernetzt war, hatte es von einem erfahren, der offenbar Bescheid wusste: Kalifornien sollte wie ein abgebrochenes Stück Knäckebrot im Pazifik untergehen.
Manche Bekannte nahmen die Warnung sehr ernst. Sie zeigten Kalifornien den Rücken und zogen nach New Mexico, um in der Wüste ein neues Leben im Sinne des Friedens und der Liebe zu führen.
Es passierte nichts. Kein Untergang. Erst 1971 bebte es in Los Angeles – war nicht schön, aber Kalifornien brach nicht wie ein Stück Knäckebrot in den Ozean ab.
Kein Untergang 1968, kein Untergang 2012 (aber wer hat letztere Geschichte wirklich ernst genommen?). Eigentlich sollten wir dankbar sein, dass wir eine naive Gattung sind, für die oft heißer gekocht als gegessen wird. Und damit komme ich zum Thema: die Dankbarkeit.
Ich denke, man sollte am Wendepunkt zum neuen Jahr für vieles dankbar sein. Hier, zum Beispiel, meine Liste…
Ich bin dankbar dafür, dass ich kein Geschäft führe, das auf die Verbreitung von Spam, von Phishing-Software, von der Verbreitung von Potenzsteigernden Mitteln spezialisiert ist.
Ich bin dankbar dafür, dass ich keine nutzlosen und womöglich lebensgefährlichen Arzneimittel übers Internet verhökere.
Ich bin dankbar dafür, dass ich keinen Menschenhandel betreibe und keine naiven junge Mädchen und Jungen mit verlogenen Versprechungen in die sexuelle oder die Arbeitssklaverei verschicke.
Ich bin dankbar dafür, dass ich mein Geld nicht mit Kinderpornographie verdiene.
Ich bin dankbar dafür, dass ich kein Diktator auf Lebenszeit bin, der in Saus und Braus lebt, während sein Volk darbt.
Ich bin dankbar dafür, dass ich nie auf die Idee komme, Gott würde mit mir sprechen oder mir durch ein heiliges Buch das Recht geben, andere Menschen zu verstümmeln oder zu ermorden.
Ich bin dankbar dafür, dass ich kein Geld vor dem Fiskus verstecke, weil ich nicht einsehe, dass auch ich am Gesellschaftsvertrag teilhaben sollte.
Ich bin dankbar dafür, dass ich niemals das Morden mit einer Ideologie rechtfertigen muss.
Ich bin dankbar dafür, dass ich nie das Bedürfnis hatte, mich an eine Massen- oder sonstige Vergewaltigung teilzunehmen.
Ich bin dankbar dafür, dass ich kein Chef bin, der seine Mitarbeiter auf die Straße setzt, um das gesparte Geld in die eigene Tasche zu wirtschaften.
Ich bin dankbar dafür, dass ich keine langjährigen Mieter kündige, um ein Haus in Luxusswohnungen zu verwandeln.
Ich bin dankbar dafür, dass ich niemals einem anderen Menschen einen Selbstmordgurt aushändigte, damit er/sie sich und andere in den Tod jage.
Ich bin dankbar dafür, dass ich noch nie einen Menschen als Rauschgiftkurier („Esel“ genannt) in die Welt geschickt habe, während ich vom Gewinn profitiere...
Das reicht für den Augenblick. Natürlich gibt es auch andere Gründe, weshalb ich dankbar bin. Sehr viele sogar. Meine Dankbarkeit, zum Beispiel, dass ich Sie, liebe Leser, liebe Leserinnen dieser manchmal skurrilen Glossen, habe. Denn das Schreiben ist wie eine Gleichung in der Mathematik. Der Schreiber steht auf der einen Seite des Gleichheitszeichens. Ohne Sie schreibt er für die Katz. Und jeder weiß: Katzen lesen nicht.
Seien Sie gebenedeit, liebe Leser und liebe Leserinnen des Sprachbloggeurs. Bleiben Sie gesund. Möge Ihnen das neue Jahr nur Gutes bringen. Falls es Ihnen nicht immer gut geht, mögen Sie das Schlechte mutig ertragen können.
Und möge der Weltuntergang weiterhin auf sich warten lassen.
Hallo, liebe Kristina und alle sonstige Kinden dieses Welts. Ich habe eure Rufen gehört und lasse durch mein Gesandtes, das Sprachbloggeur, mitteilen, dass ich das Welt am 21. Dezember aus verschiedene Grunden in das Weltallmüllanlage nicht habe katapultieren lassen. Das wisst ihr aber schon. Die Grunden wohl nicht.
Erstens: Es wäre nicht fair gewesen, zumal mein Bub vier Tagen später Geburtstag hat. Die Leuten haben so viel Geld für Geschenken ausgegeben. Ich dachte: Wäre schade für das Einzelhandel und für die Menschen, die auf das Bescherung warten.
Zweitens: Ich habe immer gelehrt, dass das Geben schöner ist als das Wegnehmen. So habe ich mir dann überlegt: Was kann ich euch dann schenken – außer das Erde selbstverständlich –, was Euch ein Freude machen würde.
Dann hatte ich das schöne Einfall: Ich schenke Euch ein neues deutsches Sprache, ein Sprache, das viel einfacher zu handhaben ist, als das, was ihr bisher geredet habt.
Kein Sorge. Das neue deutsche Sprache wird jedes verständlich sein. Nur das Anfang ist schwer – wie immer, nicht wahr?
Grundsätzlich geht es um ein kleines Versimplizieren. Das habe ich bereits mit das englische Sprache gemacht. Hat gut geklappt. Alles geht wie auf das Schnürchen.
Das Anfang machen wir mit die Nomen. Jedes weißt: Nomen est omen.
Seid ehrlich. Geht euch dieses Kram mit „der“ und „die“ und „das“ nicht mal auf das Keks? Nicht schüchtern sein. Ich weiß, weil ich allwissend bin, dass das Antwort „ja“ ist. Also: Paff! Ab jetzt ist das ärgerliche Zeug weg. Paff! Wie Zauber. Fortan braucht ihr nie wieder darüber nachzudenken, ob ein Wort ein „der“, ein „die“ oder ein „das“ ist. Auch das „dem“ und „den“ und wie es alles heißt, halte ich für Pipifax. Alle Nomen werden ab jetzt mit „das“ versehen – zumindest, wenn es nur eins davon gibt und mit „die“ wenn es mehreren gibt.
Das Mehrzahl habe ich ebenfalls vereinfacht. Mit wenige Ausnahmen sollen von jetzt an alle Mehrzahlen mit „-en“ enden. Ist das nicht schön? Kein Mensch – vor alles unsere lieben Migrationshintergründleren nicht – braucht sich Sorgen zu machen, dass es ein Fehler macht.
Ach ja. Auch kein „er“ und „sie“ mehr. Alles nur „es“. Macht das Leben easy. Oder? Mehrzahl „sie“.
Was die Ausnahmen betrifft. Ein paar Mehrzahlen bleiben trotz alles unregelmäßig. Zum Beispiel Gott. Warum Gott? Tja. Man gönnt sich sonst nichts. Wenn von mehr als ein Gott das Rede ist (und ich hoffe, man wird nie auf dieses Idee kommen), dann heißt das Mehrzahl wie bisher „Götter“.
Auch Gott will sich als etwas besonders fühlen. Gell?
Es gibt andere Beispielen für das unregelmäßige Mehrzahl. Mir fallen momentan keine ein. Bei mein Arbeit ist das verständlich. Man hat anderes in das Kopf.
Übrigens: Dieses Vereinfachung funktioniert in Englisch ausgezeichnet. In dieses Sprache wird das Mehrzahl allerdings meistens mit „s“ markiert. Da Deutsch nicht Englisch ist, wollte ich es ein eigenes Form für das Mehrzahl geben. Schließlich braucht jedes Sprache ein eigenes Duftnote.
Ich habe noch weitere Planen für Änderungen. Doch diese behalte ich noch für mich. Wenn ich das Katze aus das Sack lasse, gibt es kein Überraschung später. Das Leben wird nur interessant, wenn es Überraschungen gibt.
Einstweilen liebe Kinden, frohes Weihnacht Euch – von ganz oben und mit ganzes Herz.
Bin ich vielleicht der allerletzte Mensch in Deutschland, der kein Smartphone hat? Überbleibsel eines aussterbenden Geschlechtes? Oder gibt es da draußen auch andere wie mich? Ich meine andere, die weder vergreist noch unter sechs Jahren sind?
Diese Fragen hätte ich bis vor etwa einer Woche noch stellen können.
Aber dann hatte ich Geburtstag. Und was schenkte mir meine Frau? Nein, kein Viagra, falls ein Witzbold auf diese Idee käme.
Sie hat mir ein Smartphone geschenkt! Und was für ein Smartphone: Es hat eine richtige Tastatur, die man von unten hinausschieben kann. Kenner bezeichnen diese Tastatur als ein „slide keyboard“. Womöglich auch ein aussterbender Genotypus.
Mit Ehrfurcht betrachtete ich diese unerwartete Gabe und rührte sie zwei Tage nicht an. Irgendwie hatte ich Angst davor. Was heißt „hatte“? Meinen Umgang mit diesem Gebrauchsgegenstand betrachte ich immer noch als schüchtern und vorsichtig. Zugegeben: Mein Sohn kam vorbei, um mir wenigstens erste Hilfe zu leisten.
„Ach“, sagte er, „Dieses Baby ist noch immer mit Gingerbread bestückt.“
„Mit Gingerbread?“ Zu Deutsch „Lebkuchen“.
„Ja, so heißt das alte Android-Betriebssystem. Aber wir machen schnell ein Upgrade zu ice cream sandwich, gell?“
Damit meinte er das neue Android-Betriebssystem, das Kenner als „ICS“ bezeichnen. Ich war beeindrückt. Ohne Witz: Die Benutzeroberfläche von „ICS“ sieht um einiges flotter aus als die vom Lebkuchen.
Mein kleines Smartphone mit eigener richtiger Tastatur ist im Grunde ein Minicomputer, mit dem man auch telefonieren kann. Via WLAN oder übers Handynetz komme ich flott ins Internet, kann surfen wie ein Weltmeister, wenn ich will. Was unter Umständen praktisch sein könnte. Aber wem erzähle ich dies? Das wissen Sie ohnehin schon besser als ich.
Also frage ich lieber etwas, was Sie vielleicht nicht wissen. Zum Beispiel: Wissen Sie was „bloatware“ ist? Zu Deutsch „Blähware“ oder „Aufblähware“. Vielleicht nicht…oder? Dieses Wort ist einer der vielen Neologismen des neuen Zeitalters. Wie „Malware“, „Firmware“, „Freeware“ usw. ist es ein Ableger von „Software“ und „Hardware“.
Mit „Bloatware“ meint man alle nutzlose Anwendungen (sprich „apps“), die man schon vorinstalliert auf einem neuen Smartphone findet. Auf meinem Schätzchen befinden sich, zum Beispiel, ein Golfspiel, mehrere Emailprogramme, Musikdownloadprogramme, Nachrichtenprogramme usw. Auch eine Facebook- und eine YouTube-Schnittstelle sind vorhanden. Alles, was Platz für Besseres wegnimmt. Manches läuft sogar im Hintergrund und entleert den ohnehin stets arg strapazierten Akku.
Der Witz ist: Wer versucht, Bloatware zu löschen, wie ich es mit dem Golfspiel probierte, erfährt in einer bedrohlichen Warnung auf dem Display, dass er damit das Software-Gleichgewicht seines Phones zur Explosion bringen könnte.
Inzwischen habe ich erfahren, dass man eines „rooters“, eines „Entwurzelers“ also, bedarf, um Bloatware effektiv loszuwerden. Der Umgang mit dem „rooter“ sei aber nichts für Anfänger, heißt es. Man solle sich mit dem Golfspiel lieber Frieden schließen, wenn man nicht wisse, wie man „rootet“.
Rückblick: Ende der 1980er Jahre schrieb ich zum ersten Mal einen Artikel über die „Informationsrevolution“. Damals ahnten nur wenige, was mit diesem Begriff gemeint war. Ich zählte zu dieser auserkorenen Gruppe nicht.
Ich habe damals unter „Informationsrevolution“ verstanden, dass so viel Wissen zur Verfügung stehen würde, dass es einem schwindlig werden könnte. Man müsse lernen, eine vernünftige Auswahl zu treffen. Das war meine naive Schlussfolgerung.
Heute ist mir klar, wie naiv ich war. Bill Gates, Steve Jobs und Co. haben damals sehr wohl kapiert, was mit dem Begriff „Informationsrevolution“ gemeint war: nämlich, dass sie über ein Medium verfügten, mit dem sie Wissen in eine Ware verwandeln könnten. Nicht von ungefähr heißt es „SoftWARE“ und „HardWARE“. Die Vordenker der Info.-Rev. haben verstanden, dass man eines Tages Wissenswertes zu einem guten Preis werden verkaufen können. Die kostenlosen Angebote der ersten Jahre dienten nur dem Zweck, uns an die neue Technologie zu gewöhnen. Die „Bloatware“ steckte damals noch in den Windeln.
Nun bin ich als Besitzer eines Smartphones endgültig zum Wissensverbraucher avanciert: Zeitung, Nachrichten, Email – mir alles auch unterwegs verfügbar. Aber alles kostet was. Irgendwie.
Kein Mensch muss sich Sorgen machen, dass er an zu viel Wissen zugrunde gehen wird. Das war nur eine Lockvogelfantasie für die Landeier. Die Tage des exotischen, wunderschön gefährlichen Pflasters namens WehWehWeh sind längst gezählt. Alles bald schön gezähmt und nur gegen Bar – bzw. iBar – zu haben.
Mal ehrlich: War es aber nicht schon immer so – ich meine, was Information und Dienstleistungen betrifft? Wird man nicht in jeder Buchhandlung und in jedem Zeitungsgeschäft und in jedem Kaufhaus auch zur Kasse gebeten?
Es gab einmal einen jungen Mann namens Ned Ludd.
Vielleicht kennen Sie den Namen. Seine Anhänger werden in der deutschen Sprache als „Ludditen“ bezeichnet – so habe ich es jedenfalls in Wikipedia gelesen – , und man bezichtigt diese Leute des „Luddismus“.
Woher Wikipedia diese Wörter hat, weiß nur der Autor des Artikels. Mein Duden kennt jedenfalls weder „Ludditen“ noch „Luddismus“.
Es ist ohnehin ungewiss, so Wikipedia, , ob besagter Ned Ludd jemals gelebt hat.
Was ich jedoch mit Sicherheit weiß: „luddite“ und „luddism“ sind beide ganz normale englische Vokabeln und werden tatsächlich von diesem Ned Ludd abgeleitet.
Der Legende (bzw. der Geschichte) nach packte der wutschnaubende Ned Ludd 1779 eine Axt und hackte auf zwei Strickmaschinen ein, damals neue, fortschrittliche Maschinen für die Herstellung von Strümpfen – Maschinen, die Strümpfe viel schneller als jeder Stricker bzw. Strickerin stricken konnten.
Ned Ludd geht in die Geschichte ein, so die Story, als eine Art Robin Hood, der durch seine kühne Aktion, gegen den Abbau von Arbeitsplätzen protestieren wollte.
Bis heute weiß aber niemand, ob er jemals wirklich gelebt hat. Er wurde dennoch am Anfang des 19. Jh. in England zum Vorbild für die wutschnaubenden Gegner der Industriellen Revolution. Die damaligen „luddites“ pflegten, wie einst Ned, die neuen automatischen Webstühle usw. mit Äxten kurz und klein zu hacken.
Irgendwie verständlich. Wer möchte wissen, dass man durch eine Maschine (damals ein skelettartiges Konstrukt aus Holz, Schrauben und etwas Strick) überflüssig gemacht werden könnte.
An Ned Ludd dachte ich neulich auf der Bank, als ich die Kassiererin fragte, die mir zeigte, wie ich alle üblichen Bankgeschäfte am Bankautomaten tätigen könnte: „Werde ich Sie nicht überflüssig machen, wenn ich das maschinelle Angebot stets in Anspruch nehme?“
„Nein, nein“, antwortete sie. „Schließlich haben wir unsere Arbeitssicherheit.“
Hmmm.
Nein, hier kein Predigt über die Gefahren des Fortschritts. Außerdem bin ich als Webseite-Betreiber mit Sicherheit kein Luddite. „Maschinenstürmer“ heißt das übrigens auf Deutsch. Ich bin trotzdem kein begeisterter Glücksreiter des Fortschritts.
Ich bin halt Realist. Und da ich in den historischen Texten bewandert bin, weiß ich, dass nach jedem Heute ein Morgen folgt. Oje. Wie peinlich. Hilfe! Alarm! Binsenweisheiten auf dem Vormarsch!
Neuer Gedanke: Meine Frau ist passionierte Leserin der Süddeutschen Zeitung. Ich hingegen bestelle diese Zeitung jedesmal ab, wenn meine Frau verreist ist. Heute erzählte sie mir, dass die SZ, laut ihrer Freundin M., in großen finanziellen Problemen steckt.
„Kein Wunder“, antwortete ich. „Die Werbeeinnahmen sacken ab. Das gilt nicht nur für die SZ, sondern für viele Printerzeugnisse.“
„Du sagst das mit einer gewissen Süffisanz. Ich weiß, dass du die SZ nicht magst…“
„…nein. Ich sage es, weil das Management der Printmedien, seitdem es den Computer gibt, immer ratloser wird. Es versäumt keine Chance, eine Chance zu versäumen. Die Visionären im eigenen Haus wurden längst auf die Straße gesetzt, weil sie zu viel verdienten. Man investierte lieber in teuren Finanzberater, die stets ahnungslos waren.“
Naja. Ich will dieses Gespräch nicht in die Länge ziehen. Da die Welt am 21. Dezember ohnehin aufhört zu existieren, hat sich das Thema Zeitungssterben von allein erübrigt.
Allerdings habe ich am 21. Dezember einen Termin bei meiner Physiotherapeutin um 15h, und da möchte ich, weil ich Rückenschmerzen habe, unbedingt hin. Die Welt darf also an diesem Tag nicht untergehen, oder es darf erst nach 16h untergehen. Schließlich will ich meine Massage bekommen. Bedenken Sie aber: Wenn es 15h in München ist, ist in Japan längst der 22. Dezember. Wie kann die Welt am 21. Dezember untergehen, wenn es irgendwo bereits der 22. Dezember ist?
Alles sehr kompliziert. In einer globalisierten Welt ist auch der Weltuntergang keine schlichte Sache mehr wie in den guten alten Zeiten, als Ned Ludd lebte…oder nicht.
Hier eine eine Million Euro Frage wie in den Quizsendungen: Die Bewohner der Stadt Sodom wurden in der Bibel für welches Verbrechen bestraft?
a) sie putzten ihre Zähne nicht, b) sie praktizierten ungeschützten Sex, c) sie nahmen zu viele Krankenetage oder d) die Männer heirateten Schildkröten.
Sorry, keine Joker, keine Telefonate mit klugen Verwandten, keine Hilfe vom werten Publikum.
Wer antwortet mit „Alle vier Möglichkeiten sind idiotisch. Dennoch meine ich, dass das mit dem Heiraten von Schildkröten der Sache am nächsten kommt“, auch der irrt sich. Falsch. Falsch. Falsch. Alles falsch.
Vielleicht möchten Sie wissen, wie ich auf obige dumme Frage komme. Die Antwort: Weil ich Dampf ablassen möchte – und zwar wegen des neuen Sodomie-Gesetzes, das momentan den Bundestag beschäftigt.
Bisher habe ich diese Sache ziemlich ignoriert. Artikel in der Zeitung oder im Internet über das geplante Verbot der intimen Beziehungen zwischen Menschen und ihren Tieren haben mich gar nicht interessiert.
Falls Sie meinen, ich sei vielleicht ein Tierhalter, irren Sie sich. Vor vielen Jahren hatten wir mal eine Katze. Sie hieß Catulla und schnurrte wie wenn der Wind durch eine löchrige Mülltonne bläst – noch genauer: durch eine asthmatische Mülltonne pfeift. Ich war aber nie richtig verliebt in Catulla.
Warum ich dazu komme, über die Tierschutznovelle zu schreiben, hat vielmehr mit meiner Frau zu tun. „Novelle“. Hmmm. Klingt wie etwas, das weder Kurzgeschichte noch Roman ist.
Wir waren nämlich am Samstag auf dem Weg zu einem Weihnachtsfest, als meine Frau von der „Novelle“ zu reden begann.
„Hast du nichts darüber gelesen?“ fragte sie.
„Alles ignoriert“, antwortete ich. „Mich hat es gar nicht interessiert.“
„Das ist typisch für dich. Du bist manchmal so arrogant mit deinem ‚mich hat’s nicht interessiert‘. Wegen des Desinteresses von Menschen wie dir passieren deshalb die schlimmsten Dinge. Passiv und stumm. Großartig!“
„Stimmt nicht“, erwiderte ich. „Einmal hatte ich vor vielen Jahren von einem Fall aus den USA in der Abendzeitung gelesen. Es hieß, dass ein Soldat wegen ‚Sodomie‘ angeklagt worden war. Der Journalist machte die zu erwartenden anzüglichen Bemerkungen über die ungebührliche Tierliebe des Soldaten. Es war klar. Er meinte, er habe sehr lustig geschrieben. Was er nicht wusste: Er war einem Übersetzungsfehler verfallen. ‚Sodomy‘ auf Englisch ist eine vornehme Umschreibung meistens für Analverkehr. Ich habe prompt bei der Zeitung angerufen, um auf den Fehler aufmerksam zu machen.“
„Immer musst du deine Geschichten erzählen, um von anderen Geschichten abzulenken.“
„Nein so war es nicht gemeint. Ich bleibe die ganze Zeit beim Thema. Übrigens: „Kennst du das englische Wort ‚buggery‘?“
„Ja. Es bedeutet ‚Analverkehr‘. Oder?“
„Ja, genau. Aber weißt du, woher es kommt.“
„Bitte…“
„…von den Bulgaren, damals der Name eines der Turkvölker, die im Mittelalter in Europa einfielen. Man machte aus dem Namen ein vulgäres Schimpfwort, um den Feind zu beleidigen.“
„Na schön, aber du lenkst schon wieder ab. Mir geht es um die dämliche Gesetzesnovelle. Wozu der ganze Aufwand, frage ich mich, wenn es echte Probleme gibt? Das regt mich nämlich auf.“
Meine Frau hat natürlich recht. Doch zurück zur biblischen Stadt Sodom und meine Eingangsfrage: Wissen Sie, was das große Verbrechen in Sodom war? Nein. es hatte nichts mit irgendwelchen sexuellen Handlungen zu tun. Es ging um etwas wirklich Schlimmes: Die Sodomiten haben nämlich die Gesetze der Gastfreundschaft missachtet. Das liest man sehr klar aus der Bibelgeschichte heraus. Nur deshalb wurden sie mit der völligen Vernichtung bestraft. Ein ärgeres Verbrechen gab es in der Antike nicht.
Siehst du, meine liebe Ehefrau, ich habe doch Interesse fürs Thema gezeigt.
Vorstandsvorsitzender: Wurm! Sie wissen, was heute für ein Tag ist, oder?
Wurm: Ist es… mmm… nicht…mmm…Montag? o Herr der Schöpfung.
Vorstandsvorsitzender: Nicht so zögerlich, mein teures Würmchen. Entschuldigen Sie. Ich habe mir eine Freiheit erlaubt, die mir eigentlich nicht zusteht. Sie merken durch diesen Lapsus aber, dass ich bestens gelaunt bin! Ja, natürlich ist es Montag, doch nicht ein beliebiger Montag: Heute ist Cyber-Montag!
Wurm: Seiber-Montag?
Vorstandsvorsitzender: Aber, lieber Wurm, das müssen Sie ja schon selbst wissen! Wozu bezahle ich Sie…
Wurm: …entschuldigen Sie, wenn ich kurz unterbreche, o Herr, aber Sie haben mir mein Honorar seit zwei Monaten nicht mehr überwiesen…
Vorstandsvorsitzender: …Honorar? Ach ja, das stimmt. Wir haben Ihren unzeitgemäßen Angestelltenvertrag in einen schönen modernen freiberuflichen umgeschrieben. Jetzt sind Sie frei! Freuen Sie sich nicht? Na? Ich habe gefragt: Freuen Sie sich nicht?
Wurm: Ja, natürlich.
Vorstandsvorsitzender: Dann ist gut, aber Sie dürfen ruhig etwas lauter reden. Cyber-Montag, lieber Wurm, ist der Tag nach dem schwarzen Freitag. Das müssen Sie ja auch wissen. Oder?
Wurm: War wieder Börsencrash?
Vorstandsvorsitzender: Nein, Sie denken an den Schwarzen Montag.
Wurm: Gab‘s heute ein Börsencrash?
Vorstandsvorsitzender: Ach Wurm, ich sehe, Sie verlangsamen sich allmählich. Zeit vielleicht an den wohlverdienten Ruhestand zu denken, nicht? Wer arbeiten will, muss stets am Ball bleiben: In den USA heißt der erste Einkaufstag nach der Thanksgiving-Feier „black Friday“; ihm folgt „Cyber Monday“. Es ist nämlich der Aufbruch in den Weihnachtssaison! Ist das nicht wunderbar?
Wurm: Ach so, bläkk freidäj und seiber-monndäj. Jetzt verstehe ich.
Vorstandsvorsitzender: Nein, Sie verstehen nichts! Sonst würden auch Sie jauchzen. Schließlich leben wir in einer globalisierten Welt. Das müssen Sie ja wissen – und darum geht es. Aber zur Sache: Haben Sie mir die Vertreterzahlen mitgebracht? Ich möchte die Vorbestellungen für die Weihnachtsbücher anschauen.
Wurm: Jawohl, o Herr der Schöpfung, bitte.
Vorstandsvorsitzender: Danke. Was ist das hier für einen Titel? „Die Evolution der Evolution“?
Wurm: Ein sehr ausführlicher Überblick über die Evolutionstheorien von der Antike bis in die Gegenwart, o Herr. Ich habe es selbst gelesen. Sehr spannend geschrieben.
Vorstandsvorsitzender: Das freut mich für Sie, aber bitte, wer liest außer Ihnen so was? Schauen Sie nur: Es hat 450 Seiten. Papier ist heutzutage nicht gerade billig. Und die Druckkosten!
Wurm: Der Autor behauptet, er habe ein Stück Kulturgeschichte geschrieben, das man nicht in 150 Seiten zusammenfassen kann.
Vorstandsvorsitzender: Sie und der Herr Autor leben offenbar auf einem anderen Planeten. Schauen Sie nur! Knapp 460 Vorbestellungen. Auch die Sortimenter riechen den Braten. Kein Mensch braucht so viel über die Evolution zu wissen. Wer soll sich dafür interessieren? Außerdem: Wir verdienen nichts dran. Im Gegenteil.
Wurm: Er sagt, sein Buch sei ein Longseller, dass man es noch in zwanzig Jahren kaufen und lesen wird.
Vorstandsvorsitzender: Was kümmert mich, was in zwanzig Jahren sein wird. Wir haben momentan Cyber-Montag. Streichen, Wurm, streichen.
Wurm: Wir haben aber einen Vertrag mit dem Autor.
Vorstandsvorsitzender: Vertrag! Werden Verträge nicht auf Papier geschrieben. Streichen. Aussortieren. Wer so ein Buch schreibt, ist ohnehin zu dumm zu klagen. Außerdem habe ich eine Idee für einen Bestseller – nix Longseller. Und Sie werden es mir bis Cyber-Mittwoch schreiben! Ich habe die Idee vom Sprachbloggeur geklaut. Lesen Sie ihn auch, Wurm?
Wurm: Den Sprachbloggeur? Nur manchmal, o Herr. Mir sind seine Sachen zu mühsam. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will.
Vorstandsvorsitzender: Egal, was er will! Ich lese sowieso nur quer. Auserlesen heißt die Devise, lieber Wurm. Auserlesen. Letzte Woche hat unser obskurer Sprachbloggeur eine Glosse mit einem genialen Titel geschrieben. Haben Sie ihn nicht gesehen?
Wurm: Es tut mir leid, aber…
Vorstandsvorsitzender: Na, sehen Sie! Deshalb bin ich der Chef und Sie der…der… Der Titel, Wurm, war „Justin Biebers Tätowierungen“. Genial, nicht wahr!? Von dir will ich jetzt, mein treuer Wurm, ein ganzes Buch zu diesem spannenden Thema. Ich will Bilder, schöne, intime Bilder, viele Bilder! Und Text! Lauter private Enthüllungen! Sie dürfen alles erfinden, wozu Sie fähig sind. Und schnell! Sofort anfangen, bevor ein anderer auf die Idee kommt. Verstehen Sie endlich? Es weihnachtet und die Welt ist grausam.
Ich habe sie gesehen: Justin Biebers Tätowierungen. Deutlich zu erkennen in Bildern, die ich im Spiegel-Online entdeckte. Es waren, glaube ich, zwei.
Was, so dachte ich, dieser Bub, der so viel Unschuld ausstrahlt, hat sich tätowieren lassen?
Nun wurde ich neugierig und googelte unter Stichwort „Justin Bieber tatoos“. Wer weiß? Hätte sein können, dass man sie ihm für eine Show draufgemalt hat – als Imageveränderer quasi, damit er ein Hauch erwachsener wirkt. Prompt servierte mir Google beinahe eine Million Treffer zum Thema. (Zum Vergleich: Als ich das Stichwort „Johannesevangelium“ eintippte, waren es etwa 453.000 Treffer).
Ich klickte eine Seite, die mir versprach, alle Infos über Justin Biebers Tätowierungen unverblümt zu vermitteln, und bald wusste ich Bescheid: nicht nur, dass sie echt sind seine Tätowierungen, sondern dass der Popstar acht Stück hat!
Mir fiel in dem Augenblick ein Artikel ein, den ich vor ein paar Wochen in der Zeitung (war es die Abendzeitung?) gelesen hatte. Eine amerikanische Kollegin aus dem show business hatte sich eine Kritik über Justin Bieber erlaubt. Leider habe ich den Namen dieser Kollegin schon vergessen, obwohl sie selbst eine bekannte Entertainerin ist. Ich versuchte den Namen vermittels des Stichwortes „Kritik an Justin Bieber“ ausfindig zu machen. Im Meer der Bieber-Kritiker fand ich sie aber nicht wieder. Auch Google hat seine Grenzen.
Wie dem auch sei. Diese Kollegin bemäkelte, dass der junge Sänger keine Strategie für die Zeit habe, nachdem er nicht mehr jung und frisch aussehe. Außerdem, meinte sie, habe er keine Zukunft als Entertainer, weil sein Publikum – meist weiblich und sehr jung – heranwachse, das Bedürfnis nach ihm, sozusagen, herauswachsen. Er hingegen bleibe – wie ein Peter Pan – in seinem ewigen „Neverneverland“ zurück.
Ob die Kollegin recht hat, möchte ich hier nicht beurteilen. Dazu fühle ich mich nicht berechtigt.
Ich schreibe heute über Justin Bieber aus einem anderen Grund. Weil er für mich ein passendes Symbol für die Reinheit der Sprache darstellt.
Für die Reinheit der Sprache?
Was ich damit meine: Manche erwarten von einer Sprache, dass sie ewig und unveränderlich schön und makellos bleibt, wie ein junger Mensch in der Blüte der Jugend unveränderlich schön und makellos zu bleiben scheint. In Wirklichkeit aber werden sowohl Sprachen wie auch Menschen älter.
Ich weiß. Ich erzähle nichts Neues. Wenn es um Menschen geht, ist jeder bestens über diesen Vorgang informiert – nicht aber, wenn es um Sprache geht.
Zufällig entdeckte ich fast zeitgleich mit meinen Recherchen über Justin Biebers Tätowierungen ein Buch mit dem Titel „Student Grammar of Spoken and Written English“, dass beim englischen Verlag Longman erschienen ist. Der Autor heißt – welch Zufall – auch Biber, wenn auch ohne „E“ – Douglas Biber.
Diese „deskriptive“ Grammatik ist ein Muss für all diejenigen, die ihre Englischkenntnisse vertiefen wollen. Mr Biber u. Kollegen (nein, er ist nicht der alleinige Autor) beschreiben die englische Sprache aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln: als formelle Schriftsprache und als informelle gesprochene Sprache.
Dieses Buch ist übrigens bereits 1999 erschienen. Ich hingegen bin erst letzte Woche daran gestoßen. So war ich immer.
Um nochmals auf Justin Bieber zu kommen: Meine Überraschung, dass, dieser Popstar plötzlich Tätowierungen hatte, die ihm seine Aus-dem-Ei-gepelltheit raubten, ist nicht abwegiger als der Wunsch mancher, einer Sprache eine starre Unveränderlichkeit aufzuzwingen – was oft in der Schriftsprache geschieht. Ein tätowierter Justin Bieber ist wie eine gesprochene Sprache: lebendig, poppig, veränderlich und vor allem unvorhersehbar.
Eine Sprache ist also wie ein Jungstar. Sie wird schleichend älter, bekommt ihre Narben, lässt sich tätowieren, lässt sich einen Bart wachsen etc. Die Vergangenheit hingegen lebt weiter nur zwischen den zwei Deckeln eines hübschen Buches.
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