Was? Noch nie jemanden enthauptet?
Höchste Zeit, sich zu informieren. Schon jetzt wittern die gewieftesten Zeitgeistbeobachter eine neue Megamode. Intimrasur, Tattoos, Selfies ade! Das Enthaupten könnte geiler werden als World of Warcraft (WoW), Netflix und Phablets zusammen. Und obendrein verdammt einfach. Um Tony Abbot, Premierminister Australiens, zu zitieren: Man brauche lediglich „ein Messer, ein iPhone und ein Opfer“. Und zack! ist man dabei.
Schon jetzt ist diese scharfe Sache ein weltweiter Event geworden. Nicht nur in Syrien oder Irak, sondern auf den Philippinen, in Australien, in Mexiko, in England, sogar in den prüden USA.
Von mir freilich keine Gebrauchsanweisungen, nur ein bisschen Sprachliches zum Thema.
Englischsprachige nennen es „beheading“. Wer ein Gefühl für die Etymologie hat, erkennt sofort, dass das englische „behead“ haargenau dem deutschen „behaupten“ entspricht – wenn auch die zwei Cousins völlig unterschiedliche Bedeutungen haben.
Oder vielleicht nicht! Immerhin: Wenn man einen anderen „einen Kopf kleiner“ macht, hat man sich gewissermaßen behauptet.
Deutschsprachige kennen – neben „behaupten“ – auch das „köpfen“. Übersetzt man diese Vokabel wörtlich ins Englische, wird es „to head“. Achtung Sprachenfans! Dringende Warnung vor„falschen Freunden“! „To head“ bedeutet „führen“. Ist man „the head“ ist er nicht nur ein Kopf, sondern ein „Führer“. Wird aber das „head“ „beheaded“, dann hört es auf zu führen.
Soweit so gut. Doch jetzt wird’s ein bisschen kniffliger. Lesen Sie also sorgfältig. Fakt ist: Wer jemanden „enthauptet“, spielt in der Sache stets die aktive Rolle. Ist doch logisch. Denn „enthaupten“ ist ein transitives Verb, und es verfügt über ein direktes Objekt, einen „Akkusativ“. Beispiel: „Der vermummte Mann enthauptete sein Opfer“.
Umgekehrt ist das „Opfer“ vom Standpunkt der Grammatik das Objekt des Verbs „enthaupten“. Aber: Das Opfer sähe die Situation vielleicht anders. Es würde behaupten, dass es Subjekt sei, weil es einem Anderen, dem Enthaupter, volkommen passiv ausgeliefert ist.
Damit will ich nur sagen, dass das Objekt beim Enthaupten zum Subjekt und das Aktive zum Passivum werden kann. Ist auch logisch.
Das Enthaupten verfügt aber nicht nur über ein Subjekt und ein Objekt, sondern ebenfalls spielt bei der Sache ein indirektes Objekt, ein Dativ also, eine erhebliche Rolle.
Denn die Enthauptung (zumindest in der momentanen Form) erfordert stets einen Zuschauer, der zwar nicht unbedingt direkt involviert, trotzdem aber dabei ist – meistens vermittels der Social Medien.
Damit will ich sagen: Das Verb „enthaupten“ ergibt einen Sinn nur, wenn Subjekt, Objekt und Dativ in Einklang stehen.
Ist das grammatikalische Gebilde unvollständig, dann verliert das Verb jegliche Bedeutung – ähnlich dem Verb „geben“. Überlegen Sie: Ohne Subjekt, Objekt und Dativ wer will noch geben?
Noch Fragen?
Sprachbloggeur: Was darf’s sein: Ebola oder ISIS?
Leser: Nein, lieber Sprachbloggeur, heute möchte ich erfahren, wie man einen Brief schreibt.
Sprachbloggeur: Einen Brief? Oder meinen Sie eine Mail?
So in etwa verlief der innere Monolog, der dieser Glosse vorausging. (Der kreative Prozess ist immer sehr verzwickt. Man kann nie wissen, woher die Impulse kommen wird).
Doch bevor ich dieses knifflige Thema angehe, zuerst ein paar Worte über meine Dauerfrust: die deutsche Sprache. Helfen Sie mir, liebe Muttersprachler: Heißt es die oder das Mail?
Seit Jahren bilde ich mir ein, dass es „die“ Mail lautet. Außer man ist Schweizer. Die sagen „das“ Mail – ebenso manche Österreicher. Doch neuerdings höre ich auch von manchen Deutschen „das“-Mail. Hilfe!
Aber zurück zum Thema: der Brief.
Es gab einmal eine Zeit, als man in der Grundschule lernte, wie man Briefe gestaltet: Oben links der Absender (in Amerika oben rechts), darunter Name und Anschrift des Angeschriebenen, darunter weit rechts Ort und Datum und darunter weit links die Ansprache. Beim geschäftlichen Brief sprach man den Angeschriebenen mit „sehr geehrter“ – die Angeschriebene mit „sehr verehrte – an. Am Schluss hieß es „Mit freundlichen Grüßen“ oder noch feudaler: „hochachtungsvoll!“. War der Brief für eine/n Freund/in, so hieß es „liebe/r soundso“. Am Schluss schrieb man: „herzliche Grüße“, „schöne Grüße“, “liebe Grüße“ oder noch inniger „Alles Liebe“ oder „herzlichst“.
(Auf Englisch: „Dear soundso“. Bei privaten Briefen durfte man Anschrift und Absender weglassen. Am Ende des Briefes empfahl man sich mit „sincerely“, „sincerely yours“ oder „with best wishes“ – und an Freunde „cheers“, „love“ oder „affectionately“). Fertig.
Ja, die Welt war viel einfacher. Es gab weder Ebola noch ISIS, dafür aber feststehende Formen beim Briefeschreiben.
Das war damals. Heute schreibt kaum jemand noch Briefe– außer an Behörden, wo die alten Formen (zumindest von älteren Beamten) noch immer verlangt werden. Heute schickt man lieber Mails. Menschen aus dem Briefzeitalter schreiben freilich – auch in ihren Mails – weiterhin „liebe/r soundso“ oder geschäftlich „sehr geehrte/r soundso“ (auf Englisch „dear so and so“). Man kann sich das alles verständlicherweise schwer abgewöhnen.
Am Schluss die übliche: „liebe Grüße“, „herzliche Grüße“, „freundliche Grüße“, „mit freundlichen Grüßen“, „Grüße“, „Gruß, usw.
Eine Regel muss man allerdings im Emailzeitalter strengsten einhalten: Man Antwortet eine Mail niemals mit dem gleichen Abschiedsfloskel der empfangenen Mail. Schreibt der andere „herzliche Grüße“, dann obliegt es einem, mit „schöne Grüße“, „einen herzlichen Gruß o.ä. zu antworten.
Wer jünger als dreißig ist, kennt das Briefeschreiben vielleicht gar nicht. Er weiß womöglich nicht, wo man wohl auf einem Briefumschlag die Anschrift platziert oder wohin mit der Briefmarke. Diese Menschen gestalten ihre Mails – wen wundert’s – nach anderen Regeln. Zum Beispiel ohne Ansprache, oder mit einem „Hallo“ oder „Hi“ – dies auch bei geschäftlichen Mails: “Hallo Herr Sprachbloggeur“. Und wenn es formell klingen soll, dann schließt man mit „mfg“ – manchmal auch mit „liebe Grüße“. Wenn es ein bisschen freundlicher (und geschäftlich) klingen soll, fügt man einen Wetterbericht hinzu: „Liebe Grüße aus dem nebligen Aachen“.
Übrigens: Auch in englischsprachigen Mails verschwindet das altgediegene „dear“. Die meisten schreiben: „Hi Sprachbloggeur“. Und am Schluss heißt es „happy trails“ (einst der Titel eines Cowboylieds).
Wie es bei Whatsapp, Facebook usw. aussieht, kann ich leider nicht sagen. Bin nicht dabei. Vielleicht wie beim Simsen, also äußerst knapp und reichlich mit Emotikönen und Kürzeln versehen. SMS- und Twitterdienste haben uns ohnehin beigebracht, dass man fast alles in weniger als 150 Zeichen erzählen kann.
Auch ernste Dinge, z.B., Ebola und ISIS – und vielleicht auch die Ukraine.
Ja, ich will mich über Uber – den „sharing economy“ Taxidienst – äußern, aber zunächst Folgendes:
In letzter Zeit wache ich – unvermittelt – mitten in der Nacht auf und kann nicht wieder einschlafen. Das Alter wohl oder die üblichen Sorgen.
Was tue ich? Ich höre Radionachrichten, ARD-Infonacht, bis ich’s nicht mehr aushalte. Während einer solchen schlaflosen Episode erfuhr ich, dass in Flensburg nur noch geduzt wird. Das Siezen sei out.
Zugegeben: Journalisten übertreiben gern, um einen Bericht interessanter zu machen. Vielleicht wird in Flensburg doch noch gelegentlich gesiezt. Ich kann’s aber nicht wissen. Ich war nur einmal dort, und ich erinnere mich an nichts – außer dass es ziemlich flach ist.
Dem Bericht zufolge aber spielt beim Flensburger Duzen die Nähe zu Dänemark die zentrale Rolle.
Vielleicht wissen Sie’s nicht: Seit den 1960er Jahren duzen sich die Dänen nur. Auch Königin, Lehrer, Beamten werden geduzt. Gesiezt werden nur noch Touristen, um sie nicht zu sehr zu verunsichern. Wie es zu dieser sprachlichen Metamorphose kam? Schuld tragen die 68er. Ulkig, gell?
Ich bin Gegner dieses Duzens. Ja, ich weiß, was Sie denken: Herr Sprachbloggeur, Sie sind Amerikaner. Im Englischen heißen alle „you“. Meine Antwort: Das ist aber kein Duzen. Die Du-Form im Englischen heißt „thou“. Englisch Sprechende sagen „you“, und damit siezen wir uns gegenseitig nur.
Muss ich Ihnen die Vorteile des Siezens erklären? Ihm zu dank kann man manche Leute auf Distanz halten – was gar nicht zu verschmähen ist.
Das Siezen ist gleichsam das Gegenteil vom „frienden“ oder wie auch immer diese ungebührliche Nähe bei Facebook heißt.
Das Du-anbieten, ist stets ein Wagnis, eine Streicheleinheit, die man vertrauten Seelen schenkt.
Dieses wichtige Unterscheiden aufzugeben, ist m.E. ein verhängnisvoller Fehler. Damit wird eine aus der frühen Menschenzeit sinnvolle und gewiss hart erarbeitete Sitte jäh über den Haufen geworfen. Und zwar im Namen des Fortschritts. Ha.
Und jetzt komme ich auf „Uber“ zu sprechen. Achtung! Man darf dieses Wort mit dem germinglischen Wort „uber“, das „sehr“ oder „absolut“ bedeutet, nicht verwechseln. Letzteres wird „ju-ber“, Ersteres „u-ber“ ausgesprochen.
Wenn ich an „Uber“ denke, fällt mir der alte Witz über Christian Schwarz-Schilling ein. Sagt Ihnen diesen Namen noch etwas? Er war vom 1982-1992 Bundesminister für Post- und Fernmeldewesen und war maßgebend für die Privatisierung der Post verantwortlich. In seiner Amtszeit kursierte der Witz: „Was Macht Schwarz-Schilling jeden Morgen?“ Antwort: „Er erledigt die Post.“
Was macht Uber? Es überrollt die Taxi-Industrie. Okay, ich gebe zu. Ich schwärme nicht für alle Taxifahrer. Aber ich weiß, dass sie krankenversichert sind, dass sie Urlaub bekommen, dass sie haftpflichtversichert sind, dass sie in Gewerkschaften organisiert sind etc. etc. – alles Errungenschaften einer langen, schweren gesellschaftlichen Entwicklung.
Der Uberfahrer hingegen hat nichts. Er ist wie der Rickshafahrer in Kalkutta. Wird er krank, verdient er nichts. Geht sein Wagen kaputt, muss er selbst für die Reparatur aufkommen. Fährt er jemanden über den Haufen, haftet nur er.
Befürworter von Uber betrachten dieses billige Menschenbeförderungssystem als Sieg der „sharing-economy“. Was heißt „share“? Zu Deutsch „sich an etwas beteiligen“. Genauer gesagt: Der Erfinder der Uber-App und seine betuchten Investoren „sharen“ 20% dessen, was der Uberflieger verdient.
Mit Sicherheit ein gutes Geschäft für den Shareholder. Deshalb mein Vorschlag: Halten Sie am Siezen fest.
Eine kurze Anekdote über einen Menschen, der zwischen den Sprachen lebt. Damit meine ich natürlich mich.
Wollte ich jemanden verfluchen, würde ich ihm wünschen, er möge zwischen den Sprachen leben.
Es passierte vielleicht vor etwa zwei Wochen. Ich hatte zwei kurze Romane von Philip Roth gelesen: auf Englisch, meine Muttersprache.
Nebenbei: Ich gehe davon aus, dass die meisten Leser den Namen „Roth“ wie die gleichlautende Farbe aussprechen, obwohl der Vokal „o“ in diesem Namen auf Englisch eher dem deutschen Doppellaut „ou“ – wenn man ihn besonders kurz spricht – ähnelt, zu dem man dann ein stimmloses „th“ wie in „think“ anhängt.
Das mit den Vokalen ist eine knifflige Sache, und manches lässt sich mithin von Sprache zu Sprache nicht 100prozentig übertragen. So fangen die Probleme an.
Ich hatte, „Everyman“ und „The Dying Animal“ gelesen. Ich kenne die deutschen Titel nicht.
Ich halte Roth für einen sehr kompetenten Schriftsteller. Er beherrscht sein Handwerk ausgezeichnet, und ich lese ihn deshalb gern. Lediglich sein Bedürfnis, das Aussehen der primären Geschlechtsteile von jungen Frauen zu schildern und die sexuelle Gymnastik eines 60jährigen Mann mit einer blutjungen Frau zu huldigen, finde ich überflüssig. Aber jedes Tierchen…
Eines Samstagmorgens teilte ich meiner Frau meine Eindrücke über Philip Roth mit. Ich sollte vielleicht erklären: Meine deutsche Frau und ich reden miteinander Englisch. Das hat sich vor vielen Jahren einfach so ergeben. Auch mit meinen Söhnen spreche ich Englisch. Ich sagte zu meiner Frau, nachdem ich ihr gegenüber Philip Roths Schweinkram in Frage gestellt hatte: „Still, I think he writes good.“
Kurze Pause. „Soll das nicht heißen“, fragte meine Frau, „he writes well?“
Hoppla dachte ich. Natürlich muss es heißen „he writes well“. „Well“ ist Adverb und antwortet die Frage: Wie schreibt er?, während „Good“ Adjektiv ist und einen Nomen beschreiben muss. Etwa: „He is a good writer“.
Doch schnell suchte ich nach einem Grund, mein falsches Englisch zu rechtfertigen. So sind die Menschen, wenn sie Fehler nicht zugeben. „Ja schon“, antwortete ich mit einem Ton der leichten Überheblichkeit. „In der Umgangssprache sagt man auch ‚good‘, weil es überzeugender klingt als ‚well‘. Außerdem: So redeten wir in New York als Kinder auf der Straße.“
Das stimmt auch. In der New Yorker Umgangssprache wäre eine derartige Konstruktion durchaus passend gewesen.
Mir war aber klar, dass ich nur schummelte. Später stellte ich Google die Frage: „well“ oder „good“? Das digitale Orakel antwortete sofort: „Well“. Problem gelöst? Natürlich nicht.
Denn nun überlegte ich: Englisch und Deutsch sind beide germanische Sprachen. Auf Deutsch heißt es „er schreibt gut“ und nie „er schreibt wohl“ (ha ha). Kann es sein, dass man auch im alten Englischen „he writes good“ und nicht „he writes well“ sagte? Denn das heutige Englisch ist seit der Invasion der Normanen 1066 eine Mischsprache, teils Angelsächsisch, teils Französisch. Und jeder weiß: Der Franzose, im Gegensatz zum Germanen unterscheidet streng zwischen Adverbien und Adjektiven. „Il écrit bien“ und nie „il écrit bon“. Wäre es also möglich, zumindest theoretisch, dass die Formulierung „he writes good“ ein Überbleibsel des angelsächsischen Instinkts ist?
Ja, so wollte ich meinen Fehler rechtfertigen.
Alles Quatsch. Fakt ist: Ich habe, als ich über Philip Roth lästerte, falsches Englisch gesprochen und das wiederum nur, weil ich zwischen den Sprachen lebe. Ich habe nämlich einen deutschen Satz mit englischen Vokabeln wiedergeben. Sprachwissenschaftler nennen dieses Phänomen „Interferenz“.
Ich lebe zwischen den Sprachen, und allmählich beherrsche ich, so denk ich, keine Sprache mehr.
So wirkt der Fluch der Zweisprachigkeit.
Ich ging aus der Bäckerei, das gekaufte Brot in meiner Einkaufstasche verstaut, die üblichen Gedanken in den Sinn: Wird es bald wieder, also genau 75 Jahre nach dem Anfang des Zweiten und 100 Jahre nach dem Anfang des Ersten Weltkriegs, Krieg geben? Wird die Nato die Ukrainer bewaffnen, sodass die Russen, um das Gesicht zu bewahren, eine unkluge Gegenoffensive in Angriff nehmen werden? Oder: Werden die Wirrköpfe des sog. Islamischen Staates, um ihren Dschihad gegen die Ungläubigen auf die Spitze zu treiben, mit Pest infizierte Mäuse in die U-Bahnschächte diverser Großstädte Europas und in Fußballstadien entsenden?
Die üblichen Gedanken eines nachdenklichen Menschen im heutigen Europa.
Vor der Bäckerei sah ich plötzlich ein Kinderbuggy. Ein Knabe, er durfte vielleicht anderthalb Jahre alt sein, schaute mich mit großen Augen an, riss mit einer einzigen forschen Bewegung seinen Schnuller aus dem Mund und zeigte nachdrücklich auf einen Dackel, der neben dem Buggy hockte.
„A Wauwau!“, deklarierte das Kleinkind, das eines Tages, wenn es groß wird, vielleicht Ihr Vermieter sein wird und Sie wegen Eigenbedarfs auf die Straße setzen wird.
Jetzt aber war der Bub noch sehr klein und interessierte sich, wie es mir schien, ausschließlich für die spannenden Möglichkeiten der verbalen Kommunikation.
Was will er mit der Aussage, „A Wauwau!“, mitteilen? überlegte ich.
Ganz einfach: „Schau! Ich bin da. Du bist da. Wir beide sind Menschen und können, wie ich feststelle, anhand von bestimmten beidseitig verstandenen Lauten miteinander kommunizieren. Ist das nicht großartig?“ Dass er ausgerechnet auf den Hund neben seinem Buggy zeigte, war unwesentlich. Wäre kein Hund dabei gewesen, hätte er vielleicht auf einen Wagen gezeigt und „Auto!“ gerufen oder mir seinen Schnuller mit den passenden Lauten präsentiert.
Doch warum sagte er „Wauwau“ und nicht „Hund“? Natürlich weiß ich die Antwort. Weil seine Eltern oder Großeltern mit ihm „Baby-Talk“ reden. „Gib Wauwau Küßi…“ usw.
„A Wauwau“, deklarierte das forsche Kind.
„Ja“, antwortete der pedantische Pädagoge, „ein Hund.“
Mit Sicherheit hat ein kleiner Knirps am Anfang seiner Karriere als Redender Probleme, „Hund“ zu sagen. Die richtige Aussprache dieses Wortes erfordert nämlich einen komplexen Bewegungsablauf von Lippen und Zunge. „Wauwau“ kann ein unerfahrener Mund viel leichter über die Lippen bringen.
Babys und Kleinkinder müssen nämlich lang üben, bis sie bestimmte Lautfolgen auf die Reihe bekommen.
Mein ältester Sohn sagte, z.B., „Nana“ und meinte damit „Mama“. Das „N“ beherrschte er, bevor er „M“ sagen konnte. Er war aber zweifellos überzeugt, dass sein „Nana“ korrekt war. Sein Bruder wiederum hatte Schwierigkeiten mit der Aussprache des englischen „L“. Aus „little“ machte er „uittle“, auch er überzeugt, dass er das Wort richtig artikuliert hatte. Es wäre für meine Frau und mich einfach gewesen, die falsche Aussprache der Kinder nachzumachen, um daraus eine „Familiensprache“ zu gründen. Somit hätten wir Baby-Talk zur Standardsprache gemacht. Wir blieben aber stur und sagten weiterhin „Mama“ und „little“. Bis zur Abitur werden die Kinder diese Wörter meistern, dachten wir.
Vielleicht deshalb werden unsere Kinder niemals der Vermieter werden, der Sie wegen Eigenbedarfs aus der Wohnung, in der Sie 30 Jahre lebten, rausschmeißen.
Und vielleicht deshalb werden unsere Söhne niemals, um das Gesicht zu bewahren, einen großen Krieg vom Zaun brechen oder verpestete Mäuse in die U-Bahn loslassen.
Was ich sagen will: Wer mit seinen Kindern Baby-Talk spricht, bringt ihnen eine falsche Vorstellung von der Realität bei. Jeder weiß, wohin falsche Vorstellungen führen können.
Die Erkenntnis kam im Lauf eines ausgesprochen unanständigen Gedanken: Hat der durchgeknallte „Dschihadi John“ die Hinrichtung des Fotografen James Foley als „Selfie“ inszeniert?
Ich glaube es nicht. Trotzdem: Dieser ungebührliche Gedanke wurde mir zum Anlass, über das sich rasant ausbreitende Modewort „Selfie“ zu sinnen.
Mit dem Resultat, dass ich Ihnen heute, so sehr es mich grämt, eine (für manche) schlechte Nachricht überbringen werde:
Das Wort „Selfie“ ist ein Auslaufmodell. Schon jetzt ist es totkrank.
Wie schlecht es um das „Selfie“ bestellt ist, merken Sie vielleicht noch nicht. Denn der Bremsweg eines viral gegangenen Modewortes ist lang – ähnlich wie wenn man am offenen See die Bremse zieht, um ein mehrere-Stockwerke-höhes Kreuzfahrtschiff zum Stillstand zu bringen.
Das „Selfie“ wird bald so sehr von gestern sein wie die glatt rasierte Leistengegend oder wie die einst allgegenwärtigen Baggy-Pants oder wie die bunten Tätowierungen am männlichen und weiblichen Gesäß, Arm,Bauch, Rücken usw.
Zu bemerken: Die Rede ist nur vom Modewort. Das Selbstporträt selbst („Selfie“ ist bloß eine Abkürzung des englischen „self-portrait“) wird nie verschwinden. Kann nicht. Auch die anzüglichen Selbstaufnahmen bleiben uns erhalten. Wer will, darf weiterhin lustige Selbstbildnisse von feuchtfröhlichen Abenden, von primären und sekundären Geschlechtsmerkmale etc. ungehindert an Freunde und Fremde über die soziale Netzwerke verschicken.
Why not?
Man wird lediglich aufhören, solche Aufnahmen „Selfies“ zu nennen. Schon jetzt klingt das Wort ein bisschen altbacken: das Schicksal aller Modewörter halt. Das Phänomen des Selbstporträts (in allen Formen) hat’s hingegen schon immer gegeben. Denken Sie an Dürer, Van Gogh, Cindy Sherman, oder daran, was Jugendliche früher in Fotoautomaten ablichteten.
Auch ich mache seit vielen Jahren Selbstbildnisse – meistens wenn ich auf langer Reise bin – oft im Flugzeug-WC oder im fremden Hotelzimmer – Selbstaufnahmen als Ausdruck einer gefühlten Einsamkeit oder Verfremdung.
Als ich Anfang dieses Jahres mittels des Schwenkmonitors meiner neuen Kompaktkamera Freund A. und mich porträtierte, zeigte ich die Bilder hinterher der lieben E.
„Ach, du hast Selfies gemacht!“ sagte sie.
„Was hab ich gemacht?“
Okay, ich gebe zu. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich halte meinen Finger nicht mehr an den Puls der Zeit.
2013 wurde „Selfie“, so habe ich gelesen, vom Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres erklärt. Ein schlechtes Zeichen. Wenn sich ein ehemals ernst zu nehmendes Wörterbuch derart einschleimt, kann es nie Gutes heißen, zumal der Begriff erst 2012 viral gegangen war. Der Einfluss der sozialen Netzwerke. Ein Konsumwort halt.
Die Zeichen des Verfalls werden aber immer offensichtlicher. Beispiel: Der US-Fotograf David Slater reichte einem Affen einen Fotoapparat (oder war es ein Handy?). Und siehe da! Der smarte Affe machte von sich bald „Selfies“. Slater zeigte diese Affen-Bilder anschließend im Internet. Doch bald wurden sie gekapert und landeten in den sozialen Netzwerken, wo sie viral gingen. Um seine Rechte über die Veröffentlichung der Bilder zu schützen, zog der Fotograf nun vors Gericht. Das Gericht aber widerlegte seinen Anspruch mit der Begründung: Es gibt kein Copyright auf von Tieren angefertigten Selbstporträts.
Auch die Kulturkritiker machen sich inzwischen Gedanken über das „Selfie“. Martin Meyer, zum Beispiel, Feuilletonchef der NZZ kommentierte über diese „Darstellung des Selbst“: „Dieses Selbst ist in der Regel substanzmäßig von atemberaubender Durchschnittlichkeit.“ Clever, nicht wahr?
Inzwischen sind auch diverse Trittbrettfahrerbegriffe aufgetaucht: das „ussie“ (vom englischen „us“), z.B., und das „wefie“ (sprich uiefie – von „we“).
So viel bemühte Aufmerksamkeit der Medien war schon immer Gift für Modeerscheinungen, ein sicheres Zeichen, meine ich, dass das Wort bald nur noch lahm und peinlich klingen kann. Ein Wort, das nur Alternde noch wagen werden, über die Lippen zu bringen.
Ja, so ist es, wenn etwas viral geht. Wie Ebola halt. Here today, gone tomorrow.
„Schatz, reichst du mir bitte das ‚Wohlfühlen‘.“
„Was für Fühlen, bitte?“
„Den SZ-Sonderteil, der neben dir auf dem Sofatisch liegt. Der mit der hübschen Badenixe auf dem Titelblatt. Ist sie nicht süß? So sah ich aus, als du mich heiratetest. Kannst du dich noch erinnern?“
„Hier, dein Heft.“
„Sieht sie nicht aus wie ich damals?“
„Ja, ja.“
„Ich merke schon. Du bist mit den Gedanken ganz wo anders.“
„Bitte, Mäuschen, wir können später reden. Okay? Ich will jetzt meine neue Spielkonsole ausprobieren, weißt du. So was Geiles hast du noch nie gesehen. Schau: Ich setze die Virtual-Reality-Brille auf die Augen, den Kopfhörer über die Ohren, halte die Griffe fest und zack! Bin ich ganz woanders.“
„Wo dann? Hallo? Hörst du mich nicht? Nein, der hört mich nicht mehr. Ach, Männer, immer müssen sie spielen. Sie sind wie Kinder.“ (Sie blättert in ihrem „Wohlfühlen“ und vergisst die Welt).
Aber wo ist ihr Schatz? Antwort: Er ist, um einen Vertreter der Branche zu zitieren, den ich im Fernsehen auf der Gamescom-Messe sprechen hörte, „abgekoppelt von der Wirklichkeit“.
Noch präziser: Er befindet sich momentan auf einer Anhöhe, die in der Abenddämmerung dunkelgrün leuchtet. Unten wütet der Krieg. Zwei Armeen, die der Guten und die der Bösen, liefern sich eine heftige Schlacht.
Der Schatz gehört zu der obersten Heeresleitung der Guten und ist eigens für die Kampfstrategie zuständig. Was er befiehlt, wird gleichsam per Fingerdruck ausgeführt.
Hier wird keine Schlacht ausgeführt wie bei einem uns bekannten heutigen Krieg. Das, was hier auf dem Schlachtfeld geschieht, mutet vielmehr altertümlich an. Als kämpften römische Soldaten gegen Barbaren. Wir befinden uns aber in der Zukunft. Die Soldaten, zumindest die guten, tragen eine goldfarbige Rüstung und fliegen durch die Luft – scheinbar mittels Willenskraft. Denn nirgends erblickt man einen Antriebsmotor, der sie befördert. Im Übrigen sind alle Krieger maskiert wie Gladiatoren. Ihre Waffen scheinen eine Art Laserpistole zu sein. Gelbe Strahlen blitzen im Zwielicht.
Im Moment sieht es aber so aus, als würden die Barbaren die Oberhand gewinnen. Kann es sein, dass in dieser unbekannten Welt das Böse übers Gute siegen wird? Das will der Schatz natürlich nicht zulassen. Aber was tun?
„General, es ist Zeit“, sagt ein maskierter Offizier, der neben ihm steht. Auch dieser trägt eine Rüstung, sein Gesicht steckt unter einer Maske. „Sie müssen unbedingt den Würgeengel aufrufen.“
„Den Würgeengel? Aber wie mache ich das?“ fragt der Schatz. Es irritiert ihn, dass er seine Unerfahrenheit preisgegeben hat.
Ohnehin eine dumme Frage. Er schaut nach links, oben im grauen Himmel, und schon erspäht er in der Ferne ein fahles Licht. Instinktiv drückt er mit der linken Hand auf den Griff. Und siehe da! Neben ihm steht schon eine große, schattige Figur, sie ist in einem dunklen Gewand eingehüllt, das Gesicht verschleiert.
„Du hast mich gerufen?“ sagt der Würgeengel.
„O Würgeengel, der Feind gewinnt allmählich die Oberhand, und ich fürchte bereits das Schlimmste.“
„Das Schlimmste? Was ist dir denn schlimmer“, fragt der Würgeengel, „die Niederlage deines Heeres oder eine Reise in die dunkle Welt?“
Die anderen Offiziere der Heeresleitung richten ihre Aufmerksamkeit auf den Schatz und warten neugierig auf seine Antwort. Es ist klar, wie er zu entscheiden hat. „Schlimmer ist die Niederlage meines Heeres“, sagt er pflichtbewusst, und gleich bereut er, dass er diesen Satz über die Lippen gebracht hat. Denn unversehens wirft der Würgeengel sein Gewand um den Schatz, und der Schatz erlebt auf einmal eine Finsternis, die schwärzer ist, als die schwärzeste Nacht seines Lebens. „Geil, diese Brille“, denkt er.
Aber wo ist er jetzt? Das Spiel scheint aus zu sein, er sieht jedenfalls nichts und weiß nicht, wie er diese Finsternis, in der er sich befindet, entkommen soll. Er drückt auf die Griffe. Sie scheinen blockiert zu sein. „Würgeengel?“, ruft er. Doch keine Antwort. „Mäuschen?“ ruft er. Keine Antwort. „Wo bin ich?“ fragt der Schatz. Wieder keine Antwort.
Auch ich habe keine Antwort auf diese letzte Frage.
Wer hat die Glasfaserkabel in Berlin durchschnitten – mit dem Ergebnis, dass 160.000-Haushalte urplötzlich ohne Internet – und Telefon – waren?
Ich weiß es.
Es war Al Kaida, der ISIS oder so was Ähnliches.
Ich bin so sicher, weil ich ungefähr zur gleichen Zeit folgenden Kommentar auf einen Sprachbloggeur-Beitrag im Verwaltungsabteil dieser Webseite vorfand. Ich zitiere: „Ich denke nicht, dass Al Kaida nur die Amerikaner bedroht. Ihre Reichweite ist weltweit, und sie greifen viele Städte an, die sich außerhalb Amerika befindet. Die anderen Länder werden angegriffen freilich, weil sie Unterstützung von Amerika bekommen. Hüttenkäse.“
Habe ich vielleicht eine Geheimbotschaft erhalten? Eine Warnung? Das war mein erster Gedanke.
Erst recht wegen des Wortes Hüttenkäse.
Alles der Reihe nach. Hier jetzt die Fakten, wie ich sie bisher erlebte:
1.) Oben zitierte Kommentar war eigentlich englischsprachig und hatte die Überschrift: „I don’t think that Al Qaeda is a threat…“ Ich habe den Text selbst ins Deutsch übersetzt.
2.) Wenn ich solche genehmigungspflichtige Kommentare bekomme (erst recht, wenn sie in englischer Sprache sind), lösche ich sie normalerweise umgehend. Denn die Erfahrung lehrt mich: Es handelt sich immer um Schleichwerbung, „Phishing“-Angebote, virtuelles Ungeziefer usw.
Im obigen erwähnten Fall war das Wort „Hüttenkäse“ (auf Englisch „curd cheese“) der klarer Hinweis, dass ich einen Phisher etc. geangelt hatte. Nicht nur wegen der verkorksten Textlogik, sondern weil der Begriff „curd cheese“ als Hypertextlink leuchtete. Hätte jemand absichtlich oder versehentlich auf den Link geklickt, ist es denkbar, dass der eigene Rechner in die Luft gegangen wäre – oder noch Schlimmeres. Wer weiß?
Es handelte sich zwar eindeutig um Phishing etc. Trotzdem war ich überzeugt, dass ich eine geheime Botschaft erhalten hatte – und zwar von den Cyberkriminellen selbst. Sie wollten nämlich vor einer drohenden Katastrophe warnen.
Wie kam ich auf diese Idee? Ganz einfach:
Wenn unbekannte „Vandalen“ so mühelos in der Lage sind, 160.000 Haushalte in Berlin vom Netz abzutrennen, was würde passieren, wenn zeitgleich in verschiedenen Städte lauter unbekannte „Vandalen“ Glasfaserkabel durchtrennten?
Ich kann Ihnen sagen, was passieren würde: Die Cyberkriminellen, die gerne meine und andere Webseiten mit Scheinkommentaren vermüllen, wären auf der Stelle arbeitslos.
Denn die Cyberkriminalität ist von einer gutfunktionierenden elektronischen Infrastruktur abhängig. Cyberkriminellen sind im Grunde Wohlstandsparasiten.
Wer die Glasfaserkabel in Berlin durchschnitt, drohte also ein gutes Geschäft zu killen.
Vielleicht waren die Täter nicht von Al Kaida, ISIS usw. Doch wer auch immer es waren, sie meinten es mit Sicherheit nicht gut mit uns.
Ja, eines Tages werden uns unsere Cyberkriminellen fehlen – ich meine: solange es so einfach ist, Glasfaserkabel zu durchtrennen.
Trickdieb: Hallöchen! Rate mal, wer am Telefon ist.
Irmgard: Bist du es, Horst, oder ist das jemand, der mich mit dem Enkelkindtrick übers Ohr hauen will?
Trickdieb: Haha. Du bist ja lustig. Ich bin’s natürlich, der Horst. Wie kommst du auf diese Enkelkindnummer?
Irmgard: Heutzutage muss man alles hinterfragen. So, so, du bist es also doch, Horst.
Trickdieb: Ja, ämm, Oma, ich bin’s, der lieber Horst.
Irmgard: Schön, mein Junger. Und wie geht’s der Hanni?
Trickdieb: Oh, bestens.
Irmgard: In welcher Klasse ist sie denn, das Schätzchen?
Trickdieb: Ämmm, in der vierten, Omi.
Irmgard: Mei, wie die Zeit vergeht, gell? Pass mal auf, Horsti, es ist gut, dass du grad eben anrufst, weißt du.
Trickdieb: Ach ja? Wieso?
Irmgard: Ja, es ist irgendwie wie Gedankenübertragung. Denn eben wollte ich dich anrufen. Hör mal, ich hab’s mir überlegt. Man wird älter, und ich wollte Dir schon jetzt ein Geldgeschenk machen, Horsti – aus steuerlichen Gründen, verstehst du.
Trickdieb:Aber Omi. Was du nicht sagst. Soll ich bei dir vielleicht vorbeikommen? Ich könnte das Geld gleich abholen. Nein, warte mal. Ich schaffe es nicht. Hab einen Termin – ämm, im Ausland. Ich könnte aber meine, ääää, Sekretärin vorbeischicken. Einverstanden?
Irmgard: Das ist sehr zuvorkommend von dir, liebes Kind, aber ich hab es mir anders vorgestellt. Ich wollte dir das Geld aufs Konto überweisen. Ämmm, aus steuerlichen Gründen, verstehst du? Gibst du mir am besten deine Kontonummer – in SEPA natürlich.
Trickdieb: Bist du sicher, Oma? Ich meine, meine Sekretärin könnte binnen einer Stunde vorbeikommen. Sie hat Zeit. Dann könntet ihr gemeinsam auf die Bank gehen. Und schnell ist die Sache erledigt. Was hältst du davon?
Irmgard: Nein, lieber Horsti, das geht leider nicht. Ach, ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich das Geld aufs Konto deiner Sekretärin überweise? Auch das wäre für mich steuerlich von Vorteil. Was meinst du?
Trickdieb: Ämmm, Augenblick. Ich frage sie. (Pause). Ja, Oma, sie ist einverstanden. Nur: Sie hat ihr Bankkonto in Polen, weißt du. Ist das ein Problem für dich?
Irmgard: Aber wo. Geht‘s ebenso gut. Ich bräuchte aber ihren vollständigen Namen, die IBAN, den BIC und ja, zur Sicherheit ihre Kreditkartennummer. Die ist nämlich sehr wichtig. Und nicht vergessen: mit den drei Kontrollzahlen.
Trickdieb: Muss das alles sein, Oma?
Irmgard: Horsti, du kennst deine alte Omi, oder?
Trickdieb: Aber ja, Omi.
Irmgard: Also los, mein Junger.
Trickdieb: Sie heißt Oliwia Borszowski. Ich buchstabiere…
Ja, liebe Lesende, Sie haben es schon erraten. Irmgard ist hier die bessere Gaunerin, eine geübte Identitätsdiebin. Mit den Daten, die sie vom Trickdieb „Horst“ bekommt, wird sie Oliwia Borszowskis Identität klauen und damit viel Unheil anrichten. Selbstverständlich wird Oma Irmgard kein Geld aufs Konto von Oliwia überweisen. Im Gegenteil. Sie wird Oliwia Borszowskis Konto plündern.
Natürlich hat sie kein Enkelkind namens Horst. Nachdem sie auflegt, sagt sie in lauter Stimme: „Arschgeige. Ich kenne niemanden, der Horst heißt.“
Darf ein Ausländer (damit meine ich mich) Deutschfehler von Muttersprachlern aufdecken und anprangern?
Schließlich sind auch meine Deutschkenntnisse nicht gerade fehlerfrei – obwohl ich länger in Deutschland lebe als manche meiner Leser alt sind.
In diesem Fall will ich aber unbedingt einen gewissen Fehler aufdecken. Es geht um ein Wort, das ich vor dem sonst sicheren Tod bewahren möchte: „gleichsam“.
Mit Verlaub…
Folgenden Satz (genauer gesagt: Bildunterschrift) las ich letzter Woche im „Spiegel-Online. Das Thema war „Film-Noir-Produktionen“. Ich zitiere:
„In Charles Laughtons verstörend poetischem Film spielt Robert Mitchum einen gleichsam grauenerregenden wie betörenden Buhmann, der die Kinder einer ländlichen Familie in Angst und Schrecken versetzt.“
Stört Sie etwas an diesem Satz?
Mich schon. Ich war nämlich überzeugt, dass hier „gleichsam“ falsch verwendet wurde.
Ich gebe zu: Ich habe ein schwieriges Verhältnis zu diesem Wort. Egal wie sehr ich mich bemühe, den Sinn einzuprägen und es in meinen Sätzen einzubauen, kommt es mir fremd vor. Dem Duden zufolge bedeutet „gleichsam“ „sozusagen“, „gewissermaßen“, „wie“. Trotzdem: „Das ist sozusagen mein Schicksal“ klingt in meinen Ohren stets richtiger als „Das ist gleichsam mein Schicksal“.
Erst als ich Karl Jaspers „Über die Wahrheit“ las – er verwendet dieses Wort nämlich unentwegt –hatte ich endlich mein Aha-Erlebnis.
Ich stellte nämlich nach genauer Untersuchung fest, dass dieses „gleichsam“ gleichbedeutend mit „quasi“ ist. Jedes „quasi“ kann mit einem „gleichsam“ ersetzt werden – und dieses „gleichsam“ wird 100%ig richtig sein. Ja, diese Erkenntnis war gleichsam eine Erlösung.
Happy end? Leider nicht. Denn nun stieß ich auf den obigen zitierten Satz im Spiegel – und fühlte mich erneut verunsichert. Hat der Autor (die Autorin) einen Sprachfehler gemacht, fragte ich mich, oder wird „gleichsam“ vielleicht manchmal auch anders verwendet und bedeutet nicht nur „quasi“, wie ich dachte?
Aber wen fragen? Leider lebt mein Sprachguru Ernst-Theo nicht mehr (in diesem Jahr wäre er 100 geworden). Zum Glück gibt es aber in meinem Bekanntenkreis Freund Karl. Er ist ein ebenso feinfühliger Kenner der deutschen Sprache wie einst Ernst-Theo. Also rief ich Karl an.
„Ja, du hast recht“, sagte er mir. „Der Autor dieses Satzes benutzt das Wort als würde es ‚ebenso‘ bedeuten. Das kommt aber daher, dass ‚gleichsam‘ zunehmend vernachlässigt wird. Man vergisst den Sinn, erfindet dann aus Übermut neue. Vielleicht wird sich eines Tages die eine oder andere neue Bedeutung durchsetzen. Wäre aber Schade. Ich denke aber, ‚gleichsam‘ klingt fürs heutige deutsche Ohr zu sanft. Man bevorzugt deshalb ‚quasi‘ und ‚sozusagen‘. Sie wirken bestimmender. Übrigens: Die Vokabel ‚sam‘ bedeutete im älteren Deutsch ‚wie‘ – ist mit dem englischen ‚same‘ verwandt. Wenn man früher ‚gleichsam‘ sagte, verstand man ‚gleich wie‘. Diese einleuchtende Verknüpfung ist freilich längst vergessen.“
So viel zu Karls Erklärung. Ich aber war glücklich, dass ich einen so subtilen Sprachfehler aufgedeckt hatte. Umso mehr tut mir das Wort „gleichsam“ leid.
Daher möchte ich Ihnen, liebe Lesende, ans Herz legen, ein Herz für „gleichsam“ zu haben. Benutzen Sie dieses hübsche Wörtchen häufig. Sonst wird es eines Tages völlig aus der Sprache verschwinden – oder nur im Sinne von „ebenso“ oder Ähnlichem überleben.
Bald ist Weihnachten (ja, so schnell vergeht die Zeit). Auch die eigene Muttersprache lässt sich gern beschenken.
Recent comments