Eine kurze Anekdote über einen Menschen, der zwischen den Sprachen lebt. Damit meine ich natürlich mich.
Wollte ich jemanden verfluchen, würde ich ihm wünschen, er möge zwischen den Sprachen leben.
Es passierte vielleicht vor etwa zwei Wochen. Ich hatte zwei kurze Romane von Philip Roth gelesen: auf Englisch, meine Muttersprache.
Nebenbei: Ich gehe davon aus, dass die meisten Leser den Namen „Roth“ wie die gleichlautende Farbe aussprechen, obwohl der Vokal „o“ in diesem Namen auf Englisch eher dem deutschen Doppellaut „ou“ – wenn man ihn besonders kurz spricht – ähnelt, zu dem man dann ein stimmloses „th“ wie in „think“ anhängt.
Das mit den Vokalen ist eine knifflige Sache, und manches lässt sich mithin von Sprache zu Sprache nicht 100prozentig übertragen. So fangen die Probleme an.
Ich hatte, „Everyman“ und „The Dying Animal“ gelesen. Ich kenne die deutschen Titel nicht.
Ich halte Roth für einen sehr kompetenten Schriftsteller. Er beherrscht sein Handwerk ausgezeichnet, und ich lese ihn deshalb gern. Lediglich sein Bedürfnis, das Aussehen der primären Geschlechtsteile von jungen Frauen zu schildern und die sexuelle Gymnastik eines 60jährigen Mann mit einer blutjungen Frau zu huldigen, finde ich überflüssig. Aber jedes Tierchen…
Eines Samstagmorgens teilte ich meiner Frau meine Eindrücke über Philip Roth mit. Ich sollte vielleicht erklären: Meine deutsche Frau und ich reden miteinander Englisch. Das hat sich vor vielen Jahren einfach so ergeben. Auch mit meinen Söhnen spreche ich Englisch. Ich sagte zu meiner Frau, nachdem ich ihr gegenüber Philip Roths Schweinkram in Frage gestellt hatte: „Still, I think he writes good.“
Kurze Pause. „Soll das nicht heißen“, fragte meine Frau, „he writes well?“
Hoppla dachte ich. Natürlich muss es heißen „he writes well“. „Well“ ist Adverb und antwortet die Frage: Wie schreibt er?, während „Good“ Adjektiv ist und einen Nomen beschreiben muss. Etwa: „He is a good writer“.
Doch schnell suchte ich nach einem Grund, mein falsches Englisch zu rechtfertigen. So sind die Menschen, wenn sie Fehler nicht zugeben. „Ja schon“, antwortete ich mit einem Ton der leichten Überheblichkeit. „In der Umgangssprache sagt man auch ‚good‘, weil es überzeugender klingt als ‚well‘. Außerdem: So redeten wir in New York als Kinder auf der Straße.“
Das stimmt auch. In der New Yorker Umgangssprache wäre eine derartige Konstruktion durchaus passend gewesen.
Mir war aber klar, dass ich nur schummelte. Später stellte ich Google die Frage: „well“ oder „good“? Das digitale Orakel antwortete sofort: „Well“. Problem gelöst? Natürlich nicht.
Denn nun überlegte ich: Englisch und Deutsch sind beide germanische Sprachen. Auf Deutsch heißt es „er schreibt gut“ und nie „er schreibt wohl“ (ha ha). Kann es sein, dass man auch im alten Englischen „he writes good“ und nicht „he writes well“ sagte? Denn das heutige Englisch ist seit der Invasion der Normanen 1066 eine Mischsprache, teils Angelsächsisch, teils Französisch. Und jeder weiß: Der Franzose, im Gegensatz zum Germanen unterscheidet streng zwischen Adverbien und Adjektiven. „Il écrit bien“ und nie „il écrit bon“. Wäre es also möglich, zumindest theoretisch, dass die Formulierung „he writes good“ ein Überbleibsel des angelsächsischen Instinkts ist?
Ja, so wollte ich meinen Fehler rechtfertigen.
Alles Quatsch. Fakt ist: Ich habe, als ich über Philip Roth lästerte, falsches Englisch gesprochen und das wiederum nur, weil ich zwischen den Sprachen lebe. Ich habe nämlich einen deutschen Satz mit englischen Vokabeln wiedergeben. Sprachwissenschaftler nennen dieses Phänomen „Interferenz“.
Ich lebe zwischen den Sprachen, und allmählich beherrsche ich, so denk ich, keine Sprache mehr.
So wirkt der Fluch der Zweisprachigkeit.
Ich ging aus der Bäckerei, das gekaufte Brot in meiner Einkaufstasche verstaut, die üblichen Gedanken in den Sinn: Wird es bald wieder, also genau 75 Jahre nach dem Anfang des Zweiten und 100 Jahre nach dem Anfang des Ersten Weltkriegs, Krieg geben? Wird die Nato die Ukrainer bewaffnen, sodass die Russen, um das Gesicht zu bewahren, eine unkluge Gegenoffensive in Angriff nehmen werden? Oder: Werden die Wirrköpfe des sog. Islamischen Staates, um ihren Dschihad gegen die Ungläubigen auf die Spitze zu treiben, mit Pest infizierte Mäuse in die U-Bahnschächte diverser Großstädte Europas und in Fußballstadien entsenden?
Die üblichen Gedanken eines nachdenklichen Menschen im heutigen Europa.
Vor der Bäckerei sah ich plötzlich ein Kinderbuggy. Ein Knabe, er durfte vielleicht anderthalb Jahre alt sein, schaute mich mit großen Augen an, riss mit einer einzigen forschen Bewegung seinen Schnuller aus dem Mund und zeigte nachdrücklich auf einen Dackel, der neben dem Buggy hockte.
„A Wauwau!“, deklarierte das Kleinkind, das eines Tages, wenn es groß wird, vielleicht Ihr Vermieter sein wird und Sie wegen Eigenbedarfs auf die Straße setzen wird.
Jetzt aber war der Bub noch sehr klein und interessierte sich, wie es mir schien, ausschließlich für die spannenden Möglichkeiten der verbalen Kommunikation.
Was will er mit der Aussage, „A Wauwau!“, mitteilen? überlegte ich.
Ganz einfach: „Schau! Ich bin da. Du bist da. Wir beide sind Menschen und können, wie ich feststelle, anhand von bestimmten beidseitig verstandenen Lauten miteinander kommunizieren. Ist das nicht großartig?“ Dass er ausgerechnet auf den Hund neben seinem Buggy zeigte, war unwesentlich. Wäre kein Hund dabei gewesen, hätte er vielleicht auf einen Wagen gezeigt und „Auto!“ gerufen oder mir seinen Schnuller mit den passenden Lauten präsentiert.
Doch warum sagte er „Wauwau“ und nicht „Hund“? Natürlich weiß ich die Antwort. Weil seine Eltern oder Großeltern mit ihm „Baby-Talk“ reden. „Gib Wauwau Küßi…“ usw.
„A Wauwau“, deklarierte das forsche Kind.
„Ja“, antwortete der pedantische Pädagoge, „ein Hund.“
Mit Sicherheit hat ein kleiner Knirps am Anfang seiner Karriere als Redender Probleme, „Hund“ zu sagen. Die richtige Aussprache dieses Wortes erfordert nämlich einen komplexen Bewegungsablauf von Lippen und Zunge. „Wauwau“ kann ein unerfahrener Mund viel leichter über die Lippen bringen.
Babys und Kleinkinder müssen nämlich lang üben, bis sie bestimmte Lautfolgen auf die Reihe bekommen.
Mein ältester Sohn sagte, z.B., „Nana“ und meinte damit „Mama“. Das „N“ beherrschte er, bevor er „M“ sagen konnte. Er war aber zweifellos überzeugt, dass sein „Nana“ korrekt war. Sein Bruder wiederum hatte Schwierigkeiten mit der Aussprache des englischen „L“. Aus „little“ machte er „uittle“, auch er überzeugt, dass er das Wort richtig artikuliert hatte. Es wäre für meine Frau und mich einfach gewesen, die falsche Aussprache der Kinder nachzumachen, um daraus eine „Familiensprache“ zu gründen. Somit hätten wir Baby-Talk zur Standardsprache gemacht. Wir blieben aber stur und sagten weiterhin „Mama“ und „little“. Bis zur Abitur werden die Kinder diese Wörter meistern, dachten wir.
Vielleicht deshalb werden unsere Kinder niemals der Vermieter werden, der Sie wegen Eigenbedarfs aus der Wohnung, in der Sie 30 Jahre lebten, rausschmeißen.
Und vielleicht deshalb werden unsere Söhne niemals, um das Gesicht zu bewahren, einen großen Krieg vom Zaun brechen oder verpestete Mäuse in die U-Bahn loslassen.
Was ich sagen will: Wer mit seinen Kindern Baby-Talk spricht, bringt ihnen eine falsche Vorstellung von der Realität bei. Jeder weiß, wohin falsche Vorstellungen führen können.
Die Erkenntnis kam im Lauf eines ausgesprochen unanständigen Gedanken: Hat der durchgeknallte „Dschihadi John“ die Hinrichtung des Fotografen James Foley als „Selfie“ inszeniert?
Ich glaube es nicht. Trotzdem: Dieser ungebührliche Gedanke wurde mir zum Anlass, über das sich rasant ausbreitende Modewort „Selfie“ zu sinnen.
Mit dem Resultat, dass ich Ihnen heute, so sehr es mich grämt, eine (für manche) schlechte Nachricht überbringen werde:
Das Wort „Selfie“ ist ein Auslaufmodell. Schon jetzt ist es totkrank.
Wie schlecht es um das „Selfie“ bestellt ist, merken Sie vielleicht noch nicht. Denn der Bremsweg eines viral gegangenen Modewortes ist lang – ähnlich wie wenn man am offenen See die Bremse zieht, um ein mehrere-Stockwerke-höhes Kreuzfahrtschiff zum Stillstand zu bringen.
Das „Selfie“ wird bald so sehr von gestern sein wie die glatt rasierte Leistengegend oder wie die einst allgegenwärtigen Baggy-Pants oder wie die bunten Tätowierungen am männlichen und weiblichen Gesäß, Arm,Bauch, Rücken usw.
Zu bemerken: Die Rede ist nur vom Modewort. Das Selbstporträt selbst („Selfie“ ist bloß eine Abkürzung des englischen „self-portrait“) wird nie verschwinden. Kann nicht. Auch die anzüglichen Selbstaufnahmen bleiben uns erhalten. Wer will, darf weiterhin lustige Selbstbildnisse von feuchtfröhlichen Abenden, von primären und sekundären Geschlechtsmerkmale etc. ungehindert an Freunde und Fremde über die soziale Netzwerke verschicken.
Why not?
Man wird lediglich aufhören, solche Aufnahmen „Selfies“ zu nennen. Schon jetzt klingt das Wort ein bisschen altbacken: das Schicksal aller Modewörter halt. Das Phänomen des Selbstporträts (in allen Formen) hat’s hingegen schon immer gegeben. Denken Sie an Dürer, Van Gogh, Cindy Sherman, oder daran, was Jugendliche früher in Fotoautomaten ablichteten.
Auch ich mache seit vielen Jahren Selbstbildnisse – meistens wenn ich auf langer Reise bin – oft im Flugzeug-WC oder im fremden Hotelzimmer – Selbstaufnahmen als Ausdruck einer gefühlten Einsamkeit oder Verfremdung.
Als ich Anfang dieses Jahres mittels des Schwenkmonitors meiner neuen Kompaktkamera Freund A. und mich porträtierte, zeigte ich die Bilder hinterher der lieben E.
„Ach, du hast Selfies gemacht!“ sagte sie.
„Was hab ich gemacht?“
Okay, ich gebe zu. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich halte meinen Finger nicht mehr an den Puls der Zeit.
2013 wurde „Selfie“, so habe ich gelesen, vom Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres erklärt. Ein schlechtes Zeichen. Wenn sich ein ehemals ernst zu nehmendes Wörterbuch derart einschleimt, kann es nie Gutes heißen, zumal der Begriff erst 2012 viral gegangen war. Der Einfluss der sozialen Netzwerke. Ein Konsumwort halt.
Die Zeichen des Verfalls werden aber immer offensichtlicher. Beispiel: Der US-Fotograf David Slater reichte einem Affen einen Fotoapparat (oder war es ein Handy?). Und siehe da! Der smarte Affe machte von sich bald „Selfies“. Slater zeigte diese Affen-Bilder anschließend im Internet. Doch bald wurden sie gekapert und landeten in den sozialen Netzwerken, wo sie viral gingen. Um seine Rechte über die Veröffentlichung der Bilder zu schützen, zog der Fotograf nun vors Gericht. Das Gericht aber widerlegte seinen Anspruch mit der Begründung: Es gibt kein Copyright auf von Tieren angefertigten Selbstporträts.
Auch die Kulturkritiker machen sich inzwischen Gedanken über das „Selfie“. Martin Meyer, zum Beispiel, Feuilletonchef der NZZ kommentierte über diese „Darstellung des Selbst“: „Dieses Selbst ist in der Regel substanzmäßig von atemberaubender Durchschnittlichkeit.“ Clever, nicht wahr?
Inzwischen sind auch diverse Trittbrettfahrerbegriffe aufgetaucht: das „ussie“ (vom englischen „us“), z.B., und das „wefie“ (sprich uiefie – von „we“).
So viel bemühte Aufmerksamkeit der Medien war schon immer Gift für Modeerscheinungen, ein sicheres Zeichen, meine ich, dass das Wort bald nur noch lahm und peinlich klingen kann. Ein Wort, das nur Alternde noch wagen werden, über die Lippen zu bringen.
Ja, so ist es, wenn etwas viral geht. Wie Ebola halt. Here today, gone tomorrow.
„Schatz, reichst du mir bitte das ‚Wohlfühlen‘.“
„Was für Fühlen, bitte?“
„Den SZ-Sonderteil, der neben dir auf dem Sofatisch liegt. Der mit der hübschen Badenixe auf dem Titelblatt. Ist sie nicht süß? So sah ich aus, als du mich heiratetest. Kannst du dich noch erinnern?“
„Hier, dein Heft.“
„Sieht sie nicht aus wie ich damals?“
„Ja, ja.“
„Ich merke schon. Du bist mit den Gedanken ganz wo anders.“
„Bitte, Mäuschen, wir können später reden. Okay? Ich will jetzt meine neue Spielkonsole ausprobieren, weißt du. So was Geiles hast du noch nie gesehen. Schau: Ich setze die Virtual-Reality-Brille auf die Augen, den Kopfhörer über die Ohren, halte die Griffe fest und zack! Bin ich ganz woanders.“
„Wo dann? Hallo? Hörst du mich nicht? Nein, der hört mich nicht mehr. Ach, Männer, immer müssen sie spielen. Sie sind wie Kinder.“ (Sie blättert in ihrem „Wohlfühlen“ und vergisst die Welt).
Aber wo ist ihr Schatz? Antwort: Er ist, um einen Vertreter der Branche zu zitieren, den ich im Fernsehen auf der Gamescom-Messe sprechen hörte, „abgekoppelt von der Wirklichkeit“.
Noch präziser: Er befindet sich momentan auf einer Anhöhe, die in der Abenddämmerung dunkelgrün leuchtet. Unten wütet der Krieg. Zwei Armeen, die der Guten und die der Bösen, liefern sich eine heftige Schlacht.
Der Schatz gehört zu der obersten Heeresleitung der Guten und ist eigens für die Kampfstrategie zuständig. Was er befiehlt, wird gleichsam per Fingerdruck ausgeführt.
Hier wird keine Schlacht ausgeführt wie bei einem uns bekannten heutigen Krieg. Das, was hier auf dem Schlachtfeld geschieht, mutet vielmehr altertümlich an. Als kämpften römische Soldaten gegen Barbaren. Wir befinden uns aber in der Zukunft. Die Soldaten, zumindest die guten, tragen eine goldfarbige Rüstung und fliegen durch die Luft – scheinbar mittels Willenskraft. Denn nirgends erblickt man einen Antriebsmotor, der sie befördert. Im Übrigen sind alle Krieger maskiert wie Gladiatoren. Ihre Waffen scheinen eine Art Laserpistole zu sein. Gelbe Strahlen blitzen im Zwielicht.
Im Moment sieht es aber so aus, als würden die Barbaren die Oberhand gewinnen. Kann es sein, dass in dieser unbekannten Welt das Böse übers Gute siegen wird? Das will der Schatz natürlich nicht zulassen. Aber was tun?
„General, es ist Zeit“, sagt ein maskierter Offizier, der neben ihm steht. Auch dieser trägt eine Rüstung, sein Gesicht steckt unter einer Maske. „Sie müssen unbedingt den Würgeengel aufrufen.“
„Den Würgeengel? Aber wie mache ich das?“ fragt der Schatz. Es irritiert ihn, dass er seine Unerfahrenheit preisgegeben hat.
Ohnehin eine dumme Frage. Er schaut nach links, oben im grauen Himmel, und schon erspäht er in der Ferne ein fahles Licht. Instinktiv drückt er mit der linken Hand auf den Griff. Und siehe da! Neben ihm steht schon eine große, schattige Figur, sie ist in einem dunklen Gewand eingehüllt, das Gesicht verschleiert.
„Du hast mich gerufen?“ sagt der Würgeengel.
„O Würgeengel, der Feind gewinnt allmählich die Oberhand, und ich fürchte bereits das Schlimmste.“
„Das Schlimmste? Was ist dir denn schlimmer“, fragt der Würgeengel, „die Niederlage deines Heeres oder eine Reise in die dunkle Welt?“
Die anderen Offiziere der Heeresleitung richten ihre Aufmerksamkeit auf den Schatz und warten neugierig auf seine Antwort. Es ist klar, wie er zu entscheiden hat. „Schlimmer ist die Niederlage meines Heeres“, sagt er pflichtbewusst, und gleich bereut er, dass er diesen Satz über die Lippen gebracht hat. Denn unversehens wirft der Würgeengel sein Gewand um den Schatz, und der Schatz erlebt auf einmal eine Finsternis, die schwärzer ist, als die schwärzeste Nacht seines Lebens. „Geil, diese Brille“, denkt er.
Aber wo ist er jetzt? Das Spiel scheint aus zu sein, er sieht jedenfalls nichts und weiß nicht, wie er diese Finsternis, in der er sich befindet, entkommen soll. Er drückt auf die Griffe. Sie scheinen blockiert zu sein. „Würgeengel?“, ruft er. Doch keine Antwort. „Mäuschen?“ ruft er. Keine Antwort. „Wo bin ich?“ fragt der Schatz. Wieder keine Antwort.
Auch ich habe keine Antwort auf diese letzte Frage.
Wer hat die Glasfaserkabel in Berlin durchschnitten – mit dem Ergebnis, dass 160.000-Haushalte urplötzlich ohne Internet – und Telefon – waren?
Ich weiß es.
Es war Al Kaida, der ISIS oder so was Ähnliches.
Ich bin so sicher, weil ich ungefähr zur gleichen Zeit folgenden Kommentar auf einen Sprachbloggeur-Beitrag im Verwaltungsabteil dieser Webseite vorfand. Ich zitiere: „Ich denke nicht, dass Al Kaida nur die Amerikaner bedroht. Ihre Reichweite ist weltweit, und sie greifen viele Städte an, die sich außerhalb Amerika befindet. Die anderen Länder werden angegriffen freilich, weil sie Unterstützung von Amerika bekommen. Hüttenkäse.“
Habe ich vielleicht eine Geheimbotschaft erhalten? Eine Warnung? Das war mein erster Gedanke.
Erst recht wegen des Wortes Hüttenkäse.
Alles der Reihe nach. Hier jetzt die Fakten, wie ich sie bisher erlebte:
1.) Oben zitierte Kommentar war eigentlich englischsprachig und hatte die Überschrift: „I don’t think that Al Qaeda is a threat…“ Ich habe den Text selbst ins Deutsch übersetzt.
2.) Wenn ich solche genehmigungspflichtige Kommentare bekomme (erst recht, wenn sie in englischer Sprache sind), lösche ich sie normalerweise umgehend. Denn die Erfahrung lehrt mich: Es handelt sich immer um Schleichwerbung, „Phishing“-Angebote, virtuelles Ungeziefer usw.
Im obigen erwähnten Fall war das Wort „Hüttenkäse“ (auf Englisch „curd cheese“) der klarer Hinweis, dass ich einen Phisher etc. geangelt hatte. Nicht nur wegen der verkorksten Textlogik, sondern weil der Begriff „curd cheese“ als Hypertextlink leuchtete. Hätte jemand absichtlich oder versehentlich auf den Link geklickt, ist es denkbar, dass der eigene Rechner in die Luft gegangen wäre – oder noch Schlimmeres. Wer weiß?
Es handelte sich zwar eindeutig um Phishing etc. Trotzdem war ich überzeugt, dass ich eine geheime Botschaft erhalten hatte – und zwar von den Cyberkriminellen selbst. Sie wollten nämlich vor einer drohenden Katastrophe warnen.
Wie kam ich auf diese Idee? Ganz einfach:
Wenn unbekannte „Vandalen“ so mühelos in der Lage sind, 160.000 Haushalte in Berlin vom Netz abzutrennen, was würde passieren, wenn zeitgleich in verschiedenen Städte lauter unbekannte „Vandalen“ Glasfaserkabel durchtrennten?
Ich kann Ihnen sagen, was passieren würde: Die Cyberkriminellen, die gerne meine und andere Webseiten mit Scheinkommentaren vermüllen, wären auf der Stelle arbeitslos.
Denn die Cyberkriminalität ist von einer gutfunktionierenden elektronischen Infrastruktur abhängig. Cyberkriminellen sind im Grunde Wohlstandsparasiten.
Wer die Glasfaserkabel in Berlin durchschnitt, drohte also ein gutes Geschäft zu killen.
Vielleicht waren die Täter nicht von Al Kaida, ISIS usw. Doch wer auch immer es waren, sie meinten es mit Sicherheit nicht gut mit uns.
Ja, eines Tages werden uns unsere Cyberkriminellen fehlen – ich meine: solange es so einfach ist, Glasfaserkabel zu durchtrennen.
Trickdieb: Hallöchen! Rate mal, wer am Telefon ist.
Irmgard: Bist du es, Horst, oder ist das jemand, der mich mit dem Enkelkindtrick übers Ohr hauen will?
Trickdieb: Haha. Du bist ja lustig. Ich bin’s natürlich, der Horst. Wie kommst du auf diese Enkelkindnummer?
Irmgard: Heutzutage muss man alles hinterfragen. So, so, du bist es also doch, Horst.
Trickdieb: Ja, ämm, Oma, ich bin’s, der lieber Horst.
Irmgard: Schön, mein Junger. Und wie geht’s der Hanni?
Trickdieb: Oh, bestens.
Irmgard: In welcher Klasse ist sie denn, das Schätzchen?
Trickdieb: Ämmm, in der vierten, Omi.
Irmgard: Mei, wie die Zeit vergeht, gell? Pass mal auf, Horsti, es ist gut, dass du grad eben anrufst, weißt du.
Trickdieb: Ach ja? Wieso?
Irmgard: Ja, es ist irgendwie wie Gedankenübertragung. Denn eben wollte ich dich anrufen. Hör mal, ich hab’s mir überlegt. Man wird älter, und ich wollte Dir schon jetzt ein Geldgeschenk machen, Horsti – aus steuerlichen Gründen, verstehst du.
Trickdieb:Aber Omi. Was du nicht sagst. Soll ich bei dir vielleicht vorbeikommen? Ich könnte das Geld gleich abholen. Nein, warte mal. Ich schaffe es nicht. Hab einen Termin – ämm, im Ausland. Ich könnte aber meine, ääää, Sekretärin vorbeischicken. Einverstanden?
Irmgard: Das ist sehr zuvorkommend von dir, liebes Kind, aber ich hab es mir anders vorgestellt. Ich wollte dir das Geld aufs Konto überweisen. Ämmm, aus steuerlichen Gründen, verstehst du? Gibst du mir am besten deine Kontonummer – in SEPA natürlich.
Trickdieb: Bist du sicher, Oma? Ich meine, meine Sekretärin könnte binnen einer Stunde vorbeikommen. Sie hat Zeit. Dann könntet ihr gemeinsam auf die Bank gehen. Und schnell ist die Sache erledigt. Was hältst du davon?
Irmgard: Nein, lieber Horsti, das geht leider nicht. Ach, ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich das Geld aufs Konto deiner Sekretärin überweise? Auch das wäre für mich steuerlich von Vorteil. Was meinst du?
Trickdieb: Ämmm, Augenblick. Ich frage sie. (Pause). Ja, Oma, sie ist einverstanden. Nur: Sie hat ihr Bankkonto in Polen, weißt du. Ist das ein Problem für dich?
Irmgard: Aber wo. Geht‘s ebenso gut. Ich bräuchte aber ihren vollständigen Namen, die IBAN, den BIC und ja, zur Sicherheit ihre Kreditkartennummer. Die ist nämlich sehr wichtig. Und nicht vergessen: mit den drei Kontrollzahlen.
Trickdieb: Muss das alles sein, Oma?
Irmgard: Horsti, du kennst deine alte Omi, oder?
Trickdieb: Aber ja, Omi.
Irmgard: Also los, mein Junger.
Trickdieb: Sie heißt Oliwia Borszowski. Ich buchstabiere…
Ja, liebe Lesende, Sie haben es schon erraten. Irmgard ist hier die bessere Gaunerin, eine geübte Identitätsdiebin. Mit den Daten, die sie vom Trickdieb „Horst“ bekommt, wird sie Oliwia Borszowskis Identität klauen und damit viel Unheil anrichten. Selbstverständlich wird Oma Irmgard kein Geld aufs Konto von Oliwia überweisen. Im Gegenteil. Sie wird Oliwia Borszowskis Konto plündern.
Natürlich hat sie kein Enkelkind namens Horst. Nachdem sie auflegt, sagt sie in lauter Stimme: „Arschgeige. Ich kenne niemanden, der Horst heißt.“
Darf ein Ausländer (damit meine ich mich) Deutschfehler von Muttersprachlern aufdecken und anprangern?
Schließlich sind auch meine Deutschkenntnisse nicht gerade fehlerfrei – obwohl ich länger in Deutschland lebe als manche meiner Leser alt sind.
In diesem Fall will ich aber unbedingt einen gewissen Fehler aufdecken. Es geht um ein Wort, das ich vor dem sonst sicheren Tod bewahren möchte: „gleichsam“.
Mit Verlaub…
Folgenden Satz (genauer gesagt: Bildunterschrift) las ich letzter Woche im „Spiegel-Online. Das Thema war „Film-Noir-Produktionen“. Ich zitiere:
„In Charles Laughtons verstörend poetischem Film spielt Robert Mitchum einen gleichsam grauenerregenden wie betörenden Buhmann, der die Kinder einer ländlichen Familie in Angst und Schrecken versetzt.“
Stört Sie etwas an diesem Satz?
Mich schon. Ich war nämlich überzeugt, dass hier „gleichsam“ falsch verwendet wurde.
Ich gebe zu: Ich habe ein schwieriges Verhältnis zu diesem Wort. Egal wie sehr ich mich bemühe, den Sinn einzuprägen und es in meinen Sätzen einzubauen, kommt es mir fremd vor. Dem Duden zufolge bedeutet „gleichsam“ „sozusagen“, „gewissermaßen“, „wie“. Trotzdem: „Das ist sozusagen mein Schicksal“ klingt in meinen Ohren stets richtiger als „Das ist gleichsam mein Schicksal“.
Erst als ich Karl Jaspers „Über die Wahrheit“ las – er verwendet dieses Wort nämlich unentwegt –hatte ich endlich mein Aha-Erlebnis.
Ich stellte nämlich nach genauer Untersuchung fest, dass dieses „gleichsam“ gleichbedeutend mit „quasi“ ist. Jedes „quasi“ kann mit einem „gleichsam“ ersetzt werden – und dieses „gleichsam“ wird 100%ig richtig sein. Ja, diese Erkenntnis war gleichsam eine Erlösung.
Happy end? Leider nicht. Denn nun stieß ich auf den obigen zitierten Satz im Spiegel – und fühlte mich erneut verunsichert. Hat der Autor (die Autorin) einen Sprachfehler gemacht, fragte ich mich, oder wird „gleichsam“ vielleicht manchmal auch anders verwendet und bedeutet nicht nur „quasi“, wie ich dachte?
Aber wen fragen? Leider lebt mein Sprachguru Ernst-Theo nicht mehr (in diesem Jahr wäre er 100 geworden). Zum Glück gibt es aber in meinem Bekanntenkreis Freund Karl. Er ist ein ebenso feinfühliger Kenner der deutschen Sprache wie einst Ernst-Theo. Also rief ich Karl an.
„Ja, du hast recht“, sagte er mir. „Der Autor dieses Satzes benutzt das Wort als würde es ‚ebenso‘ bedeuten. Das kommt aber daher, dass ‚gleichsam‘ zunehmend vernachlässigt wird. Man vergisst den Sinn, erfindet dann aus Übermut neue. Vielleicht wird sich eines Tages die eine oder andere neue Bedeutung durchsetzen. Wäre aber Schade. Ich denke aber, ‚gleichsam‘ klingt fürs heutige deutsche Ohr zu sanft. Man bevorzugt deshalb ‚quasi‘ und ‚sozusagen‘. Sie wirken bestimmender. Übrigens: Die Vokabel ‚sam‘ bedeutete im älteren Deutsch ‚wie‘ – ist mit dem englischen ‚same‘ verwandt. Wenn man früher ‚gleichsam‘ sagte, verstand man ‚gleich wie‘. Diese einleuchtende Verknüpfung ist freilich längst vergessen.“
So viel zu Karls Erklärung. Ich aber war glücklich, dass ich einen so subtilen Sprachfehler aufgedeckt hatte. Umso mehr tut mir das Wort „gleichsam“ leid.
Daher möchte ich Ihnen, liebe Lesende, ans Herz legen, ein Herz für „gleichsam“ zu haben. Benutzen Sie dieses hübsche Wörtchen häufig. Sonst wird es eines Tages völlig aus der Sprache verschwinden – oder nur im Sinne von „ebenso“ oder Ähnlichem überleben.
Bald ist Weihnachten (ja, so schnell vergeht die Zeit). Auch die eigene Muttersprache lässt sich gern beschenken.
So einfach ist es, neugierig zu machen.
Anzügliches nur anzudeuten ist schon die halbe Miete. Zu bemerken: Ein paar fantasievolle Stichworte reichen und voilà! Jeder will die Fotos sehen.
Doch nun zum Handwerklichen: Ich erwägte zuerst „Prinzessin D.“ als Lockvogelbegriff einzusetzen. Ich war mir sicher: Die Abkürzung mit „Punkt“ würde genügen, um Begehrlichkeiten zu erwecken.
Vielleicht klingt der Name doch ein bisschen altbacken, dachte ich dann.
Dann gingen mir „Justin B.“ und „Miley C.“ durch den Kopf, bis ich mich schließlich für Michael J. entschied. Irgendwie bleibt er immer noch der Klassiker.
Was die „Piedmont Fotos“ betrifft. Der Name fiel mir einfach ein. Keine Ahnung woher. Klingt aber überzeugend, gell? Und man denkt fast automatisch, wenn man den Namen mit „Michael J.“ in Verbindung bringt: Das sind bestimmt scharfe Bilder.
Nebenbei: Es gibt ein „Piedmont Photography Club“ in den USA. Das habe ich aber vorher nicht gewusst. Schau an: Der eine schustert sich einen Fantasienamen zusammen, der andere gründet mit dem Namen einen Fotoklub.
So einfach ist es, andere neugierig zu machen. Und das hat man im Internetzeitalter genauso nötig wie in der Werbung und in der Propaganda.
Nicht von ungefähr wird das WehWehWeh als „Netz“ beschrieben. Wo es ein Netz gibt, ist die Spinne nicht weit.
Mir kommt dieser Beitrag allmählich lehrerhaft vor. Das ist aber nicht so schlimm. Man lernt sich ohnehin nie aus.
Eigentlich hatte ich diese Woche vor, über Verschwörungstheorien zu schreiben. Sie wissen schon: Neinelewwen (9/11) als Komplott von Juden (oder Israeli? oder CIA?); die Reptilien, die nach Weltherrschaft streben; die diversen Illumati-usw.-Organisationen, die ebenfalls nach Weltherrschaft streben; die „Chemtrails“, also, jene Kondensstreifen der Flugzeuge, die gleichwohl als Instrumente der Weltherrschaft dienen usw.
Ich dachte, ich könnte etwas Lustiges mit diesem Thema machen. Ich kam aber von meinem Vorhaben schnell wieder ab. Alles viel zu dröge und lahm, stellte ich bald fest. Außerdem hätte ich darüber wahnsinnig viel lesen müssen. Endlos viel – und alles langweilig!
Beim Stichwort Verschwörungen aber fiel mir plötzlich Kim ein. So hieß die junge Frau mit dem besonders hübschen Gesicht und den hellblaugrauen Augen, die ich vor vielen vielen Jahren in San Francisco kennenlernte und begehrte. Einmal umarmte ich sie. Ihre Reaktion: „Man spürt das Schlagen deines Herzens. So laut bumpert es.“ So war es auch. Denn ich fand sie wirklich sehr attraktiv.
Dann erzählte sie mir eines Tages – wir standen auf der 14th Street an der Ecke Noe, oben auf dem Berg, blauer Himmel, ein paar Wolken, frische Brise, typisch San Francisco – sie erzählte mir, dass Richard Nixon (er war damals US-Präsident – vielleicht kennen manche junge Leser den Namen nicht mehr) – dass Richard Nixon in Auftrag von Außerirdischen handele und deshalb so zerstörerisch sei.
„Außerirdische? Das glaub ich nicht“, antwortete ich. „Wie ist das möglich?“
Sie erklärte mir die Sache gründlich. Zum Glück hab ich alles vergessen. Nur eins weiß ich noch: Nie wieder schaute ich sehnsüchtig in ihre schönen hellblaugrauen Augen.
Übrigens: In den Piedmontfotos finden Sie ein nettes Bild von Michael J. und Kim. Sehr hübsch.
Das Unfassbare ist geschehen. Das Paradies wurde letzte Woche bestohlen. Zudem: Ich war dabei, als es passierte.
Elender Dieb. Wie fühlt man sich, wenn man ausgerechnet das Paradies bestiehlt?
Natürlich ist hier die Rede von meinem Lieblingsobst- und Gemüsegeschäft, das öfter auf dieser Seite thematisiert wird.
Nomen est omen aber. Er hat de facto das Paradies beklaut.
Nebenbei: Hier handelt es sich keinesfalls um einen grammatikalischen Dieb. Ich meine: Dieser Dieb, der das Paradies bestahl, war keine Diebin, sondern ein Mann, einer aus Fleisch und Blut. Das weiß ich so genau, weil ich, wie schon oben erwähnt, präsent war, als das Unfassbare geschah. Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen.
Rückblick: Ich war mit Frau M., Inhaberin des Paradieses, im Gespräch vertieft. Das Thema war der Titel des Liedes „Love Runs Out“ von der Band „OneRepublic“.
Frau M. fragte mich, was: „love runs out“ wörtlich bedeutet. Ich war gerade dabei, ihr die Doppeldeutigkeit dieses Satzes zu erklären, als plötzlich: the thief runs in. Nein, das stimmt nicht. Er rannte nicht in den Laden hinein. Das schreib ich nur so, weil es lustig klingt. Trotzdem betrat er den Laden recht zügig. Ich sah ihn aber aus dem Augenwinkel reinkommen. Er war vielleicht 1,80 groß und schlank, durfte über 40 gewesen sein, und hatte nach hinten gekämmte schwarzgraue Haare. Das Gesicht war lang und etwas hager, er trug einen schwarzen Regenmantel und ging an uns lautlos vorbei, um sich dann hinten im Laden, wo die Tomaten, die gelbe Rüben, die Zwiebeln, die mehligen Kartoffeln und das Büro sind, wie in Luft aufzulösen.
In diesem Augenblick verschwand er von meinem Radarschirm ganz, und ich beachtete ihn nicht weiter. Nebenbei: Ich denke, dass „von meinem Radarschirm verschwinden“ keine deutsche Redewendung ist, sondern eine Lehnübersetzung aus dem Englischen. Wir sagen „to disappear from a person‘s radar screen“. Wer dieses Idiom übernehmen will, hat meinen Segen.
Aber zurück zu „love runs out“. Ich erklärte Frau M., dass diese Worte auf Englisch zweierlei bedeuten: 1.) dass die Liebe abgelaufen sei, wie das Wasser aus der Badewanne. Zunächst sagte ich zu Frau M. „ausgelaufen“. Das ist aber falsch, und sie korrigierte mich umgehend; und 2.) dass die Liebe abgehauen sei. Eigentlich kann die „Liebe“ nicht wegrennen. Ein/e Liebhaber/in mag abhauen, die Liebe aber nicht. Denn die Liebe ist eine Abstraktion. Da es aber sich hier um ein Wortspiel handele, sagte ich zu Frau M., brauche man nicht so pingelig zu sein.
Während unseres Gesprächs drehte Frau M. unversehens den Kopf und nahm den Dieb genau ins Visier. Er stand nämlich in dem Augenblick neben den Artischocken und dem Rotkohl – als wäre er aus dem Nichts in Erscheinung getreten. Auch ich warf einen Blick auf ihn. Er wirkte auf mich unscheinbar, ja, harmlos.
Inzwischen stand eine Kundin an der Theke neben Frau M. und mir. Auch sie musterte den Mann. Während ich meine Schwammerln, meine Zucchini und meine Pfirsiche einzutüte, trat nun der Dieb an die Theke heran und händigte Frau M. ein paar Münzen für eine Flasche Wasser (halbes Liter). Dann verließ er den Laden, so lautlos, wie er ihn betreten hatte.
Ja, love ran out the door. Und in den Taschen seines Regenmantels nahm er die Tageseinnahmen und Frau M.s Portemonnaie mit.
Erst später stellte sie fest, dass das Paradies bestohlen wurde.
Wäre es ihm bewusst gewesen, wie der Laden heißt, fragte ich mich, hätte er das Paradies trotzdem gestohlen?
„Wer das Paradies bestiehlt, erntet Unglück“, sagte ich zu Frau M. Ich wollte sie damit trösten.
Es war aber ein schwacher Trost.
Was flüstert ihm der Henkersknecht ins Ohr? Ihm, dem traurigen Jungen mit dem netten Gesicht, eine schwarze Binde um die Augen wie ne Larve? Genau das Gegenteil von der Maskierung seiner Henker, deren Gesichter in schwarzen Tüchern verhüllt sind und bloß die Augen frei.
Bald werden sie ihm den Hals abschneiden – wie das Opferlamm. Er kniet neben dem Flüsterer. Trägt noch seine Soldatenuniform. Die Hände sind ihm hinter dem Rücken festgebunden. Der Kopf neigt nach vorne.
Was flüstert ihm der Henkersknecht zu?
Vielleicht: „Keine Angst. Du bist bald bei Gott.“
Oder: „Nimm die Sache nicht persönlich. Keiner entkommt seinem Schicksal.“
Oder: „Es ist schnell wieder vorbei.“
Hört der junge Mann zu? Oder ist er mit seinen Gedanken woanders. Vielleicht war er bis vor kurzem Student an der Damaskus Universität, studierte Medizin oder Literatur, twitterte, stopfte seine Facebook-Seite voller Fotos: von seiner Freundin, von Partyblödsinn, von den Freunden. Vielleicht wurde er widerwillig einberufen, um Baschar Al-Assad zu dienen, und war bloß zu wenig energisch, um nein zu sagen oder abzuhauen.
Aber genug des Trostes. Jetzt packen die Henker zu, versuchen den Hals freizumachen. Jetzt aber leistet der nett aussehende junge Mann Widerstand, presst sein Kinn mit aller Kraft gegen seine Brust. (Das macht nicht er, sondern der gesunde Überlebensinstinkt).
So viel Kraft kann er aber nicht aufbringen. Sie zerren ihn an den Haaren, drängen und schieben den Kopf nach hinten, bis der Hals entblößt wird wie die keusche Nacktheit einer zu Vergewaltigenden.
Schon berührt das Messer die Haut und dringt durch die Oberfläche ein. Rotes Rinnsal. Aus dem offenen Mund widerhallt der erste und letzte Protest…
Szenenwechsel: Eines Nachts träumt der Flüsterer – oder ist es der mit dem Messer? – von seinem Opfer. Der Ermordete spricht: „Du wirst mich suchen müssen. Aber der Weg zu mir ist beschwerlich. Denn ich war die Hoffnung, Du hast die Hoffnung abgeschlachtet wie ein Tier. Wer die Hoffnung tötet, muss einen weiten Weg zurücklegen, um mich zu finden. Wehe, wenn er nicht nach mir sucht.“
„Warum hast du mir das nicht damals gesagt?“ fragt der Mörder – oder der Flüsterer. Oder vielleicht träumen beide in dieser Nacht das Gleiche. „Und wieso weißt du so sicher, dass ich es war? Dir waren die Augen gebunden, und wir trugen Gesichtsmasken.“
„Ich habe alles gesehen; ich weiß ganz genau, wie du aussiehst.“
„Ich aber habe vergessen, wie du aussiehst. Es waren so viele, weißt du. Wie soll ich dich wiedererkennen?“
Doch nun schweigt der Ermordete.
He! Baschar! Hörst du? Ja, du. Wahrscheinlich hörst du nicht. Auch du musst ihn finden. Auch du weißt nicht, wie er aussieht. Und die Liste der zu Suchenden wird für dich täglich länger.
(Notabene: Halsabschneider handeln meistens im Auftrag von Hintermännern).
Lieber Lesende. Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass mich diese Woche ausgerechnet dieses Thema beschäftigt. Zu viele tote Jugendliche, zu viele Halsabschneider, zu viele Hintermänner spuken mir momentan durch den Kopf, und manche werden zu schnell vergessen – zum Beispiel obiger Junge und seine Mörder oder Baschar Al-Assad.
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