Von der Frau zu erzählen, die mir expressis verbis verbot, ihr Kind zu fotografieren, komme ich unten wieder zurück.
Ich fange lieber mit der „Rasterlupe“ an. Wer im vorigen Jahrtausend noch kein Erwachsener war, weiß wahrscheinlich nicht, was das ist. Es hat jedenfalls nichts mit der „Rasterfahndung“ zu tun. Ich schätze meine Rasterlupe immer noch.
Doch so sehr ist dieses fotografische Werkzeug aus der Mode gekommen, dass die zwei Exemplare, die ich neulich bei Amazon entdeckte, mit der Bemerkung versehen waren: „derzeit nicht verfügbar“. Das muss was bedeuten.
„Raster“. So nannte man früher das Geflecht eines Fotos, das aus unterschiedlich schattierten bzw. kolorierten Pünktchen besteht. Diese Pünktchen, „Korn“ genannt, sind rund und werden auf einem Bildnegativ mittels einer Rasterlupe sicht- und zählbar. Je mehr Pünktchen, umso feinkörniger ist der Film. Diese „Körner“ entstehen durch ein chemisches – sprich „analoges“ – Verfahren.
Im digitalen Zeitalter heißen diese Bildpünktchen „Pixel“. Ein wichtiger Unterschied zu den analogen Pünktchen aber:„Korn“ ist rund (und sinnlich), „Pixel“ sind viereckig (und kalt).
Alles klar?
Wann hat es angefangen? Ich meine das mit der „Verpixelung“ der Welt. Genauer gesagt: mit der Verschleierung von Gesichtszügen in den Medien mittels hässlicher Quadraten.
Mich irritiert die Verpixelung der Welt.
Im Analogzeitalter wurde die Welt weder „verrastert“ noch „verkörnt“. Die Wörter existierten nicht. Man konnte höchstens ein Bild manipulieren. Doch dazu war ein künstlerisch begabter Mensch nötig. Ich denke an die Weichzeichnung in der Werbung und die Bilder aus der Stalin-Zeit – auf denen Trotzkij wegretuschiert wurde.
Früher hatten Bilder allein den Zweck, die Neugier zu befriedigen. Zum Beispiel, das Foto, das ca. 1976 in der „Münchener Abendzeitung“ erschien. Es zeigte einen Räuber (oder sonstigen Unhold), der zähneknirschend im Polizeiwagen sitzt. Er beugt sich nach Vorne und schaut verschämt in die eigenen Hände. Durch eine Seitenfensterscheibe sieht man die gaffenden Schaulustigen. Geile Blicke, lüsterne Mäuler. Ein Kunstwerk.
Wäre dieses Bild heute ohne verpixelte Stellen noch möglich? Ich glaube nicht. Es würde genauso unvollständig erscheinen wie die Leichengesichter, barbusige Sonnenanbeterinnen, Opfer und bald Hinzurichtende der Gottesheeren usw., die in den heutigen Medien, insbesondere in den Zeitungen, allgegenwärtig sind.
Auch Kindergesichter werden in den Blättern immer häufiger verpixelt dargestellt. Als ob sie ansonsten nur noch von Pädophilen und Kinderentführern begafft werden könnten.
Womit ich wieder auf die Frau zu sprechen komme, die mir expressis verbis verbot, ihr Kind zu fotografieren. Es war letztes Jahr auf einer Veranstaltung, und ich wollte eine ältere Dame, die ich kenne und mag, ablichten. Neben ihr stand diese Frau: „Machen Sie ja kein Foto von dem Kind“, herrschte sie mich an. Das Kind war mir bis dahin gar nicht aufgefallen.
„Keine Sorge“, antwortete ich. „Ich mache nur verpixelte Bilder von Kindern.“
Ahhh! Die guten alten Tage. Auf der Flitterwoche saß ich, frisch vermählt, mit meiner Frau in einem Lokal in einem Kaff im südlichen Frankreich. Am nächsten Tisch fachsimpelten mehrere britische Reporter.
Ich lauschte ihrem Gespräch und erfuhr, dass die Fotos, die an Nachrichtendienste verkauft werden, nach bestimmten, kulturgerechten Kriterien angeboten wurden. Japaner und Araber, so erzählten die Profis, waren scharf auf grausame Bilder mit lauter Toten, Verletzten und Hinzurichtenden. In Deutschland und in Skandinavien hingegen stand das Publikum auf Nacktheit usw.
So war die unverpixelte Welt damals.
Und deshalb meine ich, dass die Zeitungen peu à peu zugrunde gehen. Denn sie befriedigen kaum mehr die voyeuristische Neugier des Lesers.
Achtung, ,Blattmacher: Im Zeitalter des WehWehWeh ist alles – und ich meine ALLES – auch unverpixelt zu finden. Dafür gibt es die „Suchmaschinen“. Wer braucht denn zögerliche Zeitungen? Ein Bild ist noch immer ein Tausendwortewert.
Ende der Predigt. Amen.
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