Ich denke, er hieß „Ectoplasm“ oder so ähnlich. Er verwendete das Konterfei einer androgynen Manga-Figur als Ikone. Für Zeitgenossen oder Leute aus der Szene alles wohl deutbar. Ich gehe davon aus, dass er jung war.
Beinahe täglich traf ich auf die frechen Kommentare, die er auf der Comic-Seite hinterließ; das heißt, Comics aus amerikanischen Zeitungen.
Nun wird’s persönlicher: Ja, ich besuche diese Seite seit Jahren. Es ist Sucht und Laster zugleich, allerdings harmloser als Crystal-Meth, Heroin und der übermäßige Konsum von gewissen Magenbittern.
Meine Lieblingscomics sind „Peanuts“, „Calvin and Hobbes“, „Dilbert“ und manchmal „Doonesbury“. Ich lese auch andere, obwohl diese meistens dumm und plakativ sind: Humor für Menschen, die wenig Humor haben. Doch Sucht ist Sucht.
Ich bin auf „Ectoplasm“ aufmerksam geworden, weil er in seinen Kommentaren sehr viel Slang aus der Jugendszene benutzte. Manchmal verstand ich zu meiner Überraschung nur wenig.
Zum Glück gibt es im Netz das „Urban dictionary“, ein Slangwörterbuch, das auch viele Begriffe aus der Jugendsprache ins verständliche Englische „übersetzt“.
„Ectoplasm“ hat auf der Comic-Seite gern für Aufruhr gesorgt und schimpfte unentwegt über den Inhalt verschiedener Comics. Über die Dinge zu lästern ist in der Jugend ein gesunder Charakterzug. Auch als Erwachsener schadet es manchmal nicht. Seine Mitschreibende von Kommentaren – viele waren schon älter – teilten seine Meinungen nicht und griffen ihn häufig heftig an.
Der junge, souveräne „Ectoplasm“ erwiderte aber ebenso heftig. Seine Lieblingsformulierung war „ESAD“. Zuerst wollte ich daraus „European Space Administration Division“ machen. Doch dann schlug ich im „Urban Dictionary“ nach. „ESAD“ ist ein Kürzel für „eat shit and die“, was ich hier nicht zu übersetzen brauche, da es sich um englische Vokabeln handelt, die man bereits in der 5. Klasse lernt.
Mag sein, dass die Worte ein bisschen krass klingen. Aber was weiß ich? Für junge Leute hört sich ESAD vielleicht so harmlos an wie zu meiner Zeit „Go jump in the lake“ – also geh und mach einen Sprung in den See. Hört sich auch harmlos an, verbirgt aber den Wunsch, dass jemand ertrinkt. Doch die Mitschreibenden regten sich nicht auf, weil er Ihnen den Tod durch den Konsum von Fäkalien wünschte, sondern weil seine Aufmüpfigkeit aneckte.
Dennoch – welch Ironie – übernahmen manche seiner Gegner Elemente aus seiner Sprache. „Ectoplasm“ pflegte, zum Beispiel, als Ausruf des Staunens „Help me Rhonda!“ zu verwenden – dies, wie Sie wahrscheinlich wissen, der Titel eines Lieds der „Beach Boys“ aus den 1960er Jahren (50 Jahre sind das inzwischen her!!!???), den man ins Deutsche sinngemäß mit „du, meine Güte!“ oder auf Bayrisch „Jessas na!“ übersetzen kann.
Bald verwendeten auch die Gruftis – , d.h. Menschen in meinem Alter – in den eigenen Kommentaren gern „Help me Rhonda!“.
Die Aggression nahm aber zu, und immer mehr wurde „Ectoplasm“ von den anderen ob seiner „Negativität“ gemobbt.
Eine Zeitlang hielt er stand und antwortete mit dem gewohnten ESAD…
Eines Tages war die Manga-Ikone verschwunden samt allen Kommentaren „Ectoplasms“. Verschwunden war auch mein Interesse, die drögen Kommentare der Sieger zu lesen: lahme Witzchen über lahme Comics. „Ectoplasm“, war es gelungen, Leben in die Bude zu bringen. Und nun war er weg.
Mit einem Mal war die Comicseite wie gleichgeschaltet. Das passiert schnell, wenn die Opposition vertrieben wird.
Endlich habe ich verstanden, wie sehr man die Mithilfe des Volkes braucht, um ein gut funktionierendes drittes Reich oder Nordkorea ins Leben zu rufen.
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