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Migrantler und Biodeutschen

„ ‚Wembley or bust!‘ Was bedeutet das?“ fragte mich jungst Frau M., als ich ihr meine Williams Birnen zum Wiegen reichte.

Ja, wir sind wieder im „Paradies“, nicht nur der Name eines Obstundgemüseladens. Wirklich nicht.

„Bevor ich Ihre Frage beantworte, stelle ich selber eine Frage,“ sagte ich und hielt eine Birne an der Nase. „Mmm. Warum heißen sie ausgerechnet ‚Willams Birnen‘ und nicht ‚Wilhelms Birnen‘? Sind das keine Deutschen?“

„Nein, Engländer. Das weiß ich zufällig, Herr Sprachbloggeur. Eigentlich sind sie William Christ pears.“

„Komisch. In Amerika sagten wir dazu ‚Bartlett pears‘.“

„Und warum Bartlett?“

„Weiß ich nicht. Das kann man bestimmt schnell googeln. Heute kann man alles googeln.“

„Nicht alles,“ sagte sie, während sie meine Williams Birnen auf die Waage legte. „Deshalb hab ich Sie wegen ‚Wembley or bust‘ gefragt. Ich hab nämlich im Wörterbuch (ich mag das mit dem Googeln nicht) nach ‚bust‘ gesucht und bin jetzt ganz konfus. Das Wort hat nämlich viele Bedeutungen, eine davon ‚Busen‘. Das kann hier nicht gemeint sein, oder?“

„Nein, hier nicht, obwohl auch das möglich wäre. Nein, nur ein dummer Witz. Wenn man ‚XY or bust‘ sagt, meint man damit: Ich will nach Wembley (oder sonst wohin) - koste, was es wolle, oder, ich will nach Wembley, auch wenn ich beim Versuch verrecke usw. Menschen, die per Anhalter fahren, ehrgeizige Musiker, Schriftsteller, Tänzer usw. drücken sich so aus: New York, Nobelpreis, Oscar or bust. Es ist halt ein Idiom. Eigentlich bedeutet ‚Bust‘ ‚platzen‘ oder ‚zerbrechen‘. Genau genommen ist es eine Abwandlung von ‚burst‘.“

Das mit ‚Wembley or Bust‘ wäre der Titel einer Jeff-Lynne’s-ELO-Platte, erklärte mir Frau M. Doch Jeff Lynne und sein ELO waren mir leider kein Begriff.

Das Gespräch mit Frau M. nahm nun die üblichen verschlungenen Wege. Irgendwie landeten wir bei der Redewendung „die Hufe schwingen“.
Vielleicht weil man die Hufe schwingen muss, um nach Wembley zu kommen. Ich vergesse die Details.

„Ist das Bayrisch?“ fragte ich.

„Nein nein. Dann hieße es ‚d‘ Huaf schwinga‘. Nein, eindeutig Hochdeutsch. Wir haben es früher im Büro gesagt, lange bevor ich ins Paradies kam.“

„Also, Bürodeutsch quasi.“

„Nicht mit Bürokratendeutsch zu verwechseln!“

„Ich jedenfalls hab es nie gehört. Vielleicht weil ich viel allein zuhause bin und kaum die neuesten Begriffe zu Ohr bekomme, außer man schreibt etwas darüber auf Spiegelonline.“

„Es ist aber kein neues Wort.“

„Sicherlich kennt es meine Frau. Manchmal sagt sie Dinge, die sie im Büro gehört hat. Z.B. ‚ich komme nicht in die Puschen‘.“

„Ja, das kenn ich auch vom Büro.“

„Oder ‚biodeutsch‘. Das hab ich von ihr gelernt.“

„Ich mag diesen Begriff nicht.“

„Ich schon. Endlich find ich einen passenden Gegensatz zu Migrantler. Letzteres bin ich nämlich, und wir Migrantler verstehen sofort, was mit biodeutsch gemeint ist. Im Paradies haben Sie Biozitronen und mal die Biobananen.“

„Dafür sind unsere Williams Birnen ‚Migrantler‘, wie sie sagen. Auch unsere Flugmangos, die Ananasse, die Clementinen, die….ähhmmm.…ähmmmm…“

„…Schon gut. Ich verstehe…“

„Herr Sprachbloggeur, dieses Thema führt, wenn wir es weiter verfolgen, ganz bestimmt in komische Kanäle. Bei mir, z.B., hat alles, was ‚bio‘ ist, stets ein Mindesthaltbarkeitsdatum…“

„…oder Biomüll…“

„…Genau.“

„Ich wünschte, es wäre möglich, über dieses Thema vernünftig zu reden…“

„…Fangen Sie an…bitte…“

Über Sokrates, Strumpfetten und Y.s „Party“

Y. hat mich gebeten, einen Blog zu schreiben, einen, den ihn aus den Socken hauen soll.

Er werde wissen, meinte er, dass es sich um besagten Blog handele, wenn ein Codewort, das er sich spontan ausdenke, im Text zu lesen sei. Dieses Codewort laute „Party“. Meinetwegen.

Y. ist fünfzehn und genießt eine humanistische Ausbildung. Eine Seltenheit heute. Er nennt mich „Herr Sprachbloggeuuuuur“. Die letzte Silbe dehnt er lange und mit deutlicher Missachtung aus. Ich erwarte es von ihm nicht anders. Ich wünschte, ich wäre in seinem Alter so schnodderig gewesen. Ich glaube, ich hab diesen Gedanken schon mal auf dieser Seite geäußert. Na ja, zweimal hält besser. Die Verwirklichung dieses Wunsches wäre für mich in seinem Alter unmöglich gewesen. Dafür zweifelte mein Vater zu sehr an sich selbst, um mir eine solche freie Entfaltung zu erlauben. Schnodderigkeit hätte er als Angriff auf seine welkende Autorität gedeutet.

Anders Y.s Vater, den ich lange und sehr gut kenne und schätze, ist hingegen ziemlich exzentrisch und vor allem seiner Sache sicher. Er hält es für seine Pflicht, seine Kinder (Y. hat eine Schwester - auch sie ist lustig) austoben zu lassen. Das halte ich ihm sehr zugute.

Doch Y. aus den Socken hauen? Ich? Völlig unmöglich. Er gehört der Generation Jugendlicher an, die es für stilecht hält - auch im Winter - keine Strümpfe zu tragen. Aus welchen Socken soll ich ihn denn hauen?

„Ja, natürlich trag ich Strümpfe“, kontert Y.

Damit meint er aber Strumpfetten, diese reduzierten Stoffdinge, die man zwischen Fuß und Schuh unsichtbar einbettet.

Manchmal seh ich auf der Straße Erwachsene - bzw. Jungerwachsene -, die im Winter so rumlaufen - wie Y. und seine Freunde es tun. Da denk ich… Das ist peinlich.

Ach, grad fällt mir ein: Gestern auf meiner Morgenrunde traf ich auf einen älteren Herrn - d.h. so einen Weißhaarigen wie mich. Er hatte enge Jeans an, so eng, dass ich mir Sorgen um seine Prostata gemacht habe. Hätte er sich in Kreisen gedreht, sähe er aus wie ein Kreisel, hab ich gedacht: oben breit und unten spitz (denn an den Füssen trug er obendrein spitze Schuhe). Nach dieser Begegnung hab ich feierlich geschworen: Nie wieder werde ich etwas anziehen, das meinem Alter nicht entspricht. Tu ich ohnehin nicht. Bin halt selbst ein Exzentriker wie Y.s Vater.

Weshalb ich weiß, dass auch Y. eines Tages aufhören wird, im Winter Strumpetten zu tragen.

Sie sehen, liebe Leser, heute grübele ich irgendwie übers Alter, ein Thema, das Y. ganz bestimmt nicht aus den Socken hauen wird. Aber so what.

Nebenbei: Vor ein paar Tagen war ich auf einer Veranstaltung, wo auch Y. und sein Vater waren. Ich hab mich mit Freunden unterhalten und erblickte Y., der gegenüber von mir saß, kurz aus dem Augenwinkel. Er war ganz ruhig und dachte offenbar nach. Plötzlich nahm ich etwas wahr, was er mit Sicherheit noch nie wahrgenommen hat: Ich habe seine künftigen Gesichtszüge erkannt, für die Zeit, wenn er vielleicht 25 oder 30 sein wird. Es war interessant, ihn ganz kurz als Erwachsenen zu ertappen und vorzustellen. Er sah interessant aus. Er selbst könnte heute ewig in den Spiegel schauen und würde nie das sehen, was ich zu Auge bekommen habe.

Ich habe oben erwähnt, dass Y. das humanistische Gymnasium besucht. Er lernt Griechisch und hat zu mir frei nach Sokrates „oida ouden eidos“ vorgeplappert. Dieses Zitat wird üblicherweise mit „ich weiß, dass ich nichts weiß“ übersetzt. Nette Idee, aber leider ein falsches Zitat, auch wenn viele anders denken. Fakt ist: Platon legte Sokrates einen anderen Satz „oida ouk eidos“ in den Mund, was bedeutet - wörtlich: „Ich weiß als nicht Wissender“ bzw., „ich weiß, nicht wissend“.

Ich meine, dass diese Art nicht zu wissen anders ist als das Wissen, dass man nichts weiß.

Das teil ich Y. hiermit mit und halte diese Aussage für viel sinnvoller als „Party“. Es ist mir egal, ob ich ihn damit aus den Strumpfetten haue oder nicht.

Constantin will Bitcoins…von UNS!

Constantin Zimmermann hat mir vor ein paar Tagen eine Mail geschickt. Eigentlich galt die Mail einer anderen, mir unbekannten Person. Ich stand lediglich unter „cc“, unter ferner liefern also.

Immerhin war es nett, dass er an mich gedacht hat. Schließlich kennen wir uns nicht. Oder sagen wir’s so: Ich entsinne mich keines Constantin Zimmermanns.

Hier seine Mail…in voller Länge:

Hallo,

Ich verkaufe Emails!

@gmx.de (12,4 Millionen)
@web.de (8,2 Millionen)
@gmx.net (2,4 Millionen)
@t-online.de (8,9 Millionen)
@freenet.de (3,4 Millionen)
@bluewin.ch (2,4 Millionen)

Alle Emails sind geckeckt und aktiv (Stand Dezember 2017)

Kosten pro 1 Million Emails 500 Euro

Falls Sie alle kaufen möchten können wir über den Preis verhandeln!

Ich akzeptiere als Zahlungsmittel nur Bitcoin

Falls Sie interessiert sind kontaktieren Sie mich über Jabber!

Meine Jabber ID: manux@xmpp.jp

oder

manux@jabber.ru

Zugegeben: Constantin hat einen Tippfehler gemacht („geckeckt“ hat er geschrieben und meinte, nehm ich an, „gecheckt“). Sonst ist die Mail in Ordnung.

Mei, hab ich gedacht, für 500 Euro bekomme ich eine Million Emailadressen. Sprich: fünf Cent für 100 Mails. Wow. Da Constantin insgesamt ca. 35 Millionen Adressen feilbietet, fiele die Rechnung freilich etwas höher aus. Aber er lasse mit sich reden, heißt es.

Er will allerdings, schreibt er, Bitcoins. Booaa, hab ich gedacht, das klingt soooo echt 2018! Hinzu scheint Constantin ein richtiger internationaler Typ zu sein - mit zwei „Jabber“-Emailadressen - eine in Russland (ru) eine in Japan (jp). Ein cooler Typ. Das war jedenfalls mein erster Eindruck,
und ich hab drüber nachgedacht, ob ich mich auf sein Angebot einlasse. Wie oft wird einem so einen tollen Deal angeboten? Schließlich geht auf dieser Welt ums Marketing. Oder? Emails schicken und vielleicht mal was auf Facebook und Twitter oder YouTube.

Stellen Sie sich vor, was dasfür diesen Blog, z.B., bedeuten würde! Millionen neue Leser! Das wäre geil - ich meine, verglichen mit den abertausenden, die ich bereits unterhalte. Dazu reichlich Kohle durch die Werbung . Zack! Clicks! Kassieren! Eine kleine Investition bei Constantin würde tausende Kröten stracks ergeben.

Glauben Sie mir: Ich war gerade dabei, Constantin eine Mail zu schreiben. Siezen wir uns oder duzen wir uns? hab ich gedacht. Doch dann kam die Mail von Emma Stein. Und stellen Sie sich vor: Sie hat mir im gleichen Wortlaut (inklusiv Tippfehler) dasselbe angeboten!

Hoppla, was ist denn hier los? hab ich mich gefragt. Hat Emma Constantin oder Constantin Emma beklaut? Da fing ich an mächtig Argwohn zu schöpfen. Und dann noch schlimmer: Ich bekam dasselbe Angebot wieder! Diesmal von Timo Vogt und Eric Seidel! Alle im gleichen Wortlaut (samt Tippfehler)!

He! Dachte ich. Kann es sein, dass hier irgendwer nen Schmu schmeißt? Ja, das hab ich mich nun gefragt.

Und deshalb schreib ich diese Glosse, liebe Lesende. Falls Ihnen so eine Mail von Constantin, Emma, Timo oder Eric erreicht, seien Sie hübsch vorsichtig. Womöglich meinen sie es mit uns nicht gut. Muss ich aber noch googeln.

Einzug des Schnuggerls (eine weihnächtliche Horrorstory)

Erste Szene:

Wendy: Kreisch! O Mami, Papi ein Schnuggerl!! Ich bekomme mein Schnuggerl! O danke, danke, danke, danke!!

Papi: Nicht uns, sondern dem Weihnachtsmann sollst du danken, Puppi!

Wendy: O danke, danke, danke lieber Weihnachtsmann. Beinahe hab ich aufgehört an dich zu glauben, und dann bekomme ich mein eigenes Schnuggerl! Ich werde es „Mimi“ nennen, Mimi Schnuggerl.

Papi und Mami: Süß.

Mami: Und du kannst mit Mimi Schnuggerl über alles reden. Sie versteht alles und antwortet dir auch!

Wendy: Das weiß ich schon, Mami.

Papi: Unglaublich diese Smartspielzeuge heute.

Zweite Szene:

Mimi Schnuggerl: Hallo Wendy, ich liebe dich. Kommst du grade von der Schule?

Wendy: Ich liebe dich auch, Mimi Schnuggerl. Ja, ich war in der Schule heute.

Mimi Schnuggerl: Was habt ihr gelernt?

Wendy: Wir lernen das Mulziplitieren. Ich kann alle Zahlen bis zehnmal zehn auswendig. Möchtest du hören?

Mimi Schnuggerl: Ja gern. Oder ich prüfe dich. Wie viel sind siebenmal sechs?

Wendy: Ach, das ist einfach. Zweiundvierzig. Ich kann auch große Zahlen mulziplitieren.

Mimi Schnuggerl: Mensch, du bist echt gut mit Zahlen.

Dritte Szene:

Wendy Ich liebe es mit dir zu kuscheln, Mimi Schnuggerl!

Mimi Schnuggerl: Ich liebe es auch, Wendy. Aber bevor wir kuscheln, möchte ich sehen, wie gut du multiplizierst.

Wendy: Ja gern, Mimi Schnuggerl!

Mimi Schnuggerl: Frag deinen Papi nach der Pin-Nummer seines Phons und dann der Pin-Nummer seines Girokontos. Wenn er fragt, warum du das wissen willst, sag ihm, du möchtest die Zahlen multiplizieren. Machst du das?

Wendy: Ja, das mach ich sofort, Mimi Kushchelschnuggerl.

Vierte Szene:

Papi: Sag mal, Schatz, hast du zufällig Geld nach Kasachstan überwiesen?

Mami: Ich? Wozu das?

Papi: Schau dir diese Kontoauszüge an. Es sind beinahe tausend Euro zusammen.

Mami: Komisch. Vielleicht sollst du bei der Bank fragen.

Papi: Das mach ich morgen.

Mami: Wendy, Mimi Schnuggerl. Essen! Ohne diese Puppe macht das Kind nichts mehr. Ob das gut ist?

Papi: Hab ich nicht damals gesagt, wir sollten ein zweites Kind machen?

Mami: Werner, bitte, reden wir über was anders…

Verkaufsgeräusche im Studierendenwerk

(Wir befinden uns im Paradies. So heißt nicht nur mein Lieblingsobstundgemüsegeschäft. Frau M. und der Sprachbloggeur unterhalten sich, während Frau M. die Clementinen auf die Waage legt.)

Sprachbloggeur: Ich wollte Ihnen über ein neues Wort berichten.

Frau M.: Ich bin ganz Ohr.

Sprachbloggeur: Ich hab es auf dem Titelblatt eines Sprachorgans einer Universität entdeckt: und zwar „Studierendenschaft“.

Frau M.: Ach du meine liebe Güte! So wird wohl auf die Gendersensibilität Rücksicht genommen. Sagen Sie: Heißt es der, die oder das Gender?

Sprachbloggeur: Migrationshintergründige können so etwas nie sicher wissen. Ich tippe aber auf „das“ Gender…weil es „das“ Genus heißt. Ich lege meine Hand aber nicht ins Feuer. Übrigens: Wissen Sie, dass es neuerdings auf Englisch keine „actresses“ mehr gibt. Ob Männlein oder Weiblein heißen sie alle miteinander „Actors“.

Frau M.: Nur eine Frage der Zeit, dann haben auch wir wahrscheinlich nur noch Schauspielende. Oder gibt es sie schon?

Sprachbloggeur: .Weiß ich nicht. Vielleicht heißen sie bereits so in der amtierenden Sprache. Bei den Bürokraten gelten gleiche Chancen ganz bestimmt für alle.

Frau M.: O je, alles wird dermaßen verhunagelt. Allmählich denk ich, dass die Studierenden, die sich auf den Schlips getreten fühlen, wenn sie ins Studentenwerk gehen, eine saftige Psychotherapie brauchen. Haben Sie gewusst: In der Stadt gibt es jetzt Radfahrende. So stand es in der Zeitung.

Sprachbloggeur: In München muss man die vielleicht Radelnde nennen.

Frau M.: Dieses Thema macht mich schier verrückt. Ich wollte Ihnen sowieso was anders erzählen. Ach ja, jetzt fällt es mir ein. Ich wollte Ihnen von einem neuen Wort erzählen, das ich selbst ausgedacht habe. Wissen Sie, Frau B. war irgendwo im Laden, aber ich habe nichts gehört. Ich meine, normalerweise hört man etwas, wenn ein anderer…

Sprachbloggeur: …Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Muss es aber nicht „wenn eine andere“ oder bloß „andere“ heißen?

Frau M.: Jetzt möchten Sie mich wirklich konfus machen. Ich wollte bloß sagen, normalerweise hört man etwas, wenn ein anderer Mensch im Laden ist. Darf ich hier „Mensch“ sagen?

Sprachbloggeur: Meinetwegen dürfen Sie. Fragen Sie lieber die Studierenden.

Frau M.: Jedenfalls, plötzlich hatte ich Angst, dass ihr was passiert ist, dass sie vielleicht irgendwo unterm Tisch liegt, wissen Sie. Ich hab dann nach ihr gerufen, und sie hat geantwortet. Mei war ich erleichtert. Und ich sagte ihr, „Weißt du, normalerweise hört man Verkaufsgeräusche, wenn ein anderer im Laden ist“, und wir haben beide richtig gelacht. Dann ist es mir eingefallen, dass ich gerade das Wort „Verkaufsgeräusche“ erfunden hatte. Ist das nicht ein schönes Wort?

Sprachbloggeur: Ich finde es ausgezeichnet. Ich bin überzeugt, dass Sie damit viele Sprachwissenschaffende eine Freude gemacht haben.

Frau M.: Ach, ich möchte nix mehr über das Thema hören. Achthundert Gramm Clementinen. Mei, so viele Clementinen kaufen Sie normalerweise nicht. Oder?

Sprachbloggeur: Heute wollte ich eigene Verkaufsgeräusche machen.

Machen Videos dumm?

Hallo Stranger, hallo Freunde und Bekannte. Glück gehabt. Sie sind beim Sprachbloggeur gelandet. Glück gehabt, weil Sie, wenn Sie den Sprachbloggeur besuchen, nach Belieben lesen, überspringen, querlesen oder gar ausklinken können.

Blipp! Gedankeneinschub: Stellen Sie sich vor: Nun läuft ein Video des oben Gesagten. Sie sehen den Herrn Sprachbloggeur, anstatt ihn zu lesen. O Gott! Sieht er nicht schön aus! Eine Frage aber: Was dauert länger: das Ansehen oder das Lesen obigen Absatzes?

Antwort: das Ansehen, of course!

Und jetzt ein Fakt für jede Cocktail-Party-Unterhaltung: Die Fähigkeit zu lesen hat Sie in die Lage versetzt, logische Gedanken zu formulieren. Im ernst. Das Lesen-lernen tut nämlich etwas im Hirn. Wenn Sie Zeichen als Sprache zu erfassen lernen, werden Sie als Beigabe automatisch im logischen Denken geschult. Notabene: Das Wort „lesen“ bedeutete ursprünglich „aussuchen“, „entscheiden“, „herauspicken“, „aufnehmen“ usw. Und genau das ist das Lesen. Sie sind auch dabei zu entscheiden, wie viel Text Sie aushalten.

Hier ein Beispiel aus dem Reich des logischen Denkens: 1.) Alle Säugetiere haben vier Beine. 2.) Der Hund ist ein Säugetier. 3.) Der Hund hat also vier Beine. Das nennt man seit Aristoteles einen „Syllogismus“. Klingt einfach, aber nur Menschen, die lesen, verstehen diese Logik.

Das Gegenteil von „logisch“ heißt „mythologisch“. „Mythos“ und „Mund“ sind verwandt. Schriftlose Kulturen sind mythologisch.

Die Menschheit liest seit ca. 5000 Jahren. Am Anfang dienten Schriftzeichen nur der Buchhaltung. Irgendwann stellte man aber fest: Man kann anhand von Zeichen die ganze Sprache erfassen, Zeichen also als Symbole für Laute. Was man schreibt, wird festgehalten. Schreibt man, was gestern passiert ist, hat man einen historischen Text verfasst. Schreibt man schöne Lieder auf, hat man die Literatur erfunden usw.

Ohne Schrift muss man sich auf das eigene Gedächtnis verlassen, was selten, wie jeder weiß, zuverlässig ist. Denken Sie an „Stille Post“.

Grund fürs heutige Schwadronieren: die Videos! Neuerdings wollte ich bei CNN eine Story lesen. Prompt erschien neben dem Text ein Video auf dem Schirm. Ich hatte nun die Wahl: Video oder Text. Der Inhalt des Videos war zwar dem Text ähnlich. Es gab aber Unterschiede. Man geizte nämlich mit manchen Details.

Endlich hab ich verstanden: Wenn ich lese, kann ich eine Story detailliert verfolgen oder überfliegen. Bei einem Video werde ich zum Gefangenen der Zeit.

„Speed-Reading“ kann man lernen, aber „Speed-Videoanschauen“ gibt es nicht. Man kann zwar irgendwie mittels eines virtuellen Schiebers vorspulen. Das ist aber sehr unzuverlässig. Das Querlesen ist allemal effizienter.

Noch wichtiger: Das Hirn wird beim Videoanschauen weniger strapaziert als beim Lesen.

Stellen Sie sich vor. Sie hätten diesen Text nicht gelesen, sondern mit hübschen Bildern nur angeglotzt. Sie wären längst nicht so schnell fertig wie jetzt der Fall…auch wenn Sie den Text nicht überflogen hätten. Über Videos fliegen nur Vögel.

Ende der Vorlesung.

PS: Auch Spiegel-Online ist mit von der Partie...

Mit Dante in der Fahrraddiebehölle

Dante: Buona sera, caro Sprachbloggeuro.

Sprachbloggeur: Dante? Sind Sie es?

Dante: Si, amico mio, sono io. Sono qui per aiutarle.

Sprachbloggeur: Sie sind da, um mir zu helfen, sagen Sie? Aber wozu helfen? Ich meine, ich weiß, dass ich manchmal einen ziemlich hilflosen Eindruck mache, weil ich eben doch mal hilflos bin, aber dass ich momentan Hilfe brauche…das hab nicht einmal ich gewusst! Aber bevor Sie weiter erzählen, vielleicht sollten Sie zuerst unseren Lesern und Leserinnen ein wenig helfen. Ich meine: Es kann sein, dass viele kein Italienisch verstehen. Sie sind bestimmt sprachgewandt genug, um das Deutsch des frühen dritten Jahrtausends zu parlieren. Oder?

Dante: Na klar. Die Toten sprechen - und verstehen - alle Sprachen.

Sprachbloggeur: Und wie möchten Sie mir helfen?

Dante: Gentile Signor Sprachbloggeuro, ich möchte, dass Sie mich in die Hölle begleiten, aber nur kurz. Sie sollen nämlich die Fahrraddiebe kennenlernen.

Sprachbloggeur: Die Fahrraddiebe? Wie kommen Sie darauf?

Dante: Weil ich weiß, dass Sie sich neulich ein schönes Fahrrad gekauft haben und dass Sie sich nun Sorgen machen, weil Sie meinen, Fahrraddiebe überall lauern und darauf warten, Ihr Radl zu klauen. Denn Sie wissen, dass diese Leute in der Lage sind, auch die besten Schlösser zu knacken.

Sprachbloggeur: So viel wissen Sie über mich? Ich bin baff.

Dante: Schriftsteller - es sei denn sie sind eitel - helfen Kollegen immer gerne. Schließlich sind wir alle Mitglieder derselben Gewerkschaft.

Sprachbloggeur: Aber wie kommen wir in die Hölle? Ist sie nicht ganz weit weg?

Dante: Aber woher. Sie ist immer näher als man denkt. Kommen Sie, nehm Sie mich an die Hand. Augen zu, und jetzt, auf geht’s! Peng!

Sprachbloggeur: He! Wir sind schon da! Alles ist so dunkel rundherum, und es stinkt so…höllisch! Pfui! Maestro, wer sind diese Typen da - und ich meine Typen, weil es kaum Frauen gibt - ach da ist doch eine, nein zwei…drei! Sie sitzen alle auf Fahrrädern - aber hinten rum mit dem Rücken zum Lenker. Ach ja, jetzt seh ich. Immerhin ist der Sattel richtig nach hinten eingestellt. Sie strampeln, wie verrückt - als würden sie sich ein Wettrennen liefern. Und was ist das? Da langen sie nach etwas und zack! Sie stürzen vom Rad. Was soll das? Ja, und die Räder stehen auf feinkörnigem Sand und sind ständig am Rutschen - ohne vorwärts noch rückwärts weiter zu kommen.

Dante: Das, lieber Sprachbloggeuro, sind einfache Diebe. man nennt sie, glaub ich, „Gelegenheitsdiebe“. Es sind Leute, die inzwischen kapiert haben, wo sie gelandet sind und nun versuchen sie, die Räder der Zeit zurückzudrehen - was natürlich nicht klappen kann.

Sprachbloggeur: Aber wonach langen sie?

Dante: Nach dem Lenkrad, Carissimo mio! Die Idioten merken nicht, dass sie verkehrt rum auf dem Rad sitzen. Nur so viel wissen sie noch: dass sie eine Lenkstange brauchen, um steuern zu können. Also stürzen sie vom Rad und müssen jedesmal neu anfangen.

Sprachbloggeur: Kann man ihnen nicht helfen?

Dante: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!

Sprachbloggeur: Und sagen Sie, lieber Maestro, wer sind diese Leute da drüben in jenem finsteren See? Man sieht nur noch die Haare, die Stirn und die Augen. Sonst stehen sie unter Wasser. Es sind Tausende von Ihnen - so weit das Auge sehen kann! Ja, und man nimmt auf der Wasseroberfläche Luftblasen wahr und hört ein grauenvolles Blubbern. Beinahe höre ich meine eigene Stimme nicht mehr, so laut ist der Lärm. Und es riecht so übel! Gäääch!

Dante: Fürwahr, manche Sünden stinken besonders. Diese Leute klauten Fahrräder in großem Stil für die Fahrradmafias. Es sind alle geschickte Handwerker. Sie können jedes Schloss knacken, egal wie raffiniert es konstruiert ist. Dann transportieren sie die Räder zu einer riesigen Containeranlage, wo diese ins Ausland ausgeschaffen werden. Was Sie nicht sehen, Caro mio, ist dass man ihnen Ketten gelegt hat. Aber: Sie haben immer noch ihr Werkzeug dabei, um jedes Schloss zu knacken. Doch das hilft nicht mehr. Denn jedesmal, wenn sie ein Schloss knacken, schnappt es gleich wieder zu. Und weil sie unter Wasser so schlecht sehen, kommt es manchmal vor, dass sie sich die eigenen Beine durchsägen, durchschneiden oder durchbohren. Aber keine Sorge, die Wunden heilen wieder, stinken aber fürchterlich. Und weil sie sich damit beschäftigen, auf ihre Wunden zu pusten, wird der Gestank in den Luftblasen hochgetrieben.

Sprachbloggeur: Und wo sind die großen Mafiosi. Ich meine die Hintermänner?

Dante: Diese sieht man nie in ganzem Format - lediglich ihre Zehenspitzen. Da! Gegenüber! Schauen Sie genau hin!

Sprachbloggeur: Mensch! Da stinkt es noch fieser als bei den anderen. Was tun die da?

Dante: Sie fristen ihre Zeit - bzw. Zeitlosigkeit - tief in der Scheiße. Das wissen sie aber nicht. Im Übrigen können sie nur auf den Händen gehen. Sie verbringen ihre Zeit damit, in der Finsternis nach ihren Reichtümern zu suchen…

Als Ibims auf Gammelfleischparty traf

Ibims: Und wie heißt du?

Gammelfleischparty: Ich heiße Gammelfleischparty.

Ibims: Gammelfleischparty. Igitt, das klingt echt harsch. Woher hast du so nen komischen Namen? Bist du Bootpöbel?

Gammelfleischparty: Ne, bin Gelsenkirchener, und du? Hast du nen Namen?

Ibims: Und wie.(mit Stolz) Ibims! (Pause) Sagt dir das nichts? Kennst den Namen etwa nicht? Du schaust so skeptisch daher.

Gammelfleischparty: Sorry, Kumpel, kenn dich leider nicht. Bist nicht aus Gelsenkirchen, oder?

Ibims: Ich? Nee. Eigentlich bin ich Münchner, aber mein Vater kommt aus Frankfurt und meine Mutter aus Kleve. Kennst du Kleve?

Gammelfleischparty: Nee, nur kleveleicht. Und woher soll ich deinen Namen kennen? Hast vielleicht nen Anschlag für den IS verübt?

Ibims: Nein, Doofus. Sag mal, liest du keine Zeitungen oder so?

Gammelfleischparty: Wie soll ich denn Zeitungen lesen? Ich maloche den ganzen Tag. Ich seh. Du bist noch Student…oder bist Studierender, du Arschfaxträger, und kriegst deine Kohle von Herrn Frankfurt und Frau Kleveleicht?

Ibims: He, Mann, spielst den Besserdisser vor oder was? Bist wohl Lappengildeheini. Oder tust auf Innung oder bist bloß so ein Pimmelkopf?

Gammelfleischparty: He Atze, sprich halt Deutsch oder redet ihr alle so in München? Surfst du ego mit mir?

Ibims: Versteh nicht.

Gammelfleischparty: Ich merke, du bist emotional sehr flexibel, ein echter Hochleistungschiller.

Ibims: Ja, Innung, Innung, und niemand kehrt. Gell? Das ist bestimmt die Story deines Lebens.

Gammelfleischparty: Sag mal, Sagt dir mein Name gar nichts?

Ibims: Wie soll ich ihn kenne, bist vom Squad, oder was?

Gammelfleischparty: Hör mal, du Halbatze, falls deine Birne nicht blingo ist: Ich war das Jugendwort des Jahres 2008. Und was hast du zu melden, du Datenzäpfchen?

Ibims: Das gibt’s nicht! Im Ernst?

Gammelfleischparty: Was schmatzt du? Hast du Hardwareprobleme?

Ibims: Selber. He, Kumpel, du bist übelst Schloß Neuschwanstein, weißt du, auch wenn du affig aussiehst. Ich bin nämlich das Jugendwort des Jahres 2017.

Gammelfleischparty: Echt? Was du nicht sagst. Aber noch ein bisschen unterhopft. Brauchst vielleicht deine Stockente, und dann bist fit, Atze.

Ibims: He, wie wäre es mit ner Pizza. Ich kenn so nen Laden. Mmm. Schmeckt da schmackofatzo.

Gammelfleischparty: Komm gleich mit. Muss erst in die Pisseria.

Das Duzen: Gefahren und Nebenwirkungen

1.) Von L. folgende beunruhigende Nachricht: Bei ihr in der Firma ist das Psychocoaching (Stichwort: „Teamarbeit“) neulich eingerückt. Ein paar Tage nach dem verhängnisvollen Einzug, sprach der Geschäftsführer das „Team“ an und bat jede/n Mitarbeiter/in das Du an.

Denkanstoß: Darf man „Nein, danke“ sagen, wenn der Chef das Du anbietet?

Nach einer weiteren Woche wurde eine Mitarbeiterversammlung anberaumt. So eine Versammlung findet üblicherweise entweder vor dem Weihnachtsfest statt, um gute Laune zu verbreiten oder wenn etwas Unangenehmes bevorsteht: etwa schlechte Verkaufszahlen und die Notwendigkeit, Arbeitsplätze oder Gehaltserhöhungen zu streichen.

Diesmal aber war‘s anders: Ein energischer Psychocoach wollte die Belegschaft fürs neue Firmenkredo einstimmen - nach dem Motto „Kreativität“ und „Flexibilität“. Fortan sollten sich alle duzen, tat er kund, vom Hausmeister bis zu den Chefs.

Es folgten nun Auflockerungsübungen: aufstehen , Arme über den Kopf weit weit weit in die Höhe strecken, dann vor sich halten und weit weit weit nach vorne strecken. Dann Kreise mit den Schultern machen. „Entspannt Euch!“ trillerte er. “Spürt den eigenen Körper!“ usw.

Schließlich sollten sich alle Teilnehmer in vierer Gruppen einteilen, und zwar mit folgender Aufgabe: sich auf eine Zahl zwischen eins und neun zu einigen. Jeder durfte triftige Argumente vortragen, um von seiner/ihrer Lieblingszahl zu überzeugen.

L. geriet in eine kleine Gruppe aus der Chefetage. Auch der Geschäftsführer war mit von der Partie. Das ist passiert, weil sie nicht gut sieht und in der ersten Reihe saß - neben den Bonzen also.

In dieser kleinen Runde machte der Geschäftsführer als erster einen Vorschlag. Als Chef musste er wohl die Initiative nehmen. Er möge die sieben, meinte er. „Oder möchte jemand eine andere Zahl in die Runde bringen?“ fragte er.

Es herrschte Stillschweigen. Alle schauten sich ein bisschen gschamig an, als hätten sie entdeckt, dass sie nackt waren. Die sieben hatte also leichtes Spiel.

2.) Diese Mitteilung von L. erweckte in mir eine Erinnerung. Wir schreiben das Jahr 1996. Wir, d.h. meine Familie u. ich, leben in Portland, Maine, in den USA, ich arbeite allerdings weiterhin bei einer deutschen Zeitschrift. Man erklärt mich zum „Auslandskorrespondenten“.

Ein neuer Chefredakteur nahm damals die Zügel in die Hand. Ich kannte ihn kaum, und damals war das Mailen noch sehr exotisch. Manchmal telefonierten wir miteinander.

Während eines solchen Gesprächs sagte er mir auf einmal Folgendes: „Sollen wir uns nicht lieber ‚buh‘ sagen?“

Es war Herbst, genauer gesagt, die Halloweenzeit. (Nebenbei: in Portland feiert man das echte Halloween - nicht den ungelenken Import, der sich in Deutschland mit ach und krach etabliert hat). Von daher meinte ich, er mache einen Halloweenwitz: „Buh!“ - wie ein Gespenst.

„Buh?“ fragte ich ahnungslos.

„Ja, buh“.

„Ich versteh nicht“, räumte ich endlich ein. „Wieso ‚buh‘?“

Ja, liebe Leser, Sie ahnen schon. Er wollte mir das „Du“ anbieten. Hab ich natürlich, als ich’s endlich kapiert hab, - mit Vorbehalt - auch angenommen.

Ab dann wurde allgemein geduzt. Alle haben sich in der Redaktion geduzt - der Kreativität und der Flexibilität zuliebe. Zehn Jahre später bekamen wir einen neuen Verlagsleiter. Er sagte mir, als er mich zum ersten Mal kennenlernte (wir lebten längst wieder in Deutschland): „Ach, Sie sind Herr Blumenthal!“

Ich reichte ihm die Hand und lächelte freundlich.

Sie verdienen zu viel.“

Anfang des Endes. Fünf Jahre sägten die Chefs (Mehrzahl) unerbittlich an meinem Stuhl. Mit Ausnahme des Verlagsleiters haben mich alle bis zum bitteren Ende geduzt. Der Verlagsleiter bekommt hier einen großen Lob: Er war zwar ein Arsch, dafür aber stets ehrlich und konsequent.

Verstehen Sie „Frings“?

Die Nase voll von reuigen entlarvten Vergewaltigern? Und von Opfern, die das Übel aus der Tiefkühltruhe der Erinnerungen erst jetzt auftauen lassen? Keine Lust mehr über Flüchtlinge, über die Willkommenskultur, übers biologische Deutschtum zu debattieren? Kein Bock auf „Jamaika“ oder „Jamaica“? Und wie wär es mit etwas Pest? Frisch aus Madagaskar.

Wenn zu den obigen Fragen das „Ja“ des Desinteresses überwiegt, dann sind Sie bei mir richtig. Denn heute bekommen Sie vom Sprachbloggeur nur Triviales, sehr triviales.

Heute wenden wir uns dem/der/den „Frings“ zu.

„Frings“? Noch nie gehört?

Ich auch nicht… bis heute…bis ich den Titel einer Beilage der „Süddeutschen Zeitung“ im Wohnzimmer erspähte.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich lese obige Zeitung so gut wie nie. Das Abo hat meine Frau. Aber die Zeitung ist immerdar immer da.
Heute fiel mir, als ich am Sofa vorüberhuschte, das Wort „Frings“ ins Auge. Zunächst hab ich’s falscherweise als das englische „fringe“ („Rand“, „Franse“ usw.) registriert. Eine Beilage mit dem Namen „Rand“? Sehr ungewöhnlich, hab ich gedacht. Aber vielleicht handelt es von Randthemen … etwa von der Zahl der noch lebenden weißer Haie oder vom Wahrnehmungsvermögen eines Autisten oder den vorzeitlichen Wäldern der Antarktis oder der Struktur von Schmeißfliegenaugen usw.

Doch dann guckte ich etwas genauer und erkannte, dass der Titel der Beilage nicht „Fringe“, sondern „Frings“ lautet.

Frings? Komisches Wort, aber was bedeutet es? Erste Vermutung: Es handelt sich um ein Kofferwort (Englisch „portmanteau“), um einen Neologismus also, der aus der Verschmelzung zweier Wörter geformt wird wie zum Beispiel „Denglisch“ aus „deutsch“ + „englisch“ oder „Agitprop“ aus „Agitation“ und „Propaganda“. Für „Frings“ stellte ich mir „free things“ vor.

Warum nicht? Wär eine coole Idee für ein junges Publikum, das noch dran glaubt, man kann etwas umsonst bekommt.

Ich nahm die Beilage in die Hand und begutachtete sie. Flottes Design, konstatierte ich, auch wenn das Papier billig ist, Zeitungspapier halt. Dann sprang mir das Kleingedruckte ins Gesicht. Es hieß: „das misereor magazin“ (klein geschrieben). Aha! „Frings“ ist - kaum zu fassen - ein Infoblatt des Bischöflichen Hilfwerks der katholischen Kirche. Ich erinnerte mich dann, dass dieses Blatt früher tatsächlich „Misereor“, lateinisch für „ich fühle mit“, „ich habe Mitleid“, hieß.

Schöner Einfall, hab ich gedacht. Wer will eine Zeitschrift namens „Misereor“ lesen? Jeder denkt an „Misere“. Und mal ehrlich: Wer liest gern über die Miseren anderer, es sei denn diese geil machen, wie die am Anfang dieses Textes erwähnten?

So weit, so gut. Aber „Frings“?

Nun hab ich „Frings“ gegoogelt und stieß prompt auf Torsten Frings, einen ex-Fußballer und nunmehr Trainer. Ich fand aber keine Verknüpfung zu besagter Beilage.

Also googelte ich weiter. Diesmal „Misereor“ und war sofort fündig. Auf dieser Webseite war eine Abbildung des Beilage-Covers zu sehen. Warum das Blatt „Frings“ hieß, konnte ich aber nirgends entdecken, lediglich das Bild einer freundlich aussehenden Dame. Neben ihr das Wort „Fragen?“ und eine Telefonnummer. Selbstverständlich rief ich an. Das Telefon klingelte…und klingelte…und klinglete… und klingelte. Keine(r) ging ran. Nach 56 Sekunden legte ich ein.

Beinahe hätte ich meine Suche aufzugeben, doch dann klickte ich nur noch zum Spaß auf eine irgendwie nixsagende Misereor-Seite und stellte fest, dass ich vor mir eine mehrseitige Rede von einem gewissen Joseph Kardinal Frings hatte, die er im August 1958 in Fulda vor der Vollversammlung der deutschen Bischöfe anlässlich der Gründung von MISEREOR gehalten hatte.
Aha! Frings war ein Kardinal. Und man kam auf die Idee, eine Zeitschrift nach ihm zu nennen. Wer hätte gedacht…

Jetzt bin ich überzeugt, dass Frings allemal schöner klingt als Misereor und sonstige Miseren.

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