Kann es sein, dass ich schon jetzt das Wort des Jahres 2017 erraten habe? Wer weiß?
Okay, so sicher bin ich…noch…nicht, aber ich möchte trotzdem einige der wichtigsten Kandidaten vorstellen. Und falls ich recht habe, dann wissen Sie, wo Sie dies zum ersten Mal erfahren haben…
Erstes Begriffskonglomerat: „Populist“, „Populismus“, „populistisch“ usw.
Den Medien zufolge ist der „Populismus“ etwas sehr Übles. Das weiß ich, weil ich Spiegel-Online, die New York Times und die Münchener Abendzeitung lese. Alles, was unsere Gesellschaftsordnung zersetzen könnte, bezeichnen die Journalisten dieser Blätter als „populistisch“.
„Populismus“ stammt, wie jeder weiß, vom lateinischen„populus“. Gibt es vielleicht ein deutsches Äquivalent? Leider nicht, und mit „Popel“ hat es überhaupt nix zu tun. Wie wäre es mit „völkisch“? Nein, geht nicht. „Völkisch“ klingt zu sehr nach „Stammtisch“, „Schuhplattlerei“, „Czardas“ usw.
„Populistisch“ ist irgendwie anders, da mit „populär“ verwandt. Allerdings: „Wetten dass…“ war mal populär…aber nie populistisch. Sie sehen, es wird kompliziert.
Nur eins steht fest: „Populistisch“ ist wohl das Gegenteil von „elitär“. Alles, was mit der „Elite“ zu tun hat, geht den Populisten auf die Nieren: z.B., die EU-Führung. In der Schweizer „Weltwoche“ hab ich gelesen, dass Martin Schulz 33 Bedienstete habe - darunter zwei Chauffeurs. Es fehle nur der Vorkoster, hieß es. Haha. Und er spricht drei Sprachen!
Oder die Bundesregierung, die Gesetze verabschieden, die vielen Leuten (notabene: „Leute“, lateinisch „populi“) auf die Nieren gehen. Elitengesetze, denken manche und fragen: Wann waren diese Heinis das letzte Mal bei Tengelmann, Rewe oder Edeka…? Tja.
Im Populistentalk, heißen die „Medien“ „Lügenpresse“ usw.
Nebenbei: Früher stand am Titelkopf der New York Times: „All the news that’s fit to print“. Zu Deutsch: „Alle Nachrichten, die es sich ziemt zu drucken“. Daraus machten manche Witzbolde: „All the news that fits we print“ - also: Alle Nachrichten, für die es Platz gibt, drucken wir. Haha.
Der neue amer. Präsident - für manche, ein Populist - hat die New York Times (die „failing“ NYT in Trumptalk) heftig angegriffen. Ein Lügenblatt halt.
Wie wir gerade von der „Lügenpresse“ reden: Haben Sie‘s schon gehört?
Manche munkeln, wir leben in der „Post-Truth-Era“. „Post-Truth-Era“ wäre auch ein netter Kandidat fürs Wort des Jahres 2017, oder? Es bedarf aber einer Übersetzung. Doch ich kenne einen noch schöneren Begriff: „Fake News“. Auch leider noch nicht verdeutscht, aber das kann sich noch ändern.
Die „Fake News“ scheinen momentan wirklich Hochkonjunktur zu haben. Denken Sie an die Trump-Tweets in den USA, die Putin-Nachrichten-Netzwerk, die Verschwörungstheoretiker, die über Twitter und Facebook (manche sagen schon „Fakebook“) ihre Märchen verbreiten.
Und hier noch ein Kandidat, obschon auch in diesem Fall noch keine dt. Übersetzung zur Verfügung steht: .“Alt-Right“. Zu Deutsch, die „alternativen Rechte“ (was leider sehr langweilig klingt). Das sind die Leute, die Franz-Josef Strauß früher als „rechts von der CSU“ bezeichnet hätte.
O je. Qual der Wahl Zeit. Mir fällt aber auf, dass sie allesamt keine schöne Wörter und Begriffe sind.
Aus diesem Grund möchte ich eine Wendung meiner Nachbarin, Frau Rieder, als Wort des Jahres 2017 vorschlagen. Sie hat sie selbst erfunden. Neulich ist sie am helllichten Tag am Marienplatz in München gestürzt. „Ich lag flach wie eine Briefmarke“, erzählte sie mir.
„Das tut mir leid, Frau Rieder, aber Ihre Beschreibung ist so original, dass ich sie mal zitieren möchte, damit andere sie kennenlernen.“
Sie schaute mich sehr skeptisch an.
„Keine Sorge“, sagte ich, „ich werde Sie als Quelle angeben.“
Meiner Meinung nach soll „flach wie eine Briefmarke“ zum Begriff des Jahres 2017 auserkoren werden. Man kann ihn sehr vielfältig anwenden…
Ich wollte heute etwas über den „schwarzen Freitag“ erzählen, aber nun ist er ohnehin vorbei.
Keine Sorge. Hier erwartet Sie keine Polemik über die sündige Konsumgesellschaft, keine Besserwisserei von einem versnobten Intellektuellen. Ich wollte lediglich über den „schwarzen Freitag“ erzählen, weil ich ein sprachinteressierter Mensch bin.
Eigentlich heißt er „bläkk freidäj“ und ist made in America. Das wissen Sie aber schon.
Noch präziser: Der Black Friday bezeichnet in den USA den Freitag nach Thanksgiving (findet immer am letzten Donnerstag im November statt). An diesem Tag, laden die Warenhäuser (sowohl die konkreten wie auch die virtuellen) mit vielen Schnäppchen zum Einkauf ein, um quasi den Weihnachtssaison einzuläuten. „Shop till you drop“ heißt es in den USA. Die Preise purzeln derart, dass man damit rechnen kann, dass sich schon Stunden vor der Öffnungszeiten ein großes Publikum, lechzend und hechelnd, vor der Eingangstür einsammeln wird. In jedem Kaufhaus halten sich deshalb Journalisten und Bürgerreporter parat, um mit Fotoapparat oder Handykamera die unwürdigsten Szenen und Schlägereien zu knipsen (in der Hoffnung diese an die Medien zu verkaufen oder auf YouTube auszustrahlen).
An den Internetportalen finden freilich keine Schlägereien und unwürdige Szenen statt. Deswegen bin ich überzeugt, dass das Internet nicht lange halten wird. Mit Ausnahme von Pornoseiten und YouTube wird das WehWehWeh immer langweiliger.
In Deutschland gibt es natürlich kein Thanksgiving (zu Deutsch „Erntedankfest“) am letzten Donnerstag im November. Trotzdem hat sich in jüngster Zeit der Begriff „Schwarzer Freitag“ rapide eingebürgert. Ich glaube, ich bin irgendwo auf einen „weißen Freitag“ oder „grünen Montag“ (nicht mit dem „grünen Donnerstag“ zu verwechseln) gestoßen. Sprache macht immer erfinderisch.
Doch auch in den USA hat das mit dem „Black Friday“ keine lange Tradition. Ich hab drüber nix Genaues zu berichten. Ich hätte natürlich den Begriff auf Wikipedia nachschlagen können, war aber zu faul. Ich denke aber, dass es diese Bezeichnung höchstens seit etwa zehn Jahren gibt. Keine Ahnung.
Doch warum muss diesen Freitag ausgerechnet als „schwarz“ gelten? Denke ich an einen„Black Friday“, fällt mir anderes ein.
Zum Beispiel, an den Börsenkrach, der 1929 die USA und Europa in eine Katastrophe hineinschlittern ließ, die erst 1945 ihr Ende fand.
(Okay, weiß jemand unter fünfundzwanzig, was das Jahr 1945 für ein Bewandtnis hat?).
Sorry, schlechter Witz, aber er kommt nicht von ungefähr. Die Zeit vergeht, und die junge Generation vergisst. Anyway: War das nicht auch 1929 an einem „schwarzen“ Freitag geschehen? Nein. Es war ein „schwarzer Dienstag“ gefolgt von einem noch schwärzeren Donnerstag. Wenn der Börse abstürzt, gilt der Tag einfach als „black“.
Zur Erinnerung: Damals sind die Börsenspekulanten auf der Wall Street, in London, in Frankfurt, Paris, Wien et cetera vor lauter Verzweiflung aus den Fenstern gesprungen. Zumindest, das hat man immer erzählt.
Ob es wirklich so war, weiß ich nicht und bin zu faul um es auf Wikipedia nachzuschlagen.
Ich weiß immer noch nicht, warum ein Tag, der den Zweck hat, Menschen dazu zu bringen, Geld auszugeben, als „schwarz“ bezeichnet wird.
Man kennt „schwarze“ Gedanken, „schwarze“ Witwen, „blackouts“, „blackguards“ (Haudegen - sprich „blägg’rdz“) - alles negativ belegt.
Nur der black Freitag soll was Positives ausstrahlen. Komisch, gell? Nein, stimmt nicht ganz. In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den USA hieß es „black is beautiful“.
Ich habe heute leider keine Antworten auf diese wesentlichen Fragen und bin zu faul sie zu googeln. Fest steht nur: Ich hab an diesem Tag nix gekauft.
Fangfrage: Welches von allen Büchern dieses Weltalls landet kurz nach seiner Erscheinung mit Sicherheit in der Altpapiertonne?
Nein, nicht das Branchenverzeichnis. Das hat man ein ganzes Jahr (wenn man’s überhaupt noch hat). Und nein, auch die „Twilight“-Serie über die Teenie-Vampire ist hier nicht gemeint. Diese Bücher drohen immer wieder Pubertierende aller Altersgruppen in ihren Bann zu ziehen.
Ich bin kein Sadist, und ich möchte deshalb die Spannung nicht ins Unerträgliche hinausziehen.
Die Antwort lautet natürlich „Das Lexikon der Jugendsprache“. Ich glaube, die neueste Inkarnation dieses jährlichen Ritus - von Langenscheidt verlegt - heißt „100 Prozent Jugendsprache 2017“.
Bitte verstehen Sie diesen Hinweis auf einen Produktnamen nicht als Schleichwerbung, sondern lediglich als Versuch, ein Phänomen zu veranschaulichen. Ohnehin vermute ich, dass Langenscheidt etwas weiß, was mir entgangen ist: dass das Verlegen solcher lexikalischer Eintagsfliegen trotz ihrer Kurzlebigkeit ein sehr lohnendes Geschäft ist.
Ja, wir sind bei der sog. Jugendsprache. Vielleicht wäre mir das Thema gar nicht aufgefallen, wenn ich nicht auf einen ellenlangen Text darüber in der Münchner Abendzeitung gestoßen wäre. Das war bereits letzte Woche.
Am selben Tag fand ich ebenfalls einen Text zum Thema im Spiegel-Online vor. Der Anlass - wie jedes Jahr - war natürlich die Kur des diesmaligen Jugendwortes des Jahres. Es ist immer derselbe Rummel: als handelte es sich um eine Art Nobelpreis für den Jugendslang.
Wie heißt das Jugendwort dieses Jahres? Wahrscheinlich kennen Sie es schon. Auch Sie lesen Zeitungen (egal ob die kostenpflichtigen papiernen oder die kostenlosen elektronischen). Für den Fall aber, dass Sie die Nachrichten diesmal verpasst haben, darf ich vorstellen: Wir feiern den Begriff „fly sein“.
Hand aufs Herz: Haben Sie diese Redewendung gekannt? Mir war sie völlig unbekannt. Vielleicht weil ich in den Kreisen nicht mehr verkehre, wo man mit so einem Idiom konfrontiert wird. Der Abendzeitung zufolge heißt es „besonders abgehen“.
Und jetzt wieder eine Peinlichkeit: Ich habe das Idiom „besonders abgehen“ zunächst total falsch verstanden. Ich dachte, es muss „fehlen“, „vermissen“ bedeuten. Wie wenn man, z.B., sagt: „Ja, die Straßenbahn acht fährt nicht mehr. Sie geht mir besonders ab.“ Meine Frau musste mich aufklären.
Mittlerweile weiß ich, was „fly sein“ für einen Sinn hat; zugleich habe ich es akribisch unter die Lupe genommen. Und: Es ist genau, wie ich vermutete…eine Lehnübersetzung aus der englischen (und amerikanischen) Sprache. „Fly sein“ ist nämlich eine wörtliche Übertragung der Redewendung „to be fly“, d.h.: „to be cool“. Z.B.: „I’m so fly“ sagt man oder „He was driving some fly ass [d.h. “cool”] car“ usw.
Und guess what: „Fly sein“ existiert in der englischen Sprache seit mindestens zweihundert Jahren (wenn nicht länger). Nach einem wohl sehr langen Winterschlaf ist es dann in den 1980er Jahren wieder aufgetaucht.
Aber wie kommt es, dass dieses Idiom ohne Visum, ohne Asylantrag wie aus dem nichts und im Nu in der dt. Sprache heimisch geworden ist? Wegen der globalisierten Massenmedien natürlich!
Ich kann es noch präziser platzieren: dank einer gewissen Sängerin namens Daya (mir leider unbekannt). Sie hat dieses Idiom in einem Popsong, „Hide Away“, gesungen…
Doch nun das wahre Wunder: Diese Redewendung hat jemandem in Deutschland offenbar sehr gefallen, und plötzlich hat sich „Fly sein“ so schnell grassiert wie die Vogelpest.
Und nun kennen Sie die ganze Geschichte.
Be fly, dear readers, be fly.
Ja, ich weiß, dass Sie, weil ich Amerikaner bin, neugierig sind, wie ich mich zu Donald Trump verhalte. Normalerweise lass ich mich auf Gespräche über Politik oder Religion nicht ein…
Doch soviel möchte ich sagen: Ich bin froh, dass ich nicht „Trump“ heiße, obwohl der Name nicht ganz ohne ist. Immerhin: „Trump“ auf Englisch hat dieselbe Bedeutung wie im Deutschen „Trumpf“. Außerdem hört man - in beiden Sprachen - das Wort „Triumph“ heraus- und „Trompete“ (trumpet).
Für einen Politiker ist ein derartiger Name wahrhaftig ein Lottosechser.
Für einen Schriftsteller finde ich den Namen völlig ungeeignet…
weil ich sofort an die engl. Vokabeln denke, die sich mit „Trump“ reimen: etwa „plump“ (dicklich), “lump“ (Beule), „ hump“ (Buckel), „bump“ (auch Beule), „dump“ (niedergekommene Bude), „stump“ (Stumpf), „rump“ (Hinterteil). Manche dieser Wörter können außerdem als unflätige Zeitworte benutzt werden.
Ein Schriftsteller braucht einen Namen, der rhythmisch, wohltuend, und auch keck klingt. Das tut „Trump“ nicht. „Mark Twain“ hingegen sehr wohl.
Was mich betrifft: Schon mit elf Jahren hab ich mir wegen des empfundenen Wohlklangs den Namen „P.J. Blumenthal“ angelegt. Das tat ich, weil sich mein urspr. Vorname „Paul“, (zumindest auf Englisch) mit meinem Nachnamen „Blumenthal“ (das „th“ klingt wie bei „thing“) reimte. Wenn schon ein Reim, dann muss er irgendwie wohltuend klingen. Mir fallen im Augenblick keine positiven Beispiele ein.
Aber zurück zu Trump. Manchmal beneide ich ihn. Er überlegt nie lange. Er sagt einfach das, was ihm in den Sinn kommt und ändert seine Meinung auf laufender Bahn ohne sich jemals für eine Version seiner Geschichten verbindlich zu entscheiden. Und das funktioniert prima!
Ich hingegen kämpfe ständig um die Worte. Ich schreibe meine Texte mehrmals um, grübele, ringe um die Logik, bin nie ganz sicher, ob ich das Richtige geschrieben habe. Manchmal wird ein Text zehnmal überarbeitet. Und trotzdem bin ich nicht unbedingt zufrieden und meine, ich krieg’s nie richtig hin.
Der irische Lyriker William Butler Yeats stellte einmal fest, er habe beim Schreiben stets Blut geschwitzt. Günther Grass äußerte sich ähnlich. Er habe seine Bücher - das hab ich mal in einem Interview gelesen - oft sechsmal überarbeitet.
Und da steht Trump. Nach seiner Wahl wurde er wegen seiner vielen Widersprüche und, ja, glatter Lügen von einer Journalistin um eine Erklärung genötigt. Seine Antwort: „Ich hab gewonnen, oder?“
Man sagt auf Deutsch, dass Lügen kurze Beine haben. Ich denke, dass Mr. Trump darauf antworten würde: „Und Giraffen haben lange Beine.“
Aber wissen Sie was: Ich denke, dass Politiker und Schriftsteller etwas Wichtiges teilen: Das Lügen dient uns beiden als unentbehrliches Werkzeug.
Ein Schriftsteller, der nicht lügen kann, ist so langweilig wie ein Politiker, der die Wahrheit erzählt. Schließlich will man eine spannende und überzeugende Geschichte erzählen, die jedem gefällt.
Jetzt wissen Sie, was Trump und Blumenthal einigt und unterscheidet. Ich habe das Thema freilich kaum erschöpft: Das ist aber eine andere Geschichte…
Wir befinden uns im Paradies… Sie wissen schon: in meinem Lieblingsobstundgemüseladen…
Frau M.: Hier, ich schenke Ihnen die Avocados.
Sprachbloggeur: Wieso das? Die schauen prima aus. Frau M., manchmal hab ich das Gefühl, Sie verwöhnen mich.
Frau M.: Nein, darum geht es nicht. Sie sehen es vielleicht nicht, aber, wie soll ich’s sagen, diese Avocados haben einen Hohlraum unter der Haut, und an der Stelle sind sie wahrscheinlich eingedrückt.
Sprachbloggeur: Aber sie sehen perfekt aus. Ich werde aus ihnen einen Guacamole machen. Das bisschen Dunkle an der Druckstelle schneidet man einfach weg. Das hat man oft bei Avocados. Was ich nicht mag, das sind Avocados, die wie Gummi schmecken. Die schmeiß ich einfach weg.
Frau M.: Ja, leider. Wahrscheinlich wurden sie zu früh geerntet. Avocados reifen nie nach.
Sprachbloggeur: Wissen Sie, was nach Gummi schmeckt? Klapperschlange. Sie schauen mich so skeptisch an. Ja, ich hab mal Klappeschlange gegessen.
Frau M.: Iiii! Wo kriegt man so was?
Sprachbloggeur: Es war in einem vornehmen Restaurant in Arizona. Aber völlig ungenießbar, als würde ich an einer Schuhsohle kauen. Auch sonst schmeckt es nach nix. Ohne die pikante Sauce hätte ich’s nicht essen können.
Frau M.: So stell ich mir Schnecken vor.
Sprachbloggeur: Nein, sie sind anders. Ja, ich hab Schnecken ein paarmal gegessen. Inzwischen hab ich vergessen, wie sie schmecken. Man tut vieles, wenn man jung ist. Jetzt hätte ich keine große Lust mehr. Auch Insekten machen mich nicht neugierig.
Frau M.: Pfui Teufel. Die isst man in Asien.
Sprachbloggeur: Dafür hab ich mal Känguru gegessen.
Frau M.: Wo kriegt man so was?
Sprachbloggeur: Das war im spanischen Restaurant, das hier früher um die Ecke war. Hat lecker geschmeckt. Ein zartes Fleisch. Auch Vogelstrauß hab ich dort gegessen. Leider war er zäh wie eine unreife Avocado.
Frau M.: Was? Ich hätte gedacht, er würde schmecken wie Huhn. Vielleicht haben Sie einen schlechten erwischt. Hier in Bayern werden Vogelstrauße gezüchtet. Man sieht sie und denkt, man ist in der Sahara.
Sprachbloggeur: Hab mal in Tschechien so eine Anlage gesehen. Wenn sie alle schmecken wie Gummi, seh ich da keine Zukunft. Dann lieber gleich Tintenfisch.
Frau M: Na wirklich, Herr Sprachbloggeur. Man hat das Gefühl, Sie haben von allen Dingen a bisserl was gekostet…
Die ganze Zeit wollte ich auch sagen, dass ich mal Walfisch gegessen habe. Irgendwie kam ich nicht dazu, weil das Thema stets woanders hinwollte. Der Walfisch kam aus einer Dose, die ich in einem Supermarkt in Santa Barbara gekauft hatte. Übrigens: Auch aus der Dose hat der Walfisch gut geschmeckt, irgendwie wie Rindfleisch. Mmm. Hätte ich auch gern frisch probiert. Ich weiß, das es politisch unkorrekt ist, so zu denken.
Sprachbloggeur Ja, und mal Froschschenkeln…
Forsche Kundin: Könnte ich einen Mischsalat haben? Zweihundert Gram.
Sprachbloggeur: Ach, tut mir leid. Wir waren dabei, über Avocados zu sprechen… Ich hab Sie gar nicht wahrgenommen…
Forsche Kundin: Und eine Petersilie. Haben Sie reife Birnen?
Frau M.: Ja, klar. Abate? Gute Luise? Williams?
Noch dazu hab ich das Allerwichtigste vergessen: zu fragen, warum es DIE und nicht DER Avacado heißt. Das hab ich nie verstanden, was mit dem „O“ am Schluss…Ja und wie steht es mit Guacamole: der, die oder das? Ich jedenfalls weiß es nicht…
Der Brief, den ich neulich aus Berlin erhalten habe, hat mich sehr überrascht.
Man hat sich bei mir erkundigt, ob ich Interesse habe, Bundespräsident zu werden. Leider hab ich vergessen, wer den Brief unterzeichnet hat. War irgendein hohes Tier.
Okay. Ich gebe zu. Natürlich war ich geschmeichelt, dass man an mich gedacht hat.
Wieso mich? fragen Sie vielleicht. Wahrscheinlich weil ich vor fünf oder sechs Jahren, als man damals den Bundespräsidenten wählen sollte, und die Politiker ein großes Wettrennen zwischen Herrn Gauck und Herrn Wulff veranstalteten, eine Sprachbloggeur-Glosse gepostet hatte, in der ich mich als Bundespräsidenten empfohlen habe.
Warum nicht? hab ich damals gedacht. Ich hab das Zeug dazu. Darüber hinaus bin ich kein schlechter Mensch und besitze außerdem ein angeborenes Gefühl für Gerechtigkeit.
Ich möchte aber hier nichts vertuschen. Ich hatte nämlich damals auch einen anderen Grund, dieses hohe Amt anzustreben: Ich steckte in einer Lebenskrise. Meine Karriere (haha) als Journalist war nach vielen Jahren gerade zu Ende gegangen, und ich stellte fest, dass meine Rente sehr bescheiden war… zu bescheiden. Ich höre noch heute, wie meine Frau damals tobte. „Ich hab dir vor Jahren eingebläut, du musst mehr in die Rentenkasse einzahlen…usw.“ Ich war nämlich kein Angestellter, sondern „fester-freier Mitarbeiter“. Heute würden manche sagen ein „Scheinselbstständiger“.
Werde ich Bundespräsident, sann ich, kann ich meine Rente ein bisschen aufstocken. Meine Frau wird sich freuen. Aber die Wahl ging an Christian Wulff und später dann an Joachim Gauck.
Allerdings: Wäre ich damals gewählt worden, hätte es ein Problemchen gegeben: Ich war (und bin noch immer) nämlich kein deutscher Staatsbürger. Aber sicherlich hätte man das schnell regeln können. Where there’s a will, there’s a way, sagen wir.
Inzwischen sind einige Jahre vergangen, und ich hätte die ganze Episode längst vergessen, wäre es nicht für den Brief aus Berlin. Denn ich bin mittlerweile recht zufrieden mit meinem jetzigen Dasein. Okay. Ich lebe bescheiden. Aber warum nicht. Wie man so schön sagt: Wozu zwei Toiletten, wenn man nur einen Arsch hat?
Diesmal werde ich deshalb dankend ablehnen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich fühle mich weiterhin sehr geehrt. Doch heute weiß ich, dass ich für eine solche Aufgabe völlig ungeeignet bin. Die darauffolgende Rentenaufstockung lockt mich nicht im Geringsten an.
Ich meine: Vielleicht macht es Ihnen Spaß, täglich hunderte von Terminen zu haben und immer auf Trab zu sein.
Nix für mich. Und das viel Reisen. Bääh. Wenn ich nicht selber am Steuer sitze, kann es sogar vorkommen, dass ich autokrank werde. Ist so seit meiner Kindheit. Passiert mir auch mal in Flugzeugen und sogar im Zug. Die Vorstellung, Interviews im Flieger halten zu müssen, stößt bei mir wortwörtlich sauer auf. Noch schlimmer in einem Hubschrauber irgendwohin flitzen zu müssen. Pfui Teufel!
Noch dazu: Der Bundespräsident muss stets gute Laune zeigen - es sei denn, er spielt gerade die Rolle des Mahners. Ich hingegen bin halt ein launischer Mensch und nicht immer gut drauf. Und dann immer wieder aushäusig essen zu müssen. Schrecklich. Ich hab nämlich einen sehr empfindlichen Magen.
Immer unter Menschen zu sein - und es zu genießen. Dafür muss man ein besonderes Talent haben. Denken Sie an Papst Franziskus und Papst Benedikt. Ich bin halt ein Benni - auch wenn ich Francesco sehr schätze. Ich schiebe lieber eine ruhige Kugel, gehe gern spazieren, denke über Dinge nach, setze mich dann am Schreibtisch, lese oder schreibe.
Also vielen Dank, Freunde in Berlin. Diesmal bitte ohne mich. Inzwischen weiß etwas mehr darüber, wer ich bin.
Womöglich ist Ihnen der Name Justine Sacco ebenso wenig bekannt wie mir der Fall war. Ich bin ganz zufällig in einem Artikel des Journalisten Matthias Matussek in der Weltwoche auf ihn gestoßen. Matussek selbst hat wohl den Fall Justine Sacco in einem Buch des amerikanischen Autors Jon Ronson aufgegriffen.
Finden Sie es auch faszinierend, wie ein Ereignis von jemandem aufgegriffen wird, und wie ein Anderer das Aufgegriffene entdeckt und weiterleitet an den Nächsten…usw.?
Der Amerikaner Ronson hat 2015 „So You’ve Been Publically Shamed“ veröffentlicht. Der Titel der deutschen Übersetzung (worauf sich Matussek bezieht) lautet: „In Shitgewittern - Wie wir uns das Leben zur Hölle machen.“
(Nebenbei: „Shitgewitter“ ist ganz offenkundig eine Abwandlung des deutschen „Shitstorm“. Stammleser des Sprachbloggeurs wissen längst, dass „shit storm“ auf Englisch eine völlig andere Bedeutung hat als im Deutschen, nämlich „heftige Rüge einer Person an eine andere“.)
Aber zurück zum Phänomen Überlieferungsketten (z.B. Ronson > Matussek > Sprachbloggeur > Sie), denn im Fall Justine Sacco, handelt es sich gerade um dieses Thema. Und nun zum „Twitter“.
Justine Sacco, damals 30 Jahre alt, war 2013 auf dem Weg von New York nach Kapstadt. Um die Zeit totzuschlagen, schickte sie unterwegs „Tweets“. Eine harmlose Beschäftigung. Machen auch viele. Und immerhin: Justine hatte 170 „Followers“, die ihre getweeteten Beobachtungen gerne lasen.
Zugegben: Es war nur dummes Zeug. Aber warum nicht? Blabla, hab ich mal gelesen, ist irgendwie gut für die Gesundheit. Sie hat getweeted, z.B., dass der Sitznachbar ein Deodorant hätte gut gebrauchen können, dass die Engländer (dies am Flughafen Heathrow beobachtet) schlechte Zähne haben (übrigens: ein bekannter amer. Vorurteil über die Brits) und dergleichen.
Aber dann ist es passiert: In einem Tweet, den sie vor dem Abflug nach Kapstadt, abschickte, teilte sie ihren „Followers“ Folgendes mit (ich verdeutsche): „Fliege nach Afrika. Hoffentlich krieg ich kein Aids. Nur ein Witz. Bin schließlich eine Weiße.“
Sie freute sich über dieses, für ihr Verständnis, ironische Kommentar. Denn, wie sie später berichtete, wollte sie mit ihrem Tweet lediglich aufs Unrecht bezüglich der medizinischen Versorgung HIV-infizierter Schwarzer in Südafrika hinweisen.
Leider ist das Tweet irgendwie in die falsche Kehle gerutscht: Kaum war sie - nach einem ereignislosen Flug - in Kapstadt angekommen, klingelte ihr Fon. Ihre beste Freundin war am Apparat und berichtete, dass Saccos Tweet bereits millionenfach gelesen wurde, und dass sie in Twitterland nunmehr als Bilderbuchrassistin verunglimpft wird. Zur Erinnerung: Hier geht es um Überlieferungsketten. D.h.: Eine(r) ihrer 170 „Followers“ hat das „Tweet“ als verdächtig erachtet und weiter „getweetet“ bzw. „retweeted“, und bald hatten es tausende, dann hunderttausende und schließlich…millionen entsetzte Fremde gelesen.
Justine Sacco, unbescholtene Bürgerin, wurde innerhalb weniger Nanosekunden zu einer der verhasstesten Personen im ganzen Sozialnetzwerk. Ihr Twitterkonto war im Nu restlos mit bösartigen Tweets vermüllt: mit wüsteten Beschimpfungen, Bedrohungen usw. Dazu zählte ein Tweet von ihrem Arbeitgeber: Sie wurde fristlos gefeuert. Obendrein: Im Flughafen Kapstadt wurde sie gleich nach ihrer Ankunft von einem wildfremden Menschen mit einem Handy abgelichtet. Und bald wurde ihr Konterfei überall im Netz steckbriefartig sichtbar und sie zum Abschuss ausgelobt. Einer richtete sogar ein Twitterkonto mit dem Namen #HasJustineLandedYet ein, um den Zorn der Massen entgegenzunehmen.
Ihre Versuche durch Erklärungen die Wogen zu glätten, fielen selbstverständlich auf taube Twitterfanatikerohren. Zwei Jahre später berichtete Jon Ronson in der New York Times über diesen Fall, der für sein Buch zum Paradebeispiel werden sollte, um ein grausames Phänomen, das nicht so selten vorkommt wie man sich vielleicht vorstellt, zu veranschaulichen. (Denken Sie Stichwort: Verschwörungstheoretiker) .
Mein Fazit: Elektronischer Tratsch ist noch gefährlicher als der gute alte Dorfplatztratsch. Denn man erreicht in einem Handumdrehen die ganze Welt. Sehr praktisch.
Falls Sie gerne das Leben anderer zerstören möchten, wissen Sie jetzt, wie es am besten zu bewerkstelligen ist.
Willkommen im Kommunikationszeitalter.
Klingel Klingel.
„Ja, hallo?“
„Post.“
„Post? Es ist halb sieben. Es gibt keine Post um halbsieben.“
„Paket fur Nachbar.“
„Für wen?“
„Fur Ss’mitt.“
Okay, Frau Schmidt ist in der Tat sehr nett, und irgendwie bin ich in unserem Haus, wenn die Zusteller (notabene: Mehrzahl) läuten, doch die Paketdienststelle geworden. Schriftsteller zu sein hat eine Allüre wie unvermittelbarer Langzeitarbeitsloser. Also bin ich auch diesmal weich geworden…
„Aber nur dieses eine Mal. Verstehen Sie? Post bringt man unter Tag und nicht, wenn es schon Abend ist. Verstehen Sie?“
Ich mache auf. Unten poltert einer rum. Ich höre, wie er penetrant und vergeblich an Nachbartüren klingelt. Mich lässt er allerdings nun eine Weile einfach hängen. Nach ein paar Minuten will ich die Tür zumachen, doch schon galoppiert er der Treppe herauf.
Ein junger Mann mit traurigen, unschuldigen Augen und kurzen blonden Haaren steht mir entgegen. Er ist nicht groß, ein bisschen stämmig. Nein, er ist nicht von der Post, natürlich nicht, sondern von einem der vielen Paketdiensten, die in den letzten Jahren wie Schimmel auf einer überreifen Tomate blühen. Wenn man via Sprechanlage fragt, nennen sich alle „Post“. Sie wissen, dass man bereits dressiert ist, die Haustür per Knopf zu entriegeln, wenn man dieses Wort vernimmt.
„Das ist das letzte Mal am Abend. Verstehen Sie. Ich mache für Sie gerne die Tür auf, wenn es Tag ist. Aber abends nicht mehr. Kommt nicht mehr in Frage. Verstehen Sie. Abends bringt man keine Pakete. Zumindest mir keine.“
Er schaut mich mit großen, unschuldigen, traurigen Augen an. Das Gesicht ist rund wie eine Uhr ohne Zeiger. Er blinzelt ein paarmal. Er lächelt, schüttelt ahnungslos mit dem Kopf. „Nix verstehen.“
Aha, denk ich. Was nun? „Zu spät jetzt“, sag ich sehr langsam und zeige dabei auf meine Armbanduhr. Zugleich schüttele ich mit dem Kopf. „Keine Post jetzt. Nein. Zu spät. Verstehen Sie?“
Ein schüchterner Blick. Er lächelt und macht eine Geste, die „nein“ bedeuten soll.
„Nix Post jetzt,“ sag ich noch knapper. Ich zeig wieder auf meine Uhr und bewege meinen Zeigerfinger gegen den Uhrzeigersinn „Früh. Ja. Tag. Sonne. Jetzt Nacht. Nein. Letztes Mal.“
O je. Dass ich den Tag erleben muss, dass ich mit einem Fremden „Gastarbeiterdeutsch“ (notabene: Das Wort ist politisch unkorrekt) spreche. Hilfe! Auch mit mir haben Leute mal so geredet. Sie nahmen meinen Akzent wahr und meinte, ich bin halt doof.
Immerhin ist er glücklich dass er mir das Paket für Frau Schmidt in die Hand drücken darf. Er lässt mich unterschreiben und geht munter seinen Weg.
Am nächsten Tag. Es ist 14h. Es klingelt. Ich gehe zur Tür. „Ja, bitte?“ frage ich.
„Post.“
Er ist es wieder. Auch diesmal fliegt er die Treppe hoch. Er lächelt breit: „Paket fur Mjiller.“
Frau Müller ist auch nett. Natürlich nehme ich das Paket entgegen. Aber nun denke ich: Hat er mich vielleicht doch verstanden. Kommt er künftig nur noch bei Tag. „Welche Sprache sprechen Sie?“ frage ich.
„Moldava…ähm…Rumänisch.“
„Ich leider nicht. Ein bisschen wie Italienisch, oder?“
„Italienisch, Rumänisch…bisschen.“ Er lächelt. „Danke. Tschüss.“ Und schnell springt er der Treppe runter.
Aber: Klingelt er bei mir auch morgen Abend wieder? Das ist die große Frage.
Willkommen, liebe Zeitgenossen, im Dienstleistungszeitalter. Alles billig. Alle reden mit Händen und Füßen. Und keiner geht Shopping. Ihre Welt.
Hand ins Feuer: War es früher nicht schöner? Ich meine damals, als man noch ins Fachgeschäft ging.
Unfair. Ich verbringe ein halbes Leben in der Fremdsprache, und trotzdem stoße ich auf ganz einfache deutsche Vokabel, die mir total fremd sind. Vielleicht erleben Biologen das gleiche, wenn sie während eines Madagaskarbesuchs auf eine Eidechse treffen, von der man bisher keine Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gibt.
In meinem Fall geht es um das Wort „halbscharig“. Sie kennen es ganz bestimmt. Ich nicht.
Ich habe es erst in der Münchener Abendzeitung entdeckt - in einer kurzen Notiz zum Thema „Schrottrad-Aktion“.
Hier der Satz: „Wer sein halbscharige Mühle also noch sichern will: jetzt aber schnell!“
„Halbscharige Mühle“? Zugegeben. Auch das Wort „Mühle“ hab ich als Bezeichnung für ein Fahrrad nie gehört. Ist aber nachvollziehbar. Auch eine Mühle dreht sich.
Aber „halbscharig“? Aus dem Zusammenhang war ich sicher, dass es „heruntergekommen“, „schrottreif“, „abgenutzt“ und dergleichen bedeuten musste. Ich war aber neugierig, noch mehr zu erfahren. Was tut ein sprachinteressierter Mensch? Er schlägt im Wörterbuch nach.
Ganz logisch wollte ich zuerst unter der Ganzheitsform „scharig“ suchen.
Also langte ich nach meinem Duden… Nur ein Witz! Wir leben im Jahr 2016. Ich hab meine Wiktionary-App für die deutsche Sprache konsultiert. Fehlanzeige. Die App kannte zwar „Schar“ (ich auch), nicht jedoch „scharig“. Also hab ich gegoogelt…
und wurde natürlich postwendend fündig. „Scharig?“Es ist ein bayrisches Wort und bedeutet irgendwie „Dachrinne“ oder so etwas. Dann muss „halbscharig“ die Hälfte einer Dachrinne sein. Oder?
„Kennst du das Wort ‚scharig‘?“fragte ich meine Frau
„Nein noch nie gehört. Sag mir den Zusammenhang.“
„Ich bin auf das Wort in der AZ gestoßen…“ und ich hab ihr den Satz vorgelesen.
„Ach, ‚halbscharig‘! Natürlich. Kennt jeder. Es bedeutet ‚heruntergekommen‘ oder so.“
„Das hab ich gedacht. Etwas wie ‚verwahrlost‘. Doch wieso kenn ich es nicht?“
„Tja. Es gibt schon einiges, das du nicht weißt.“
Nach diesem einleuchtenden Gespräch kam ich endlich auf die Idee, direkt unter Stichwort „halbscharig“ zu suchen, was, wie es sich schnell herausstellte, die bayerische Form von „halbschürig“ ist, ein hochdeutsches Wort, das mittlerweile selten geworden ist; das bayerische hingegen ist noch im Gebrauch.
Der Hintergrund: Früher haben manche Schäfer ihre Schafe zweimal im Jahr geschoren. Wahrscheinlich, um mehr Gewinn zu erzielen. Allerdings: Die Wolle galt als qualitativ schlechter als die Wolle eines Schafs, das nur einmal im Jahr geschoren wurde.
Halbschürige Wolle war also minderwertig, mangelhaft, unausgegoren usw.
Übrigens: Auf Englisch (zumindest auf amer. Englisch) haben wir den Begriff „half-assed“ (wörtlich: „halbarschig“) im Sinne von „unausgegoren“, „dilettantisch“. Etwa: ein „half-assed attempt“. „Whole-assed“ gibt es ebenso wenig wie “ganzschürig”.
Nie aber würde ich ein altes Fahrrad als “half-assed” bezeichnen; diese Erläuterung von „halbscharig“ aber sehr wohl.
Ich war einmal Astrologe - damals in Santa Barbara, Kalifornien, einer Stadt, in der die Wahrsagerei (wozu auch die Astrologie zählte) gesetzlich untersagt war.
Ich war ein richtiger Astrologe. Das heißt: Ich bediente mich dicker Wälzer mit komplizierten mathematischen Tabellen, um Horoskope zu errechnen.
Es war vor der Zeit des PCs (Personal Computers und Political Correctness). Ich verwendete sogar Logarithmen, um die Lage eines Sterns bzw. eines Planeten genau festzustellen.
Um das Verbot der Wahrsagerei zu umgehen, war ich auf einen Fernsprechauftragsdienst angewiesen. Dieser war in der Nachbarstadt, Goleta lokalisiert, wo es im Gegensatz zu Santa Barbara erlaubt war, meinen Beruf auszuüben. Die Kundschaft hinterließ beim Auftragsdienst eine Telefonnummer, ich rief zurück.
Meine Inserate erschienen allerdings - anstandslos - in der Santa Barbara Zeitung.
Wenn ich heute daran denke, glaube ich nicht, dass die Stadt Santa Barbara es so genau mit dem Verbot der Wahrsagerei genommen hat.
Ca. zwei Jahre verdiente ich meinen bescheidenen Lebensunterhalt mit der Astrologie. Das Gros der Kundschaft war übrigens weiblich - meistens in den mittleren Jahren. Meine älteste Kundin war 1885 geboren, eine sehr wohlhabende Dame, die sich mit mir in Verbindung gesetzt hatte, weil sie erfahren wollte, ob ihr Bankier sie betröge. Ich konnte mitnichten wissen, ob er sie betröge oder nicht. Ich kannte ihn gar nicht, und seine Geburtsdaten (also Zeit und Ort) standen mir ohnehin nicht zur Verfügung - was für einen Astrologen das wichtigste Werkzeug wäre. Trotzdem war ich ein gewissenhafter junger Mann und versuchte das Problem folgendermaßen zu lösen: Ich suchte im Horoskop meiner Auftragsgeberin nach Spuren einer finanziellen Benachteiligung. Ich fand sie aber nirgends und erklärte, ich sei der Meinung, sie werde nicht übervorteilt. Nebenbei: Ich bin überzeugt, dass die Frage der alten Dame ein Missbrauch der Astrologie war. Sie war aber eine lustige Person.
Und noch etwas: Sie hatte ein Haustier, einen kleinen Affen. Während ich auf dem Sofa da saß und das Horoskop hochkonzentriert deutete, sprang das Viech von einer Seite des Sofas zur anderen und benutzte dafür meinen Kopf als Sprungbrett.
Die meisten Kundinnen wollten indes nicht wissen, ob ihre Bankiers krumme Dinge drehten. Die meisten meiner Kundinnen waren einsame Frauen, die mich aus Verzweiflung zu Hilfe gerufen hatten, damit ich eine der folgenden drei Fragen beantworte: 1.) Wann finde ich Arbeit wieder? 2.) Wann tritt eine neue Liebe in mein Leben auf? 3.) Wann geht es wieder bergauf mit meiner Gesundheit?
Ich habe immer ca. 2 Stunden laboriert, um ein Horoskop zu erstellen. Dazu verbrachte ich noch ca. 2 Stunden bei meinen Kundinnen, um das Horoskop gewissenhaft zu deuten. Ich bekam dafür 25$ - damals kein schlechtes Geld.
Mir war klar, dass ich eine Verantwortung gegenüber meiner Klientinnen getragen habe. Ebenso wusste ich, dass ich nicht in der Lage war, die schwerwiegenden Probleme meiner Kundinnen mit ein paar tröstlichen Worten zu vertreiben.
Trotzdem wollte ich helfen: Ich betrachtete mich deshalb lediglich als Boten der falschen Hoffnung, eine Erkenntnis, die ich freilich nur für mich behielt. Doch es war so. Immerhin war ich der Meinung, dass auch eine falsche Hoffnung besser wäre als keine.
Manchmal war ich überzeugt, dass ich eigentlich als „Gigolo“ tätig war. Ich war nämlich ein hübscher Knabe und hab mich vor einer Sitzung immer fein ausgeputzt, d.h., mit weißem Hemd und dunkler Weste. Sicherlich hatte auch das meinen Kundinnen gefallen.
Und am Ende der zweistündigen Sitzung fühlten sich meine Damen doch wohler in ihrer Haut.
Dennoch habe ich den Beruf eines Tages jäh auf den Nagel gehängt. Hier der Grund:
„Weiß du, was du bist?“, sagte mir eines Abends Damian. Er betrieb eine Piano-Bar in Santa Barbara mit dem Namen „Mr. D.‘s Joie de Vivre Club“. Manchmal habe ich in seinem Club auch neue Klientinnen angeworben. „Du bist ein Hochstapler!“
Mehr sagte er nicht, doch ich habe Damians schonungslose Analyse meines Berufs zu Herzen genommen. Und bald stellte ich die Geschäfte ein.
Man kann die Astrologie rechtfertigen, wie man will. Letztendlich ist es aber fraglich, ob sie überhaupt sinnvoll ist…es sei denn, man bekennt sich dazu, lediglich als Botschafter der falschen Hoffnung zu agieren.
Mit sechsundzwanzig Jahren habe ich aufgehört, Astrologe zu sein. Im gleichen Alter hab ich ebenfalls aufgehört, Ladendieb zu sein. Doch das ist eine andere Geschichte…
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