Erste Anekdote: V. war damals 17 und ich 22. Wir hatten uns erst kennengelernt.
Eines Abends saßen wir im Café und unterhielten uns. Was heißt unterhalten? Ich habe mit einem Ohr zugehört, und sie hat endlos weitergeplappert. Was heißt weiterplappern? Sie redete, ohne aufhören zu können - keine Ahnung, worüber.
Auf Englisch heißt das „verbal diarrhea“, Durchfall des Mundwerks.
Wissen Sie, was ich machte? Ich sagte: „Kannst du nicht kurz den Mund halten? Du bist so schön, wenn du schweigst.“
Ja, das hab ich gesagt. Heute wäre dieser Satz - zumindest im Abendland - nicht mehr möglich…vielleicht mit Recht.
Und wissen Sie, was sie machte? Sie schwieg! Sie schaute mich verblüfft an und schwieg.
Das war der Anfang einer intensiven Liebesgeschichte. Sie hielt vier Jahre. Es waren leidenschaftliche aber auch schmerzliche Jahre. V. reifte immer mehr heran und wurde immer schöner, und ich machte Dummheiten …
Ja, eine typische Liebesgeschichte aus der Jugendzeit und aus der Literatur.
Zweite Anekdote: Einmal lechzte V. nach einem hübschen Kleid, das aber 50$ kostete, damals sehr viel Geld. Wissen Sie, wie sie an die 50$ kam?
In unserer Kleinstadt lebte ein reicher junger Mann, der pflegte, Frauen 50$ zu schenken, wenn sie mit ihm ins Bett gingen. Man musste in nicht einmal küssen. Eine „Freundin“ V.s hat nun einen „Termin“ vermittelt, und V. ging mit ihm ins Bett. Mir hat diese Lösung nicht gefallen, auch wenn sie ihn nicht küssen musste. Ich sagte aber nix, weil sie sich so sehr nach dem Kleid gesehnt hatte, und ich hätte es ihr nicht schenken können.
Sie bekam ihr Kleid, und wir fühlten uns beide elend, zumindest eine Zeitlang.
Nun hab ich zwei Anekdoten erzählt. In der ersten trete ich auf wie ein Macho der alten Schule. In der zweiten kommt ein Mensch vor, der regelmäßig Intimes gegen Bar kauft. Vielleicht hieß er Harvey. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern. Es handelt sich hier jedenfalls nicht um eine Vergewaltigung. V. hat sich vielmehr selbst vergewaltigt.
Als Harvey W. neulich zum Medienliebling wurde, fielen mir obige Anekdoten ein.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte jegliche Vergewaltigung für ein widerwertiges Verbrechen. Im Fall H.W. frag ich mich aber, warum es so lange gedauert hat, bis die von W. vergewaltigten Frauen an in die Öffentlichkeit gewendet haben oder warum sie ihn nicht gleich angezeigt hatten. Schließlich ist eine Vergewaltigung auch in den USA ein Verbrechen. So unbeliebt ist der Begriff „rape“, dass man das „Rapsöl“, Englisch „Rape seed oil“, in „canola oil“ umbenannt hat.
Oder haben die meisten Frauen, die von H.W. bedrängt wurden, nur deshalb von einer Anzeige absahen, weil sie sich, wie einst V., ein 50$-Kleid
wünschten?
Ich weiß es nicht.
Ich denke nur: Manche Geschichten haben auch Grautöne. Für die Medien aber sind Schwarz und Weiß die Lieblingsfarben. Ich, zum Beispiel, in den Jahren mit V. hab eine Zeitlang gekellnert. Manchmal hab ich es schwulen Gästen erlaubt, mir am Hintern kurz zu tätscheln. Denn ich wusste, es springt dann, da ich nicht gerade wie der Glöckner von Notre Dame aussah, ein gutes Trinkgeld. Heute weiß ich: Ja, me too.
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