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Warnung vor digitalem Alzheimer

Es war an einem Dienstag um 16.32…Sorry, ich verrate hier weder Monat noch Jahr. Urplötzlich schalteten sich die Bildschirme ab. Alle. Handys und Smartphones verstummten. Alle. Uhren standen still. CDs und DVDs waren auf einmal leer. Alle. Flashmemory war weg samt Urlaubsbildern. Auf der Intensivstation hörten die Steuerungsgeräte auf zu piepsen , Aufzüge stockten, die schönsten Autos kamen nicht mehr vom Fleck…Alle.

Wissen Sie was geschehen ist?

Habe ich gerade den Anfang eines gruseligen Science-Fiction-Romans skizziert? Wenn ja, dann schenke ich die Handlung einem/einer anderen Schriftsteller/in.

Mich treibt vielmehr eine Fantasie um, die sich vorgestern in mir auftat, als etwas Schlimmes passiert war. Schlimmes. Diese Webseite, die ich so liebevoll eingerichtet habe und wie einen blühenden Garten begieße und betreue, war einen ganzen Tag nicht erreichbar. Wer während dieser Zeit den Sprachbloggeur anklickte, bekam folgende Meldung: „Upps! This page is broken.“ oder so ähnlich. Ich habe den genauen Wortlaut bereits vergessen. Unangehmes will man schnell aus dem Gedächtnis entsorgen.

Als begabter Paranoiker begann ich mir den größten anzunehmenden Unfall (GAU) auszumalen. Etwa: Der Sprachbloggeur und seine Beiträge würden für alle Zeiten aufhören zu sein. Das ist keine leere Fantasie. Diese Beiträge sind nunmal digitale Impulse. Nur wenige habe ich auf Papier ausgedruckt.

Inzwischen hatte ich Freund Edward, auf dessen Server diese Seite beheimatet ist, kontaktiert. Er antwortete, dass der Server auf dem wiederum sein Server beheimatet ist (fragen Sie mich bitte nicht, was das bedeutet), einer Megapanne erlitten hatte. „Die Datenbank stürzte ab…“ schrieb er. „Es ist das erste Mal, dass wir – ja überhaupt jemand – so etwas erlebt haben.“

Damit hat er meine paranoide Fantasie noch intensiver gefüttert. „Ist es theoretisch möglich“, fragte ich ihn in einer Mail, „dass alle Server – weltweit – simultan abstürzen könnten, mit dem Resultat, dass der gesamte Bestand an digitalen Informationen augenblicklich aufhören würde zu existieren…für immer?“

„So ist es“, schrieb er. „Die Ursache wäre eine massive EMP (elektromagnetische Pulsierung), zum Beispiel, wenn ein großes Kraftwerk in die Luft flöge. Etwas in dieser Größenordnung könnte uns auf der Stelle ins Analogzeitalter zurückwerfen. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich und eher als Folge künftiger Kriegsführung vorstellbar.“

„Könnten auch Sonnenstürme das Gleiche bewirken?“ fragte ich.

„Warten wir bis 2012“, antwortete er leicht spöttisch. Er bezog sich damit auf die großen Sonnenstürme, die die Erde in diesem Jahr heimsuchen werden. Obendrein mailte er mir einen Artikel über dieses Katastrophenthema. Haben Sie gewusst, dass die Sonnenstürme 1958 besonders intensiv waren? Man konnte damals die Nordlichter bis nach Mexiko sehen. Damals hat es freilich noch keine PCs, Handys usw. gegeben. Man weiß nicht, wie diese wohl auf die elektromagnetischen Impulse reagieren werden.

Den Stuxnet-Wurm nicht zu vergessen, der momentan die Steuerung iranischer Atomanlagen gierig frisst. Manche munkeln, dass dieser Cyberangriff den Anfang des Dritten Weltkriegs einläutet. Fragen Sie mich bitte nicht, ob das stimmt oder nicht.

Ich frage mich nur: Soll ich meine abertausenden Digitalbilder auf die Schnelle ausdrucken oder zumindest aussortieren? Will ich meine große Bibliothek wirklich in den Papiermüll entsorgen und nur noch in E-Büchern auf Smartpapier schmökern?

Wissen Sie, dass nur drei Prozent der gesamten altgriechischen Literatur heute noch vorhanden ist? Simonides von Keos galt in der Antike als der begnadetste Poet. Von seinen einst hochgepriesenen Werken sind heute nur noch Fetzen vorhanden. Die Werke Sapphos wurden im frühen Mittelalter von prüden Geistlichen auf den Müll geworfen. Letztlich entscheidet allein der Zufall, welche Werke den Zeiten trotzen, welche untergehen. Ein digitaler GAU wäre aber anders. Er wäre eine demokratische Vernichtung: Es würde nichts übrigbleiben. Kein Bit kein Byte.

Schreibmaschinen bitte nicht in den Werkstoffhöfen abgeben, schwere Fotoapparate entstauben und entharzen, Bücher auf keinen Fall zum Altpapier bringen.

Für den digitalen Alzheimer gibt es – zumindest gegenwärtig – keine Heilung. Sie ist so endgültig wie der Punkt am Ende dieses Satzes.

Was der Bettler erzählte…

Ich sehe ihn seit Monaten im wetterfesten Durchgang vor unserem Supermarkt. Er sitzt da auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, auf einer Decke. Neben ihm links Tüten und ein Stapel Decken, die er als Ellenbogenstütze benutzt. Rechts von ihm eine Milchtüte aus dem Supermarkt.

Lange habe ich gedacht: Ja, ja. Einer von denen aus Rumänien. Man gibt ihm eine kleine Spende, und er muss das, was man ihm in die Hand gedrückt hat, an einen gewaltbereiten Mafioso-Traktierer abgeben. Darüber habe ich in der Boulevardpresse öfters gelesen. Sie sollen Mitleid erwecken, diese Bettler. Oft humpeln sie auf der Straße mit einer Krücke unter der Achsel herum oder haben verdrehte Beine. Oder es sind elendige Frauen, die auf dem Boden sitzen und ein Kleinkind hin- und herschaukeln. Sie arbeiten alle miteinander für berüchtigte Bettlermafiosi. Soviel zu meinen Kenntnissen.

Der Bettler vor dem Supermarkt hatte keine Krücke und veranstaltete kein Armutstheater. Im Gegenteil. Er war immer bestens gelaunt. Einmal habe ich ihm eine Brezen aus der Bäckerei ausgehändigt. Er bedankte sich und sprach einen Segen aus. Ha! Eine Brezen können ihm die Mafiosi nicht wegnehmen, habe ich gedacht. Ich war sehr stolz auf meine List.

Letzte Woche war ich bestens aufgelegt – und spendabel. Heute gebe ich ihm zwei Euro, dachte ich. Ich kam aus der Bäckerei, ging auf ihn zu , drückte ihm den Zwickel in die Hand und fragte: „Sagen Sie, dürfen Sie das Geld behalten oder müssen Sie es an jemanden abgeben?“

„Nein“, antwortete er. „Ich bin kein Rumäne, auch kein Zigeuner, sondern Bulgare, darüber hinaus der einzige bulgarische Bettler in ganz München. Wenn Sie mir zwei Euro spenden, dann sollen Sie wissen, dass ich das Geld für mich behalte.“

So seine Antwort in sehr gepflegtem Deutsch. Man erkannte den Bulgaren daran, dass er „juber“ anstatt „über“ sagte. Das war das Prolog zu einem halbstündigen Gespräch, das ich hier  mit Rücksicht auf die Dramaturgie leider nicht in allen Details wiedergeben kann. Dazu würde ich mehrere Seiten gebrauchen. Hier wenigstens ein paar Highlights.

Erstens: Er erzählte, dass er seit zehn Jahren im Sommer drei Monate in München verbringe, um zu betteln. „München ist ein Eldorado für Bettler. Die Menschen sind hier sehr spendabel.“ Früher sei er mit dem Bus von Sofia über Prag nach München gefahren. Das war eine anstrengende Reise. Sie dauerte drei Tage und kostete ca. 140 Euro. Es gibt übrigens, so erfuhr ich, einen Taxidienst aus Prag. Der Fahrer transportiert fünf Passagiere nach München und kassiert etwa 50 Euro pro Person. In München holt er zurückkehrende Bettler und Diebe ab. Neuerdings reist mein Gesprächspartner aber lieber via last-minute-Flug. Das kostet etwa 56 Euro von Sofia direkt nach München, ist bequem, und man spart obendrein Geld.

Zweitens: „Ich bin nicht nur Bettler“, sagt er mir. „Ich bin Poet und habe in meiner Heimat sechzehn Bücher veröffentlicht.“ Nun zitierte er – auf Deutsch – aus Goethe, Novalis und Hesse. Dann folgte ein eigenes Gedicht – von ihm selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche übersetzt – ein sehr trauriges Gedicht über die Kinderlosigkeit seiner Frau. Schließlich trug er ein Gedicht auf Englisch vor – auch eine eigene Übersetzung. Es war ein gepflegtes Englisch. „Ich spreche sechs Sprachen.“

Drittens: Er klärte mich über die rumänischen Bettlermafias auf. „Es gibt keine rumänischen Bettlermafias, lediglich Familien, die en gros nach Westeuropa reisen, um kollektiv zu betteln oder zu klauen. Stündlich macht einer aus dem Clan die Runde und sammelt das Geld von den anderen ein und versteckt es. Das ist ein Schutzmechanismus für den Fall einer Festnahme. Die Polizei beschlagnahmt nämlich das gebettelte Geld.“ Und weiter: „Die Journalisten haben die Idee einer Bettlermafia selbst erfunden. Sie stellen zu wenige Fragen, beobachten schlecht und möchten alles nur sensationalisieren.“

Nach einer halben Stunde ließ ich ihn wissen, dass ich zu tun hätte und dringend weiter müsse. „Ich habe Ihnen noch viel zu erzählen“, sagte er. „Das machen wir aber ein anderes Mal.“

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder. Er schrieb gerade in ein kleines Heft und wirkte sehr konzentriert. Ich gab ihm einen Euro. Ich weiß nicht, ob er mich in dem Augenblick gleich einordnen konnte. Ich hatte ohnehin keine Zeit, um mich mit ihm zu unterhalten.

Dennoch wollte ihn fragen: „Sie sind Poet und gebildet, kein Analphabet aus dem Dorf. Warum müssen Sie betteln?“ Falls ich ihn wieder antreffe und die Antwort vermittelbar ist, sage ich Ihnen Bescheid.

Großes Kino (oder Mord und Totschlag usw. für Anfänger)

Hallo Schlafwandler! Wie geht’s heute? Ich hoffe, Sie träumen was Schönes.

Wissen Sie, lieber Leser, was als nächstes passiert ist? Ich meine, nachdem ich den Schlafwandler so freundlich gegrüßt hatte?

Er (oder sie) kam in der zerdrückenden Menschenmenge beim „Love Parade“ nicht weiter, Er konnte sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen.  Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Alles registrierte zunehmend Gefahr. Und dann ging es los. Panik. Geschrei. Gewein usw.

Später sagte er (oder sie) dem Reporter (der Reporterin): „Alle schrien und stöhnten. Es war schrecklich. Es war wie in einem Film.“

Szenenwechsel. Köln. Man geht am Historischen Stadtarchiv vorbei. Im Hinterhirn vernimmt man ein Grollen, ein Knurren und dann geht’s los. Das Haus stürzt ein. Derselbe Reporter ist vor Ort. Man sagt ihm: „Es war wie in einem Film.“

Zu bemerken: 1.) Obige Zitate sind von mir frei erfunden und dennoch absolut nachvollziehbar. 2.) Ich verhöhne keinen, der nach einer Katastrophe diese Worte, „Es war wie in einem Film“, sagt. Als die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag von ihrem Arzt erfuhr, dass sie todkrank und nicht mehr zu retten war, stieg sie in den Wagen eines Freundes (oder war es der eines Verwandten?) und sagte etwas wie: „Wow, das darf nicht wahr sein.“

Es war wie in einem Film.

Ich lag auf dem Bett und las Zeitung. Es war Winter. Schmutziggraues Abendlicht. Ich hörte einen Rumps hoch oben auf dem Dach unseres Wohnhauses. Eine dunkle Masse flog an meinem Fenster vorbei. Mensch, ein ganzer Schneebrocken ist vom Dach heruntergefallen, habe ich gedacht. Neugierig stand ich auf, ging auf den Balkon und schaute hinunter, um die Schneemassen zu bewundern. Was ich aber sah: Eine Nachbarin stöberte auf allen vieren desorientiert im Schnee und stöhnte wie ein kranker Hund.

Ach, es ist nur die Nachbarin, die im Schnee herumkriecht, stellte ich fest. Ich machte kehrt und wollte in meiner Zeitung weiterlesen. Halt. Das geht nicht. Das war kein Schnee, der vom Dach herabgestürzt ist, sondern die Nachbarin vom fünften Stock. Wieder schlafwandelte ich auf den Balkon, um mir das Bild da unten zu bestätigen. In der Tat. Es war die Nachbarin. Schon wieder wollte ich nach der Zeitung greifen.

Halt. Das geht nicht. Die Nachbarin ist gerade in die Tiefe gestürzt. Du musst Hilfe holen. Ja. Und gerade das habe ich auch getan. Ich wählte 112 – oder war es 110 – ich komme mit diesen Nummern stets durcheinander. Ich habe jedenfalls die Richtigen erreicht und erklärte, was gerade passiert war. Ich habe mich kaum reden hören. „Wir kommen gleich“, hieß es im Hörer.

Wieder habe ich gedacht: Jetzt lege ich mich endlich hin, um meine Zeitung zu lesen. Es ist schließlich Feierabend, und ich habe schwer gearbeitet. Halt. Das darfst du nicht. Bis die Feuerwehr und die Ärzte eintreffen, musst du der Nachbarin irgendwie helfen. Schon wieder ging ich auf den Balkon. Diesmal rief ich hinunter. „Keine Sorge, Frau Z., Hilfe ist unterwegs. Alles wird wieder gut.“ Sie stöhnte nur. Dann machte ich kehrt, war gerade dabei, nach der Zeitung zu greifen. Halt. Hole Decken, um sie warm zu halten, bis die Feuerwehr da ist. Also holte ich Decken und stieg die Treppe herunter, um sie im Hof zu betreuen. Alsbald sah ich das blaue Licht. Die Feuerwehr hielt vor dem Hauseingang. Ich öffnete die Tür und erklärte, wie man in den Hof kommt. Sie sind ins Haus gerannt. Ja, gerannt. Einer rutschte vor der Tür im Schnee aus, so sehr ist er geeilt.

Als ich sicher sein konnte, dass die Frau gut versorgt war, ging ich in meine Wohnung zurück. Ich schaute eine Weile vom Balkon herunter, beobachtete den Rummel. Funkgeräte krächzten. Viele Stimmen. Stöhnen. Scheinwerfer. Mir war kalt. Ich wollte mich endlich hinlegen, um Zeitung zu lesen. Jetzt konnte ich aber nicht. Nein. Aus war der Traum.

Nebenbei: Was ich hier erzähle, passierte vor einigen Jahren. Die Frau hat überlebt. Es geht ihr immer besser.

Ja, es war wie im Kino.

Wie komme ich auf dieses Thema? Keine Ahnung. Eigentlich wollte ich über Pastor Terry Jones’ Drohung (Terry wer?), den Koran zu verbrennen, schreiben und über die fiebernden Reaktionen aufgebrachter Muslime in Indonesien, Afghanistan usw., die gleich auf Christenjagd loszogen.

Auch das nur großes Kino.

Gene im Angebot – diese Woche billig!

Hallo liebe Gene-Träger!

Wie geht es heute mit der Vorprogrammierung?

Fühlen Sie sich dumm? schlampig? engstirnig? oder ratzfatz-gescheit?

Schade, dass ich heute nicht Englisch, sondern Deutsch schreibe. Auf Englisch hat „genes“ nämlich den gleichen Klang wie „jeans“. Meine Überschrift für die englische Version dieses Textes hieße „Genes for Sale“.

Wie dem auch sei. Jede Sprache hat ihre Vor- und Nachteile, wenn man zu heiteren Wortspielen aufgelegt ist.

Doch zurück zu den Genen: Vor dreißig Jahren hat mich mein damaliger Chef nach Yorkshire geschickt, um eineiige Zwillingsbrüder zu interviewen. Ihre Namen habe ich leider vergessen, den doppelten Whiskey, den mir der eine eingeschenkt hat, vergesse ich aber nie. Es war abends. Ich war müde und gestresst. Schnurstracks hatte der Whiskey alle Ecken und Zacken meiner gereizten Seele abgerundet. Es ging mir blendend.

Es handelte sich bei diesen Brüdern um zwei genetisch identische Menschen, die aus Gründen, die ich leider nicht mehr aus dem Stegreif aufrufen kann, kurz nach der Geburt, getrennt und in verschiedenen Familien aufgezogen worden waren – lange ohne Kenntnis von der Existenz des jeweiligen anderen. Als ich sie – selbstverständlich getrennt – interviewte, hatten sie sich erst seit wenigen Wochen wieder kennengelernt. Sie waren ca. vierzig Jahre alt.

Damals, als ich meine Interviews machte, war es große Mode, getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge unter die Lupe zu nehmen. Man wollte anhand von solchen Schicksalen eine wichtige Frage beantworten: Welche Eigenschaften sind dem Menschen angeboren, welche werden durch die Umwelt erworben?

Als ziemlich unversierter Nichtwissenschaftler besaß ich alle Voraussetzungen, um meine Aufgabe grottenschlecht zu erfüllen. Dennoch habe ich doch ein bisschen entdecken können: zum Beispiel, dass  meine Zwillinge beide Angst vor Spinnen hatten. Genetisch bedingt? Wer weiß. Beide tapezierten ihre Wände mit den allerhässlichsten bunten Tapeten. Yorkshire Spezialität oder die Gene? Was weiß ich? Es gab jedenfalls auch Unterschiede. Zum Beispiel, der eine hat mir einen Whiskey eingeschenkt, der andere eben nicht. Der eine kam mir forsch, nachdenklich und sozial engagiert vor. Er war verheiratet und hatte Kinder. Der andere wirkte eher schüchtern und lebte mit seiner Frau (ich glaube, sie hatten keine Kinder) sehr zurückgezogen. Von ihm habe ich übrigens den Whiskey bekommen.

In den 80er und den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen mehrere Bücher zu diesem Thema. Manche Fallstudien deuteten darauf, dass die Gene vielleicht doch manches beeinflüssen. Zum Beispiel, das Schicksal der jüdischen Jungen Jack Yufe und Oskar Stöhr. Sie wurden 1933 in Trinidad geboren. Oskar kehrte mit seiner Mutter nach der Scheidung nach Deutschland zurück und wurde Hitlerjunge. Jack wuchs als Jude in Trinidad auf. Trotz der langjährigen Trennung teilten sie dennoch den gleichen nervigen Humor. Beide liebten es, in einem vollen Aufzug laut zu niesen. Beide trugen übrigens auch gerne Gummibänder am Handgelenk.

Dann gab es die erstaunliche Geschichte der getrennt großgewordenen Zwillinge James Alan Lewis und James Allen Springer. (Die jeweiligen Eltern hatten sich diese Namen für die Babys ausgesucht). Beide heirateten Frauen mit dem Namen Linda, und beide hatten einen Hund namens „Toy“. Es gab hier auch andere sehr merkwürdige Ähnlichkeiten. Man kann den Fall bestimmt genauer googeln.

Anhand von Beobachtungen an getrennt großgewordenen eineiigen Zwillingen hielten es die Forscher für bewiesen, dass es eine genetische Komponente für viele Neurosen, für Autismus und für Schizophrenie gab. Aber auch für Humor, Intelligenz und sogar für die Rechthaberei. Den genetischen Einfluss schätzten sie allerdings meistens mit etwa 50% ein. Was bedeutet 50%? Hier ein Beispiel: meine Mutter.

Sie war so gescheit, dass sie in der 6. Klasse ausgewählt wurde, eine Klasse zu überspringen (also genetisch bedingte Intelligenz). Das wollte sie aber nicht. Sie wollte lieber in der gleichen Klasse bleiben wie ihre engste Freundin Mimmi. Sie besuchte also mit Mimmi die Realschule, machte sich ein schönes Leben und quittierte vorzeitig die Schule, also ohne Abschluss. Bis heute interessiert sie sich nicht für das Weltgeschehen, löst hingegen eifrig das Kreuzworträtsel in der Zeitung. Die Genetik ist also nur die halbe Miete.

Wenn Sie meinen, ich schriebe dies, um Herrn Thilo Sarrazin zu diskreditieren, dann irren Sie sich. Herr Sarrazin befasst sich kaum mit der biologischen Genetik, sondern eher mit der Wirkung vom kulturellen Erbe. Das sind wirklich zwei paar Schuhe. Wer möchte leugnen, dass die meisten Menschen an ihrem kulturellen Erbe teilnehmen? Nur deshalb gibt es Unterschiede zwischen den Völkern.

Und gerade deshalb biete ich diese Woche meine Jeans billig an. Es sind nämlich Kleidungsstücke, die unterschiedlich wirken, je nachdem, was man für eine Figur hat.

„Der Bunker“ oder „Erzählungen aus dem heiteren Leben eines Vorstandsvorsitzenden“ (Kapitel LXXXVII – glaube ich)

Vorstandsvorsitzender: Wurm!

Wurm: Jawohl, mein Führer!

Vorstandsvorsitzender: Lieber Wurm, wie oft muss ich Ihnen erklären, dass Sie zu mir nicht „Führer“ sagen dürfen. Es gibt Überführer, Anführer…

Wurm: …Verführer! Hihi.

Vorstandsvorsitzender: Ja, auch Verführer…

Wurm: Ja, und Fremdenführer, mein Führer…upps. Entschuldigung, o Herr.

Vorstandsvorsitzender: Genau genommen, bin ich auch Ihr Führer, mein lieber Wurm. Aber bitte, Sie lenken mich mit diesem Führergerede nur ab. Ich möchte die Verkaufsstatistiken sehen.

Wurm: Zu Befehl, mein…ich meine, o Herr. Hier die Mappe.

Vorstandsvorsitzender: (reißt sie Wurm aus der Hand und blättert sie schnell durch. Man vernimmt Papierrasseln und Grunzen) Das kann nicht wahr sein! Wir haben in diesem Monat kein einziges Exemplar mehr verkauft! Es gibt auch keine Abos mehr. Nichts. Mein Gott! Das kann nur heißen, dass auch meine Mutter ihre Abos gekündigt hat. Es ist schlimmer als ich gedacht habe. Wurm!

Wurm: Jawohl, mei…o Herr!

Vorstandsvorsitzender: Sofort, die letzten Mitarbeiter kündigen. Keine Ausnahmen – auch die Chefredakteure.

Wurm: Das haben wir schon letzten Monat getan, o Herr.

Vorstandsvorsitzender: Woher haben wir denn den Content für die Hefte?

Wurm: Sie haben offenbar vergessen. Sie sagten mir, ich solle die albanischen Seiten von Wikipedia durchforsten und mit Google-Translator ins Deutsche übersetzen lassen. Dreiundzwanzig Titel habe ich damit gefüllt. Die Autorennamen habe ich auch selbst erfunden. Was halten Sie von Sebastian Heilig? Klingt schön, nicht wahr?

Vorstandsvorsitzender: Ich bin nicht zum Humor aufgelegt. Allmählich ahne ich, dass wir ein sehr ernstes Problem haben. Und woher haben Sie die Illus genommen?

Wurm: Es sind alles Bilder von vor 1923. Man bezahlt dafür keinen Cent.

Vorstandsvorsitzender: Hut ab. Sie werden immer raffinierter. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich deswegen Ihr Gehalt erhöhe.

Wurm: Ein Leserbrief ist auch eingetroffen. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern für welches Blatt.

Vorstandsvorsitzender: Egal. Lesen Sie vor.

Wurm: „Sehr geehrter Herr Blattmacher. Ich staunte, als Sie Inhalt mit Content ersetzten. Ich staunte, als die Namen im Impressum immer weniger wurden. Als die Autorennamen chinesisch lauteten, staunte ich auch nicht schlecht. Im Namen der Globalisierung gewöhnt man sich aber daran, auch wenn man statt das Haus manchmal der Haus liest. Doch dann sind Sie entschieden zu weit gegangen. Als geborener Kosovare erkenne ich die albanischen Beiträge von Wikipedia nämlich sehr gut wieder, zumal ich einige selbst geschrieben habe. Hiermit kündige ich mein Abonnement. Sie haben mich zum letzten Mal für dumm verkauft…

Vorstandsvorsitzender: Ich werde den Lümmel wegen Verleumdung verklagen! Schließlich bin ich gelernter Jurist…

Wurm: Philosophie, Medizin und Theologie haben Sie nicht studiert?

Vorstandsvorsitzender: Wie kommen Sie darauf?

Wurm: Nur eine Idee.

Vorstandsvorsitzender: Politik. In der Politik muss man tätig sein. Da gibt es noch viel zu tun. Das Blattmachen hat mich ohnehin immer nur gelangweilt. Ich habe nie verstanden, wie man das lahme Zeug Monat für Monat lesen konnte. Letztlich habe ich dem Publikum einen schönen Dienst erwiesen. Den Kopf wieder frei gemacht. Meinen Sie nicht auch ? Wenden wir uns nun anderen Interessen zu, mein lieber Wurm. Und vergessen Sie nie: Schlussmachen ist auch eine Kunst.

Wie man einen Taschendieb verzaubert

Schon heute fällt ihm der Ausschlag auf. Die roten Flecken werden bald zu Pusteln. An anderen Stellen hat die Haut Schuppen gebildet, und das Jucken lässt ihm keine Ruhe mehr.

Die Hämorrhoïden blühen auf wie pralle, rote Blüten, und sie schmerzen ungemein.

Gut möglich, dass er die Strafe nicht mit mir in Zusammenhang bringt. Ich bleibe ebenso unsichtbar wie er, als er mir letzten Freitag am Hauptbahnhof in Berlin meinen Fotoapparat aus der Tasche entwendete. Womöglich habe ich zwei oder drei, also eine ganz Traube Taschendiebe verflucht. Denn Taschendiebe treten nur selten einzel auf. Der Hauptakteur, derjenige der hinlangt, bildet sich ein, er sei ein fingerfertiger Künstler, der die Taschen anderer wie die Tasten eines Musikinstruments beherrscht. Er irrt sich.

Ich hatte letzte Woche so schöne Tage  in Berlin verbracht. Das Berufliche, ein Interview, hat gut geklappt. Danach bin ich Tage lang durch die Museen – Altes Museum, Neues Museaum, Alte Nationalgalerie und Gemäldegalerie – gebummelt. Im Neuen Museum habe ich die Nofretete gesehen. Ich gebe zu: Ich wollte sie hassen. Wenn alle über etwas schwärmen, kann es sich, so dachte ich, nur um Kitsch handeln. Das habe ich gedacht und habe mich geirrt. Die Nofretete war ergreifend schön. Ich schäme mich, dass ich nur auf das Wort „schön“ komme, um dieses Erlebnis zu beschreiben. Das uralte Kunstwerk strahlt einen Zauber aus. Herr F., den ich in Berlin kennenlernte, meinte, die Echtheit des Kopfes werde schon lange in Frage gestellt. Man sage, er sei eine Nazifälschung, die mit alten Zeitungen („Völkischer Beobachter“?) vollgestopft sei.

Ich habe keine Ahnung. Wenn ein Betrug, dann ein gelungener, ein verzaubernder.

Für mich war die Reise ein Rundumerfolg – bis auf den Verlust meines Fotoapparats. Der Diebstahl hat meine Stimmung sehr getrübt – vor allem auf der Heimfahrt. Ein Fotoapparat ist einem Menschen ähnlich. Er besteht aus Körper (Gehäuse) und Seele (Speichermedium). Der Taschendieb hat im Grunde ein Leben genommen. Er hat mich eines Teils meiner Erinnerung beraubt. Dreihundert Fotos waren auf der Speicherkarte: Darunter Bilder aus Meißen und Dresden, ein Bild von Eva und Otto, Aufnahmen vom Geigenkonzert meines Sohnes, von einem Spinnennetz (samt Spinne) bei besten Lichtverhältnissen, von Orchideen, und natürlich auch die vielen Fotos, die ich in Berlin geknipst hatte. Manchmal benutze ich den Apparat als Gedächtnisstütze, quasi als Notizbuch . Das Licht in Berlin war letzte Woche so schön. Alles weg.

Der Taschendieb hält sich für einen Künstler, er ist aber nur ein Henker, der den Todesengel spielt. Er wähnt sich in der Lage, zwischen wertem und unwertem Leben unterscheiden zu können. An „wertes“ Leben langt er nicht hin, weil er Angst hat, enttarnt zu werden. „Unwertes“ Leben habe es verdient, beklaut zu werden. So denkt er. Unwertes Leben bedeutet für ihn den Schwachen, den Alten, den Unaufmerksamen.

Er wird meine Bilder nicht lieben, wie ich es tue. Er wird sie höchstwahrscheinlich löschen. Auch den Apparat wird er nicht lieben, wie ich es tat. Doch er bezahlt einen hohen Preis für seinen mageren Gewinn. Denn er muss jedesmal lernen, sein Gewissen zu töten, um anderen Schmerzen zuzufügen.

Ich hingegen verwandele meine Trauer in Literatur. Ich posaune meine Trauer schamlos in die Welt hinaus. Heute erzählte ich der Zeitungsdame am Kiosk davon. Eine Frau, die hinter mir stand, fragte: „Wos? Eana Motorradl is gschtoi’n worden?“

„Nein mein Fotoappart.“

„A Unverschämtheit. Der Drekkerta. Man soi eam an kloanen Finger obhocken. Wenn dös nix nützt, is der nächste Finga dran.“

„Keine Sorge. Ich habe ihn schon verflucht. Schon jetzt ist der Ausschlag ausgebrochen, und seine Hämorrhoïden blühen auf wie rote Blüten.“

„Dann is ois gut.“

Vor vielen Jahren habe ich ein Gedicht über Diebe geschrieben. Ich veröffentliche es hier zum ersten Mal – aber nur im Original. Denn es handelt sich um einen Zauberspruch, der sich nicht übersetzen – höchstens übertragen – lässt. Liest es ein Dieb, so bleibt ihm die Luft weg, und er wird schnell reuig. Er wird ebenso verzaubert wie ich es war, als ich letzte Woche der Nofretete begegnet bin. Diebe dürfen nur auf eigenes Risiko weiterlesen:

What a sorrow to be a thief.

Stealing brings me no relief.

What I steal I have to keep.

I steal for love, but love is grief.

Warnung vor einem Buchstaben

Manchmal tut eine gewagte Theorie gut, auch wenn sie ein bisschen überspitzt über die Lippen geht. 

Folgende Sprachen – so meine Theorie – wurden von mundfaulen Dummköpfen ins Leben gerufen: Englisch, Spanisch, Französisch und Portugesisch.

Folgende Sprachen hingegen entstanden in einer gepflegten Atmosphäre durchdachter Intelligenz: Deutsch, Holländisch, Italienisch, Romänisch und die skandinavischen Sprachen.

Es ist wirklich nicht meine Art, anderen Menschen auf den Schlips zu treten. Doch bisweilen ist es erforderlich, die Luft zu reinigen.

Gegenstand meiner berechtigten Kritik ist ein einziger Buchstabe: das „S“.

Diese Schriftengiftschlange ist im Englischen, im Spanischen, im Französischen und im Portugesischen längst zum alleinigen (mit nur wenigen Ausnahmen) Merkmal für die Mehrzahl geworden.

Man füge dieses Buchstabenwürmchen einem Hauptwort der oben erwähnten Sprachen an und zack! hat sich das Wort  wie durch Zauberhand vermehrt. Wegen eines mickrigen „S“ wird im Nu ein „house“, ein „maison“, und ein „casa“ zu einem ganzen Straßenzug. Vergleichen Sie diesen Vorgang bitte mit dem deutschen „Haus“, „Häuser“. Die deutsche Mehrzahl gilt zwar als kompliziert, dafür ist sie ausgesprochen elegant.

Gleiches gilt für das Italienische. Besitzt man mehr als ein „casa“, so hat man schöne „case“. Lateiner werden hier den alten lateinischen Nominativ „casae“ wiedererkennen. Ein Wort mutiert in ein anmutiges Gedicht!  

Wie kam es zu dieser „S“-Störung? Und damit meine ich diese schnöde Pluralisierung durch ein "S". Zwei Gründe kenne ich: Mundfaulheit und Ignoranz.

Fangen wir mit dem Angelsächsischen an. In dieser mit dem Plattdeutschen und dem Friesischen verwandten Sprache sagte man dereinst „hus“ für „Haus“. Mehrzahl: „husu“. Angelsächsische Nomen waren Jahrhunderte lang den deutschen ähnlich. Das heißt: Sie kamen in drei Geschlechtern und vier Fällen und unzähligen, wunderbar verwirrenden Formendungen vor – bunt und vielfältig wie italienisches Eis. Wer nicht als Angelsachse geboren wurde, der war verdammt – wie heutige Ausländer (zum Beispiel ich) im Bezug auf das Deutsche – , in aller Ewigkeit Pluralfehler zu machen.

Nun ein kurzer Ortswechsel zum römischen Kaisereich, wo Gallier und Iberer nicht in der Lage waren, anständiges Latein zu loquieren (schönes Wort, nicht wahr?). Das, was Anwohner dieser Gegend als Lateinisch bezeichneten, war letztlich nur eine Verballhornung dieser eloquenten Sprache. Offenbar waren jene Gallier und Iberer von den fünf lateinischen Fällen schlichtweg überfordert. Das Ergebnis: kasuslose Sprechschlampigkeit. Zugegeben: Auch die Spätrömer – sprich Uritaliener – kamen, was die uralten Kasus betrifft, allmählich aus der Übung, bis diese vollständig verschwanden. Trotzdem haben sie den alten Nominativ gerettet und benutzen ihn stolz bis heute.

Wie kamen die Iberer und Gallier dazu, ausgerechnet einen „S“-Plural aufzugabeln? Hier die schockierende Antwort: Wenn sie das Bedürfnis hatten, etwas zu vermehren, verwendeten sie den Akkusativplural des Lateinischen: Im Fall von „casa“ also „casas“. Warum das? Wer weiß. Wahrscheinlich kam ihnen ein Akkusativplural pluraler vor als ein Nominativplural.

Das meine ich mit Mundfaulheit und Ignoranz.

Aber kehren wir nach England zurück. 1066 eroberten die Normannen – ehemalige Wikinger, die nur noch „Altfranzösisch“ parlierten – England. Sie brachten mit über den Ärmelkanal nicht nur ihre Waffen, Pferde und tonnenweise Blumenkohl, sondern ebenfalls ihr scheußliches Küchenlatein, das sie mittlerweile als „Französisch“ bezeichneten. Alles, was sie in England vorfanden, pluralisierten sie mit diesem dämlichen „S“. Die Angelsachsen, die nicht weniger mundfaul waren, übernommen das Teufelszeug willfährig. Bald hatte sich das alte, ehrenvolle „husu“ in „husus“ oder so verwandelt.

Und jetzt wissen Sie, warum ich der Meinung bin, dass die ersten Sprecher des Englischen, des Spanischen, des Französischen und des Portugesischen mundfaule Dummköpfe waren.

Warum habe ich Ihnen diese schockierende Geschichte erzählt? Die Antwort liegt auf der Hand. Besucht ein Deutscher die Familie „Meyer“, pflegt er heute zu sagen: „Ja, wir haben die Meyers besucht.“ Besitzt er mehr als einen Computer, so könnte man bald deklarieren, „Schau, ich habe zwei Computers.“ ("Handys" hat man schon). Nur eine Frage der Zeit, bevor man zwei „Rechners“ haben wird und, wenn er besonders wohlhabend sein sollte, mehrere „Hauses“ bewohnen könnte.

Daher diese dringliche Warnung.

Eine letzte Frage: Wie lautet die Mehrzahl von „S“. Ja, Sie haben es erraten: „SS“. So gefährlich kann dieses „S“ werden, wenn es sich vermehrt.

Nicht vergessen: Sie haben es erst beim Sprachbloggeur erfahren.

PS in eigener Sache: Nächste Woche bin ich in Ihrem Dienst verreist und komme wahrscheinlich nicht dazu, eine neue Glosse zu schreiben. Erst also in zwei Wochen wieder.

Der Freund der Freundin der Freundin – ein Gedächtnisprotokoll

Ich habe den Namen längst vergessen und bin froh darum.

Er rief mich eines Tages – ich denke vor etwa zwanzig Jahren – an. Er war Amerikaner und erzählte mir, er habe meine Telefonnummer von Brenda bekommen. Er fragte, ob er  ein paar Tage bei uns wohnen könnte. Es war gerade Wiesnzeit, er war geschäftlich in München.

„Aber natürlich!“ sagte ich. „Wie geht es Brenda?“

„Bestens.“

„Was treibt sie heutzutage?“

„Sie arbeitet viel.“

Brenda war eine Lebensabschnittspartnerin meiner Jugend. Wir haben uns in San Franzisko kennen gelernt. Intimes werde ich hier nicht verraten. So etwas tue ich nur in meinen noch nicht erschienenen Büchern, dann aber ohnehin verschlüsselt und reichlich mit Fantasie vermischt.

Hier möchte ich es mit einer Anekdote bewenden lassen, in der sie überdies nur eine Nebenrolle spielt: Brenda war Anhängerin von EST, „Erhard Sensitivity Training“, ein damals - zumindest für Mr. Erhard - sehr lukratives „Human-Potential“-Geschäft.  Abertausende belegten die keineswegs billigen EST-Kurse in der Hoffnung – und jetzt muss ich kurz ins Englische wechseln: „to get it“, also „es zu kapieren“, „es zu begreifen.“ „Do you get it?“ war die Frage, „Hat es bei euch geschnackelt?“

Brenda schwärmte von EST. Ich war skeptisch. Wir hatten lange Diskussionen darüber. Einmal fragte sie, ob ich sie zu einem Einführungsseminar begleiten möchte, damit es auch bei mir schnackele. Ich sagte zu.

Die Veranstaltung fand in einem großen, edlen San Franzisko Hotel statt.  Am Eingang gab es ein Begrüßungsgetränk und dann wurde jeder nach dem Namen gefragt und bekam ein Namensetikett. Nur ich habe mich geweigert, meinen Namen an der Brusttasche zu tragen. Ich wurde schnell als „unkooperativ“ erkannt. Nach und nach wurde die große Menschenherde in einen Hörsaal getrieben. Dort sprachen diverse Redner (manche mit britischen Akzenten – was in den USA vornehm und exotisch klingt) über EST. Keine Ahnung, was sie sagten. Plötzlich erschien Mr. Erhard  mit großem "Hoppla" höchstpersönlich. Man erklärte uns, dies sei eine fantastische Überraschung. Denn der vielgereiste Gründer von EST war, wie es hieß, nur zufällig in der Stadt. Von Erhards Rede ist mir nur ein Satz im Gedächtnis geblieben . Er sagte, dass sich der Black-Panther-Führer Eldridge Cleaver längst zu EST bekannte. Aus dem Publikum hörte man ein „Uuuu!“ des Erstaunens. Dann fügte Erhard hinzu, dass Cleaver viel Zeit im Gefängnis – „behind bars“ auf Englisch, also „hinter Gittern“ – verbracht hätte, was sein Bewusstein erheblich erweitert hätte. Wieder „Uuuuu!“. Nun folgte die Bemerkung: „Auch mir sind Bars nicht fremd…“ Diesmal meinte er jedoch „Kneipen“. Es sollte ein Wortwitz sein. Und tatsächlich: Viele im Publikum haben gelacht.

Schließlich wurden wir in Gruppen eingeteilt. Ich weiß nicht mehr, ob Brenda und ich in der selben Gruppe waren. Ich erinnere mich nur daran, dass ich mich mit etwa 50 Personen in einem Raum befand und dass unser Kursleiter, jung, sehr männlich, braungebrannt und wortbewandt war.

Er redete  sage und schreibe zwei Stunden ohne Pause. Vielleicht war er auch unterhaltsam. Was er sagte, hat mich offenbar wenig beeindrückt. Denn ich weiß den Inhalt nicht mehr. Es ging irgendwie darum, dass wir „es begreifen sollten“.

Ich habe es jedenfalls sehr schnell begriffen. Denn ich musste immer dringender auf die Toilette. Nur: Man durfte den Raum nicht verlassen. Das gehörte zu den Grundregeln des Seminars. Ich war offensichtlich nicht der einzige, der auf die Toilette musste. Schließlich hatten alle das gleiche Begrüßungsgetränk konsumiert wie ich. Was ich begriffen habe: Das Bedürfnis, „es kapieren zu wollen“ wurde immer intensiver, je dringender ich mal musste. Nach zwei Stunden beglückte er uns mit einer hochtrabenden Platitüde, deren Inhalt ich gleichfalls nicht mehr weiß, die für viele aber  wie der Weisheit letzter Schluss klang. Dann entließ er uns in die Welt. Man strömte en masse in die Toiletten, um sich von der schweren Botschaft zu erleichtern.

Soviel über Brenda.

Ihr Freund wohnte  drei oder vier Tage bei uns. Wir gaben ihm zu essen, wir unterhielten uns mit ihm über dies und jenes. Komischerweise ist er meinen Fragen über das Befinden Brendas stets ausgewichen.

„Geht es ihr vielleicht nicht gut?“ fragte ich.

Kurz bevor er sich von uns verabschiedete, rückte er endlich mit der Sprache  raus: „Hör mal. Ich kenne Brenda nicht persönlich . Sie ist die Freundin einer Freundin. Ich habe eure Telefonnummer von meiner Freundin bekommen. Brenda hatte ihr gesagt, ich könnte bei euch anrufen, falls ich Schwierigkeiten hätte. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Die Hotels waren mir aber zu teuer.“

Immerhin hat er meiner Frau vom Oktoberfest ein Herzerl mitgebracht, worauf „Mei Schatzerl“ zu lesen war. Nach einer Woche kam ein Päckchen aus Zürich, wo er auch geschäftlich zu tun hatte. Es enthielt zwei winzig kleine Schweizer Messer und eine Dankeschönkarte geschickt. Get it? Ich nicht. Ich weiß ohnehin nicht mehr, wie er hieß. Wenn ich es wüsste, könnte er heute mein „Facebook“-„Freund“ werden.

Gibt es einen Himmel und eine Hölle? Hier eine verbindliche Antwort!

Es dürfte vor etwa zehn Jahren gewesen sein, als ich Ethel wiederentdeckte. Es war auf der Bronx-Seite, einem Heimatforum im Internet. Die Bronx ist meine – und Ethels – Heimat.

Ethel und ihre Schwester Leni wohnten mit ihren Eltern ein Stockwerk tiefer als meine Familie. Da Ethel etwa neun Jahre älter ist als ich, hat sie als Babysitterin auf meinen Bruder und mich aufgepasst. (Notabene: Der Name „Ethel“ ist Angelsächsisch und bedeutet „adel“, ist allerdings aus der Mode gekommen). Ich kann mich an diese Zeit nur sehr dunkel erinnern, z.B., wie ich eines Nachts Kopfweh hatte und elendiglich jammerte. Das arme Mädchen war überfordert, musste ihren Vater holen, der mir damals wie ein deus ex machina vorkam und mir eine halbe Aspirintablette verabreichte. Damals wusste man noch nicht, dass Aspirin unter seltenen Umständen für Kleinkinder lebensgefährlich sein kann. Egal. Ich erzähle hier nicht die Geschichte eines Schmerzmittels (obwohl sie nicht uninteressant ist). Ich möchte vom Wunder des Internets berichten.

Denn als ich Ethel wiederentdeckte, hatte ich  seit über vierzig Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. (Für Leser unter 35 folgender Hinweis: Vierzig Jahre sind wirklich nicht so viel Zeit – zumindest nicht, wenn man sie mit Erinnerungen füllen kann).

Wie soll ich dieses Ereignis beschreiben? Das WehWehWeh, dieser Sündenpfuhl, diese Informationswildnis, dieser wilde Westen für postpostmoderne Kaufmenschen, ist zugleich ein Sinnbild für das Leben nach dem Tod.

Damit meine ich: Alles findet sich wieder. Was längst als verschollen galt, ist plötzlich wieder da. So war es, zum Beispiel, im Fall von Ethel und mir. Die Biographie eines jeden Einzelmenschen wird im Internet globalisiert, anderen zugänglich gemacht. Die Spuren (fast) aller Menschen, die jemals eine Rolle im eigenen Leben gespielt haben, findet man wieder, egal wo sie sich momentan aufhalten. Das Internet kennt keine geographischen oder sonstigen Grenzen.

Als ich Ethel vor zehn Jahren wiederentdeckte, war diese Art von elektronischem Erlebnis noch immer ein Novum. Heute im Zeitalter des „Social Networking“ ist es zur Alltäglichkeit geworden. Allein „Facebook“ zählt weltweit 500 Millionen „Mitglieder“. (Ich bin nicht eins von ihnen, das ist aber eine andere Geschichte – die ich bereits geschrieben habe – siehe „Big Facebook is watching YOU!“). Dennoch habe auch ich manchmal neugierig nach den Spuren alter Liebschaften, Freundschaften und Feindschaften im Gesichtsbuch herumgeschnuffelt.

Im Leben nach dem Tod will man freilich nicht jeden Menschen, mit dem man einst die Schulbank gedrückt hat, wiedersehen. Wozu auch? Man geht nunmal verschiedene Wege im Leben. Man hat einander oft viel zu wenig zu sagen. Die „guten alten Zeiten“ zu feiern, wird schnell zur grausamen Öde. Mit Ethel ist das übrigens anders. Sie ist wie Familie. Wir schreiben uns regelmäßig und erzählen uns ausschließlich aus der Gegenwart.

Soviel zum Leben nach dem Tod. Nun eine ganz andere Sinngebung für das WehWehWeh, auf die ich erst seit ein paar Tagen gekommen bin.

Kollege Jeffrey Rosen hat im „New York Times Magazine“ einen äußerst interessanten Text über das „Social Networking“ veröffentlicht, in dem er auf eine neue digitale Gefahrenzone hinweist. Nämlich: Das Internet vergisst nichts. Das heißt: Auch Jahre nachdem man einen blöden Text oder ein peinliches Bild ins Netz geschickt hat, geistert dieser Abklatsch des Gewesenen fürderhin herum. Das kann auch Konsequenzen nach sich ziehen.

Rosen berichtet, zum Beispiel, von der jungen Lehrerin, die vor fünf Jahren, als sie fünfundzwanzig war, ein freizügiges Party-Foto mit kühnem Spruch ins Netz hochgeladen hatte. Ausgerechnet wegen dieses Bildes wurde ihr aber neulich die Zulassung als Lehrerin verweigert. Eine dumme Geschichte. Für mich aber der Hinweis, dass das Internet vielleicht als Abbildung der Menschenseele herhalten könnte.

Damit meine ich: Das Internet ist, wie die Menschenseele, ein enormer Speicher. Nichts, was jemals eingeprägt wurde, wird wieder gelöscht, höchstens verdrängt oder vergessen. Jegliche Belanglosigkeit aus der Vergangenheit, ja jedes Verbrechen, das einmal „gespeichert“ wurde, besteht weiter, auch wenn man diese lange nicht beachtet.

Bestimmt haben Sie die Erfahrung gemacht: Wie aus dem Nichts erinnern Sie sich plötzlich an etwas, was lange verschüttet war. Ja, es ist alles vorhanden. Alles. Meine Theorie: Das Gehirn ist ein Filter, dessen Aufgabe es ist, das Vergessen zuzulassen. So gesehen, ist das, was wir „Bewusstsein“ nennen, lediglich ein filtriertes Erinnern.

Die Toten werden aber zu gehirnlosen Wesen. In diesem Zustand verfügt die Seele über kein Filter mehr. Mit der Folge: Nichts bleibt ihr verborgen. Ein Vergessen ist nicht mehr möglich. Wer braucht Himmel und Hölle, wenn man das eigene Gedächtnis hat?

Zugegeben: Ich spekuliere nur. Schließlich bin ich aber Schriftsteller, und das Spekulieren ist nun mal mein Geschäft.

He! Dieter Bohlen*! Deutschland sucht eine Redewendung!

„FBI und Aussenministerium in Washington zürnen der Regierung in Larnaka, dass diese ausgrerechnet den dicksten Fisch des Agentenrings vom Haken gelassen hat.“

Ein Zitat aus der Schweizer Weltwoche (zu bemerken: kein Eszett!). Vom Kollegen Matthias Rüb geschrieben.

Manche Leser werden diesen Satz einfach so über sich ergehen lassen. Denn er klingt ganz normal und ist auch bildlich, was ihn schön macht. Ich hingegen bin gleich drüber gestolpert.

Es geht um das „vom Haken gelassen“. Nach kurzem Stutzen habe ich diese drei Worte ins Englisch rückübersetzt. Gleich fand ich meinen Verdacht bestätigt: Es handelte sich um das Idiom „to let someone off the hook“ , das einst aus der Anglersprache entlehnt wurde und heute im übertragenen Sinn „jemanden herauspauken“ oder „jemanden davonkommen lassen“ bedeutet. Etwa: „The judge could have sent him to prison for ten years, but he let him off the hook.“

Neugierig googelte ich „vom Haken lassen“, um zu eruieren, ob sich das oben entdeckte deutsche Pendant nur mir unbekannt war. Und siehe: Man findet es im online Wörterbuch „dict.cc“ als deutsches Idiom. Aber hold your horses (das heißt: Keine voreilige Schlüße ziehen):

In der Badischen Zeitung vom 29. August 2009 entdeckte ich folgenden Satz: „Dank ihm kann der Angler den Fisch – wie in diesem Fall – wieder unbeschadet vom Haken lassen.“ In diesem Fall kann man die Wendung nur wörtlich verstehen. D.h.: Der Haken ist ein Haken, der Fisch ein Fisch. Gleiches gilt auch für ein Beispiel des Tamalan Theaters: „Einen sprechenden Butt sollte man gleich wieder vom Haken lassen, erst recht, wenn er Wünsche erfüllen kann.“ Fazit: Auch ein sprechender Butt ist nur ein Fisch, den man fangen kann.

Aber nun bin ich auf folgendes Beispiel in der Süddeutsche Zeitung gestoßen: „Rechtzeitig vom Haken lassen“, lautete eine Überschrift vom 24. Oktober 2006. Und weiter: „Autos mit Katalysator sollten nicht zu lange "angeschleppt" werden.“

Merken Sie sich diese Sätze genau. Sie sehen hier womöglich den Geburtsmoment eines wahrhaften Idioms. Der Autor hat sich ein Wortspiel erlaubt (so was machen gelangweilte Journalisten gerne); er will den Abschlepphaken mit dem Anglerhaken unter einen Hut bringen. Haken also im übertragenen Sinn. Zum Vergleich folgendes Beispiel aus einem juristischen Text: „Der Abschleppunternehmer muss daraufhin das Fahrzeug wieder vom Haken lassen…usw.“

Und schlussendlich ein Text  der „Österreichisch Kubanischen Gesellschaft“ (ÖKG) vom August 2004. Es geht um einen jungen Mann namens Sherman Austin, der damals wohl Probleme mit der amerikanischen Justiz hatte. Zitat: „Der Staatsanwalt wollte ihn nicht mehr "vom Haken" lassen.“ Notabene. Der Autor von der ÖKG setzt sein „vom Haken“ in Anführungszeichen. Was nur bedeuten kann, dass es für ihn noch ein exotisches Idiom ist.

Insgesamt becircte Google mit ca. 20.000 Treffer für mein Stichwort. Ich habe freilich nur wenige unter die Lupe genommen (nehmen wollen). Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir es hier mit der Geburt eines Idioms zu tun haben.

Puristen werden stöhnen: „Schon wieder Denglisch!“ Aber so what. Ich bin der Meinung, das „jemanden vom Haken lassen“ eine schöne Bereicherung für die deutsche Sprache werden wird.

Als Ausgleich erkläre ich mich bereit, ein deutsches Idiom ins Englische hineinzuschmuggeln. Wie wäre es mit „He doesn’t have all his teacups in the cupboard“? Sie sollten aber wissen: Mein Einfluss auf die englische Sprache ist seit vielen Jahren sehr gering geworden und schwindet ob meiner deutschen Lebensweise weiterhin zusehends dahin.

Es würde sicherlich helfen, wenn „vom Haken lassen“ mal prominente Unterstützung bekäme. Ich schlage Dieter Bohlen als Paten für dieses nette neue Idiom vor. Er könnte, zum Beispiel, dem angehenden Hiphop-Tänzer oder der coolen Sängerin sagen: „Du hast mich nicht ganz überzeugt, aber diesmal lass ich dich vom Haken. Du kommst in die nächste Runde.“

Im Nu würde sich dieses neue Idiom ausbreiten wie Mehltau im feuchten Keller.

*Für Sprachbloggeurleser im Jahr 2040 folgender Hinweis: Dieter Bohlen war ehemals ein Entertainer in der Popszene. Der Name war einst sehr bekannt.

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