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Warnung vor einem Buchstaben

Manchmal tut eine gewagte Theorie gut, auch wenn sie ein bisschen überspitzt über die Lippen geht. 

Folgende Sprachen – so meine Theorie – wurden von mundfaulen Dummköpfen ins Leben gerufen: Englisch, Spanisch, Französisch und Portugesisch.

Folgende Sprachen hingegen entstanden in einer gepflegten Atmosphäre durchdachter Intelligenz: Deutsch, Holländisch, Italienisch, Romänisch und die skandinavischen Sprachen.

Es ist wirklich nicht meine Art, anderen Menschen auf den Schlips zu treten. Doch bisweilen ist es erforderlich, die Luft zu reinigen.

Gegenstand meiner berechtigten Kritik ist ein einziger Buchstabe: das „S“.

Diese Schriftengiftschlange ist im Englischen, im Spanischen, im Französischen und im Portugesischen längst zum alleinigen (mit nur wenigen Ausnahmen) Merkmal für die Mehrzahl geworden.

Man füge dieses Buchstabenwürmchen einem Hauptwort der oben erwähnten Sprachen an und zack! hat sich das Wort  wie durch Zauberhand vermehrt. Wegen eines mickrigen „S“ wird im Nu ein „house“, ein „maison“, und ein „casa“ zu einem ganzen Straßenzug. Vergleichen Sie diesen Vorgang bitte mit dem deutschen „Haus“, „Häuser“. Die deutsche Mehrzahl gilt zwar als kompliziert, dafür ist sie ausgesprochen elegant.

Gleiches gilt für das Italienische. Besitzt man mehr als ein „casa“, so hat man schöne „case“. Lateiner werden hier den alten lateinischen Nominativ „casae“ wiedererkennen. Ein Wort mutiert in ein anmutiges Gedicht!  

Wie kam es zu dieser „S“-Störung? Und damit meine ich diese schnöde Pluralisierung durch ein "S". Zwei Gründe kenne ich: Mundfaulheit und Ignoranz.

Fangen wir mit dem Angelsächsischen an. In dieser mit dem Plattdeutschen und dem Friesischen verwandten Sprache sagte man dereinst „hus“ für „Haus“. Mehrzahl: „husu“. Angelsächsische Nomen waren Jahrhunderte lang den deutschen ähnlich. Das heißt: Sie kamen in drei Geschlechtern und vier Fällen und unzähligen, wunderbar verwirrenden Formendungen vor – bunt und vielfältig wie italienisches Eis. Wer nicht als Angelsachse geboren wurde, der war verdammt – wie heutige Ausländer (zum Beispiel ich) im Bezug auf das Deutsche – , in aller Ewigkeit Pluralfehler zu machen.

Nun ein kurzer Ortswechsel zum römischen Kaisereich, wo Gallier und Iberer nicht in der Lage waren, anständiges Latein zu loquieren (schönes Wort, nicht wahr?). Das, was Anwohner dieser Gegend als Lateinisch bezeichneten, war letztlich nur eine Verballhornung dieser eloquenten Sprache. Offenbar waren jene Gallier und Iberer von den fünf lateinischen Fällen schlichtweg überfordert. Das Ergebnis: kasuslose Sprechschlampigkeit. Zugegeben: Auch die Spätrömer – sprich Uritaliener – kamen, was die uralten Kasus betrifft, allmählich aus der Übung, bis diese vollständig verschwanden. Trotzdem haben sie den alten Nominativ gerettet und benutzen ihn stolz bis heute.

Wie kamen die Iberer und Gallier dazu, ausgerechnet einen „S“-Plural aufzugabeln? Hier die schockierende Antwort: Wenn sie das Bedürfnis hatten, etwas zu vermehren, verwendeten sie den Akkusativplural des Lateinischen: Im Fall von „casa“ also „casas“. Warum das? Wer weiß. Wahrscheinlich kam ihnen ein Akkusativplural pluraler vor als ein Nominativplural.

Das meine ich mit Mundfaulheit und Ignoranz.

Aber kehren wir nach England zurück. 1066 eroberten die Normannen – ehemalige Wikinger, die nur noch „Altfranzösisch“ parlierten – England. Sie brachten mit über den Ärmelkanal nicht nur ihre Waffen, Pferde und tonnenweise Blumenkohl, sondern ebenfalls ihr scheußliches Küchenlatein, das sie mittlerweile als „Französisch“ bezeichneten. Alles, was sie in England vorfanden, pluralisierten sie mit diesem dämlichen „S“. Die Angelsachsen, die nicht weniger mundfaul waren, übernommen das Teufelszeug willfährig. Bald hatte sich das alte, ehrenvolle „husu“ in „husus“ oder so verwandelt.

Und jetzt wissen Sie, warum ich der Meinung bin, dass die ersten Sprecher des Englischen, des Spanischen, des Französischen und des Portugesischen mundfaule Dummköpfe waren.

Warum habe ich Ihnen diese schockierende Geschichte erzählt? Die Antwort liegt auf der Hand. Besucht ein Deutscher die Familie „Meyer“, pflegt er heute zu sagen: „Ja, wir haben die Meyers besucht.“ Besitzt er mehr als einen Computer, so könnte man bald deklarieren, „Schau, ich habe zwei Computers.“ ("Handys" hat man schon). Nur eine Frage der Zeit, bevor man zwei „Rechners“ haben wird und, wenn er besonders wohlhabend sein sollte, mehrere „Hauses“ bewohnen könnte.

Daher diese dringliche Warnung.

Eine letzte Frage: Wie lautet die Mehrzahl von „S“. Ja, Sie haben es erraten: „SS“. So gefährlich kann dieses „S“ werden, wenn es sich vermehrt.

Nicht vergessen: Sie haben es erst beim Sprachbloggeur erfahren.

PS in eigener Sache: Nächste Woche bin ich in Ihrem Dienst verreist und komme wahrscheinlich nicht dazu, eine neue Glosse zu schreiben. Erst also in zwei Wochen wieder.

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