You are here

Achtung: Es spricht die Stimme des Spießertums (oder Der Künstler dankt dem Spießer)

Möchten Sie meiner neuen Interessengemeinschaft beitreten? Ach, klar, Sie möchten erst wissen, worum es geht.

Beinahe zögere ich mit der Sprache. Denn ich weiß schon jetzt, dass Sie gleich ablehnen werden.

Ich möchte nämlich zur Stimme des Spießertums werden. Und so wird meine I.G. auch heißen: Die Stimme des Spießertums e.V.

Mal ehrlich: Klingt hübsch, nicht wahr?

Raten Sie mal, was der seltenste Satz in der ganzen deutschen Sprache ist. Sie werden kaum drauf kommen. Er lautet: „Ich bin ein Spießer.“

Ist ja logisch! Wann haben Sie das letzte Mal diesen Satz freiwillig über die Lippen gebracht? Wahrscheinlich noch nie. Kein Mensch sagt von sich, er sei ein Spießer. Das dürfte das allergrößter „No-No“ in der deutschen Sprache sein. Das Fatale: Fast niemand weiß, dass es so ist.

Im Deutschen ist es immer der andere, der spießig ist. Eher gesteht einer,  Pädophile oder Mörder zu sein, als dass er sich zu seinem Spießertum bekännte.

Schade.

Und deshalb möchte ich dem Spießer – bzw., der Spießerin – mittels meiner I.G. Mut machen.

Ich fange selbst an, damit Sie keinen Zweifel an meine Führungsqualitäten haben.

I c h  b i n   S p i e ß e r.

Sie zögern es mir nachzumachen? Ach, kommen Sie schon. Nur Mut fassen:

I c h  b i n  S p i e ß e r (i n).

Na? War nicht so schlimm? Und wenn Sie es einmal über die Lippen gebracht haben, sind Sie praktisch zum Revolutionär geworden! Zum Helden! Ich gratuliere! Mit einem einzigen Satz haben Sie viel dazu beigetragen, die deutsche Sprache zu erneuern. Eine solche Gelegenheit hat man nicht jeden Tag. Und stellen Sie sich vor: Man musste erst das 21. Jahrhundert schreiben, bis es so weit war. So läuft es immer in der Geschichte. Es kommt der günstige Punkt, und zack!

Wie ich auf diese heilsgeschichtlichen Gedanken komme? Ich habe gestern an einen Künstler gedacht (ich verrate den Namen nicht), der sich ein Leben lang weigerte, U-Bahn zu fahren, weil er Kontakt mit der schnöden Masse so sehr scheute.

Wir Spießer sind anders. Wir lieben die schnöde Masse. Mehr noch: Die schnöde Masse, das sind wir!

Kennen Sie Antonin Artaud? Auch er war Künstler, ein Franzose, der viele Jahre seines Lebens in der Irrenanstalt verbracht hat. Nichts Ungewöhnliches für Künstler. Das tat auch Robert Walser. Hölderlin, Nietzsche usw. waren alle Kandidaten für die Irrenanstalt.

Artaud hat einmal einen kurzen Essay mit dem Titel – hier übersetze ich -  „Ich scheiße auf die Seele“ oder ähnlich geschrieben. Darin verweist er die Seele in ihre Schranken. Es brauche einen Körper, um die Seele mühevoll auszuschwitzen, schreibt er oder so ähnlich. Ich habe den Wortlaut längst vergessen. Es sind Jahre vergangen, seit ich den Text gelesen habe.

Ich sage hingegen: Es braucht Tausende von Spießern, um einen Künstler auszuschwitzen. Deswegen ist der Künstler dem Spießer stets zu Dank verpflichtet. Jawohl!

Und was macht der Künstler stattdessen? Er meidet die U-Bahn und dergleichen.

Das wird’s nicht mehr so schnell geben. Jetzt hat der Spießer endlich seine Stimme gefunden. Bald wird der Künstler ganz von allein auf die Idee kommen, sich zu bedanken.

Diesmal schreibe ich für Sie, liebe Migrationshintergründler

Wann ist ein Kompliment kein Kompliment?

Hier ein einfaches Beispiel: Sie gehen ins Geschäft und kommen mit dem Ladenbesitzer ins Gespräch.

„Aus Hamburg sind Sie“, sagt er, „Sie sprechen aber sehr schön Deutsch.“

Für Hamburg, kann man beliebig „München“, „Erfurt“, „Remagen“, „Hoyerswerda“, „Trier“ usw. setzen. Ist egal.

Okay. Mein Beispiel ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Normalerweise bekommt man keine Komplimente für etwaige Fähigkeiten in der Muttersprache – es sei denn, es handelt sich um einen Aufsatz in der Schule, um eine eloquente Rede, die man gerade gehalten hat, oder um den besonderen Witz eines Schriftstellers oder die gekonnte Darbringung eines Schauspielers.

Aber nun, liebe Migrationshintergründler, zu unserer Situation.

Letzte Woche ging ich in eine Änderungsschneiderei und kam mit der Ladenbesitzerin ins Gespräch. Als sie mir verriet, sie sei geborene Griechin, outete ich mich sogleich als geborenen Amerikaner. Das erkennt man ohnehin an meinem Akzent.

Im Gegensatz zu mir sprach die Schneiderin ein tadelloses, akzentfreies Deutsch. Das lässt sich aber leicht erklären. Sie lebt schon seit über 45 Jahren in Deutschland und kam als Kind hierher.

Fakt ist: Wenn man eine Fremdsprache vor der Pubertät lernt, wird man sie fast immer wie ein Muttersprachler beherrschen. Ist man aber schon in (oder jenseits) der Pubertät, wird man den eigenen fremden Akzent selten los. So erging es Henry Kissinger. Er war bereits fünfzehn, als seine Familie 1938 in die USA ausgewandert ist. Sein um ein Jahr jüngerer Bruder Walter hat im Gegensatz zu Henry keinen deutschen Akzent.

Ich war schon ein junger Mann, als ich 1975 nach München kam. Kein Wunder, dass ich mich nie als native speaker der hiesigen Sprache werde durchmogeln können. Manche schaffen es dennoch. Ich habe Migrationshintergründler kennengelernt, die akzentfreies Deutsch reden, obwohl sie – wie ich – jenseits der Pubertät waren, als sie Deutsch lernten.

„Stellen Sie sich vor“, sagte mir die tapfere Schneiderin, „Es gibt Leute, die mir Komplimente machen, weil ich Deutsch rede. Das macht mich aber rasend. Sie wissen nichts über mich, behaupten aber, dass ich, weil ich im Ausland geboren wurde, ein dressierter Affe bin. Manche Kunden bezeichnen mich nicht als die Schneiderin, sondern als die griechische Schneiderin. Und dann plappern die Politiker über die Assimilation. Ich will mich ohnehin nicht assimlieren lassen. Ich bin stolze Griechin, auch wenn ich Deutsch wie eine Deutsche spreche. Integration und nicht Assimilation, das sage ich.“

Integration statt Assimilation. Das hat mich beeindruckt, und ich habe der Schneiderin gleich verraten, ich würde sie mal zitieren. Bisher hat kein Politiker die Sache mit der Eingliederung von Ausländern so präzise artikuliert wie sie.

Immerhin: Die Schneiderin und ich sind beide bestens integriert und trotzdem haben wir unseren Kindern die Sprache unserer jeweiligen Mütter beigebracht.

Ja, liebe Migrationshintergründler, nehmen Sie sich an uns ein Beispiel. Eine „Assimilation“ gibt es ohnehin nicht.

Als ich einmal in einer Buchhandlung aus meinem Buch „Kaspar Hausers Geschwister“ vorlesen sollte, fragte mich ein Zuhörer vor der Lesung – langsam und deutlich – , ob ich (immerhin Autor eines Buches in deutscher Sprache) Deutsch spräche oder ob er mit mir lieber Englisch reden solle.

„Nein, nein“, antwortete ich, „Es fällt mir zwar schwer, Sie zu verstehen, aber ich kann mich in der Fremdsprache zumindest radebrechend verständigen.“

Ach, und hier mein Lieblingskompliment. Einmal sprach mich eine Amerikanerin auf der Straße an und fragte mich auf Englisch nach dem Weg. Ich antwortete selbstverständlich in der Muttersprache. Daraufhin bedankte sie sich und sagte: „You speak wonderful English.“ Was blieb mir anders übrig? „Thank you“, erwiderte ich. Sehen Sie: Manchmal ist einem jedes Lob recht.

Heute beim Sprachbloggeur praktisches Wissen: Wie man abstrakte Kunst lieben lernt

Worte. Pfui! Manchmal hat man einfach zu viel davon.

Nein, ich bin nicht schreibmüde geworden. Schriftsteller sind diejenigen, die weiter erzählen, nachdem jedem anderen die Puste ausgegangen ist.

Dennoch gibt es Augenblicke, in denen ich kein Wort mehr ertrage – und keinen konkreten Gegenstand mehr sehen will.

Wissen Sie, was ich dann mache?

Ich gehe stracks ins Museum und halte mich bei der abstrakten Kunst auf. In München kann man das besonders gut. Hier haben wir die Pinakothek der Moderne, das Museum Brandhorst, das Haus der Kunst und und.

Ich war nicht immer so ein Liebhaber der abstrakten Kunst. „Das nennt man ‚Minimalismus’“, sagte mir Freund Fritz vor vielen Jahren, als er mir begeistert ein Bild zeigte, auf dem nur drei dicke Farbstreifen zu sehen waren.

„Dann bin auch ich Maler“, antwortete ich. „Ich könnte es genauso.“

„Ach, ja“, sagte Fritz und zuckte mit den Schultern. Er spürte wohl, dass ich noch nicht so weit war. Inzwischen bin ich so weit. Mein Saulus/Paulus-Moment trat vor etwa einem Jahr ein, nachdem ich einen richtigen Erschöpfungszustand durchgemacht hatte. Mein Teller war voll, und ich hatte das Bedürfnis, mich von viel Ballast zu befreien. Wie in Trance begab ich mich eines Tages ins Museum, genauer gesagt, in die Pinakothek der Moderne. Plötzlich stand ich in einem großen Raum – einem riesigen Raum mit weißen Wänden. An den weißen Wänden hingen Bilder, nicht viele, alles überschaubar also. Es war still im Raum, und die Bilder waren Werke der Abstraktion. Wer nach konkreten Gegenständen gesucht hätte, wäre hier nicht fündig geworden.

Neugierig schaute ich mich um. Auf einmal merkte ich, dass ich mich zunehmend besser fühlte. Ich war ganz heiter geworden. Dann schoss mir folgender Gedanke durch den Kopf: Ich bin nicht mehr auf der Erde. Ich befinde mich in einer anderen Welt, und die Bilder, die ich hier betrachte, die sind Mitteilungen in der Sprache dieser fremden Welt. Das, was für mich gegenstandslos scheint, gilt in dieser fremden Welt als konkreter Gegenstand.

Das war das Schlüsselerlebnis, und ich konnte mich dort kaum satt sehen, so aufregend erschien mir diese neue Welt. Seitdem bin ich süchtig nach abstrakten Bildern und Skulpturen. Zu meinen Lieblingsexponaten zählen sechszehn schmucklose Holzkästen, die in einem weiß gestrichenen Raum  der Pinakothek der Modernen hängen. Alle sind gleich groß. Naturbelassenes Kiefern- oder Fichtenholz. Sie unterscheiden sich von einander lediglich durch die unterschiedlichen Trennwände des jeweiligen Kastens. Der Künstler Donald Judd nennt sein Werk „Untitled“.

Freund Fritz ist zufrieden mit mir. Er erklärte mir im vergangenen Winter, es handele sich bei diesen Kästen um unterschiedliche Charakter- oder Persönlichkeitsdarstellungungen. Ein Kasten wird, z.B., durch eine senkrechte Trennwand fast zweigeteilt, ein anderer wird durch eine Schräge diagonal getrennt. Ein Kasten ist ganz offen, bei einem gibt es eine „Vorwand“, die den Hohlraum von der Außenwelt beinahe völlig abkapselt, usw. Alles dargegstellt durch Mittel einer wortlosen Fremdsprache. Tja, so verständigen sich die Außerirdischen untereinander.

Neulich habe ich meine Kenntnisse dieser abstrakten Sprache noch weiter vertieft.. „Weiß du“, sagte ich Freund Fritz erst letzte Woche, „Neulich fiel mir ein, dass es hinter jedem realistischen Bild einen abstrakten Kern gibt – als habe der Maler eines realistischen Bildes erst die abstrakte Form wahrgenommen, bevor er sie zu vergegenständlichen begann.“

Ich merkte es Fritz an. Er war stolz auf mich. Ich hatte den Sinn der Abstraktion endlich kapiert. Und nun möchte ich ihn mit Ihnen, liebe Leser, teilen. Jawohl, beim Sprachbloggeur bekommt man auch Praktisches serviert. Jeder will die Welt verstehen. Bloße Unterhaltung wird auf die Dauer nur langweilig.

Was macht Lady Gaga nach Feierabend?

Wir schreiben das Jahr 1969 (oder 1970). Standort: Isla Vista, California, ein Studentenstädtchen nahe der Universität California in Santa Barbara. Ein Quadratkilometer terra firma, wo Männlein und Weiblein fast ausschließlich zwischen 17 und 25 sind – und nur ein Katzensprung vom Pazifik. Ja, den Garten Edens hat es wirklich gegeben (und die Vertreibung aus dem Paradies).

Abends eine Lesung im Unicorn Bookstore. Der Schriftsteller – wie hieß er wieder? – sitzt vor dem Publikum hinter einem langen Tisch und liest aus seinem neuen Buch vor. Plötzlich Lärm. Ganz hinten an der Tür. Unruhe macht sich breit. Ein Penner steht da und plappert vor sich hin. Er ist ungewaschen, unrasiert, wahrscheinlich besoffen. Eine Gitarre baumelt von seiner Schulter. Nun drängt er sich zielsicher nach vorne, setzt sich auf den Tisch, wobei er die Sicht auf den Autor blockiert, nimmt seine Gitarre in Hand und fängt an einen Blues zu spielen. Etwa:

 

I just came in from Chicago, Chicago, Illinois.

Just came in from Chicago, Chicago, Illinois.

And I don’t have no place to go,

In this town of yours I’m just another new boy.

 

Oder ähnlich. Weil ich seinen Text  nach so vielen Jahren nicht mehr weiß,  habe ich obigen Blues improvisiert.

Die Zuhörer, Studenten, Literaten und sonstige kultivierte Menschen (oder deren gelangweilte Anhängsel) waren wegen dieser Unterbrechung nicht weniger irritiert als der gastierende Autor. Dennoch hat man den Eindringling – zumindest eine Zeit lang – geduldet. So sind wir Menschen. Man will stets eine Konfrontation, koste, was es wolle, vermeiden. Die Störung wurde aber zunehmend unangenehmer, und endlich forderte man den Landstreicher auf, entweder Platz zu nehmen und zu schweigen oder die Buchhandlung unverzüglich zu verlassen. Vielleicht hat man ihm mit ein paar Dollar zu einer Entscheidung verholfen wollen – das weiß ich nicht mehr so genau. Historiker bauen ihre Geschichten immer auf Fragmenten.

Doch jetzt komme ich zur Pointe – also zum Grund, warum ich diese Momentaufnahme aus der Vergangenheit auffrische. Schlussendlich haben ein paar forsche Mannsbilder den Partycrasher gepackt und waren dabei, ihn unsanft aus dem Laden hinauszukomplimentieren. Jetzt machte er erst recht Radau, als hätte man ihm in seiner Ehre verletzt. Zufällig stand an der Türe ein damals sehr bekannter amerikanischer Lyriker – ich werde hier den Namen allerdings stark verpixeln wie man es heute mit den interessantesten Bilder in den Zeitungen und im Internet zu tun pflegt. Wir nennen ihn also „Goethe“.

„Goethe“ selbst wurde die Situation wohl zu bunt, und auf einmal erhob er die Stimme mit stolzer Authorität: „Können Sie nicht endlich die Klappe halten.“

Gleich schubste ihn der Penner. Ja, er hat ihn einfach geschubst.

Der berühmte amerikanische Lyriker sah rot: „He! Was erlauben Sie sich! Ich bin Wolfgang Amadäus Goethe!“ brüllte er.

Was danach passierte, habe ich längst vergessen, ist eh nicht so wichtig. So sehr blieb ich an G.’s letzten Satz hängen.

Mein Gott, habe ich gedacht. Er ist mit seinem Namen verheiratet! Das, habe ich damals gedacht.

Verstehen Sie, wie ich das meine? So sehr hat er sich mit seinem Namen als Markennamen identifiziert, dass er der festen Meinung war, keiner darf ihn malträtieren. Ja, nur weil er „Goethe“ hieß.

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich frage, was Lady Gaga nach Feierabend macht. Ist sie einer, der die eigene Identität nicht ablegen kann, bzw., will? Spielt sie „Lady Gaga“ „24/7“ (sprich: twenty-four seven), also tagein tagaus? Legt sie sich geschminkt und kostümiert ins Bett, die lackierten Fingernägel auf der Bettdecke fotoreportagenfertig ruhend?

Das Gleiche frage ich mich, wenn ich an den futuristisch frisierten Bill Kaulitz denke. Sieht er so aus, wenn er den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schiebt? Und wie ist er Zuhause? Schminkt er sich ab, zieht er die Handschuhe, das glitzernde Schuhwerk aus, um in die alten Schlappen zu schlüpfen?

Ach der Ruhm! Aus Menschen macht er Namen.

"Griechische Liebe" für eifrige Geschichtsklitterer

Zunächst Persönliches:

Ich war sechszehn, strichdünn und niedlich. Es war im März, und ich wartete im tiefen, frischen Schnee auf den Bus. Wir befinden uns in New York City, Stadtteil Queens.

Ein Wagen hielt an. Der Fahrer, untersetzt, vielleicht Mitte dreißig, machte die Wagentüre auf. „Die Busse fahren nicht, sie stecken im Schnee“, erklärte er hilfreich. „Steig ein, ich fahre den gleichen Weg.“

Beinahe dankbar bin ich eingestiegen. Smalltalk. Er sagte, ich solle mich entspannen, den Mantel aufmachen. „Hast du eine Freundin?“ fragte er. Vielleicht habe ich ja gesagt. „Und? Was für Sachen machst du mit ihr, äh?“ Der schlüpfrige Ton war freilich nicht zu überhören. Nun stellte ich fest, dass er sich mit der rechten Hand seinen Oberschenkel intensiv bearbeitete, als würde er an etwas sägen. Er hörte jedenfalls nicht auf, über die „Liebe“ zu plappern. Knaben sind höflich, wenn sie mit Erwachsenen reden. Außerdem war ich noch zu jung, zu unerfahren, um zu wissen, dass er mir zu nahe trat. Instinktiv habe ich aber stets ausweichend auf seine Fragen geantwortet.

Endlich meine Chance. „Ach, da ist meine Ecke“, trillerte ich mit klaustrophobischer Freude, „hier steig ich aus.“

„He, warte. Willst du einen Blowjob?“ fragte er nun, zur Handlung genötigt.

„Nein, danke“, antwortete ich geschwind und stürzte aus dem Wagen.

„He, deinen Schuh, du hast deinen Schuh im Auto gelassen.“ In der Tat, ich stand mit dem Socken im Schnee. So ist es, wenn man’s eilig hat. Ich schnappte ihn mir sehr schnell aus der ausgestreckten Hand und ließ die Autotür dankbar zufallen.

Nun denken Sie wahrscheinlich, dass der Sprachbloggeur anhand dieser Anekdote auch seinen aufklärerischen Beitrag zum allgegenwärtigen Thema päderastischer Übergriffen leisten will. Sie irren sich. Mein Interesse gilt heute der Antike. Genauer gesagt: Ich möchte die Altgriechen in Schutz nehmen. Denn ihre, wie es im Moment heißt, „idealisierte Knabenliebe“,muss  häufig als Modell für die Fummeleien zeitgenössischer Schutzbefohlener herhalten.

Insbesondere werden Platon und Sokrates als Schutzheilige der Kinderschänder hochgehalten. Ich sage nur: Schmarrn.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Der griechische Päderast ist keine Erfindung tüchtiger Verleumder oder schwärmerischer Fans  des frühen Abendlands. Es gab ihn tatsächlich – und in jener altertümlichen Gesellschaft vielleicht sogar zahlreicher als in der heutigen. Schließlich ist auch „Päderast“ eine griechische Vokabel: „Pais“ bedeutet „Knabe“, „erastos“ „(aktiver) Liebhaber“. Es kam wirklich vor, dass gestandene Mannsbilder zu „Beschützern“ von attraktiven, bartlosen Knaben wurden – dies allerdings hauptsächlich in vornehmen Kreisen. Und es kam auch vor, dass bei solchen Beziehungen eine gewisse „erotische“ (auch eine griechische Vokabel) Komponente vorherrschte. Wobei „erotisch“ nicht unbedingt mit der Berührung intimer Zonen gleichzusetzen ist, auch wenn die Griechen – wie viele Völker der Antike – insgesamt weniger Berührungsängste im (männlichen) Umgang hatten als wir.

Sokrates, dessen Meinungen und Gedanken wir dank den Schriften Platons und Xenophons kennen, wurde aber nie müde zu betonen, dass die körperliche Intimität keinen Platz in der Lehrer-Schüler-Beziehung habe.

Dennoch haben griechische Erotomanen ihre Neigungen nie verheimlicht bzw. verheimlichen müssen wie die heutigen es tun, die Schweigegeld bezahlen oder im Falle eines Verrats mit Mord drohen. Hier ein besonders anschauliches Beispiel: Xenophon stellt in seinem „Gastmahl“ den reichen Dandy Kallias vor, der sich in den hübschen Boxkampfsieger, den Teenager Autolykos, verschossen hat. Dem Angebeteten zu Ehre schmeißt Kallias ein Gastmahl, zu dem auch Sokrates eingeladen wird. Raten Sie mal, wer sonst unter den Gästen ist: Der Vater des begehrten Knaben! Tut das heute der päderastische Geistliche oder der schlüpfrige Lehrer? Nein, er will seiner Neigung lieber im Dunklen huldigen.

Die Griechen haben diese Neigung ohne Scheu kundgetan.

Trotzdem wurden die griechischen Knaben vom Gönner weniger vernascht als man sich das vielleicht vorstellt. Das überrascht, nicht wahr? Es war aber so. Was hingegen unter den Griechen doch sehr häufig vorkam, waren erotische Techtelmechtel unter Jünglingen selbst. Die Tonmalerei gibt dafür viele bunte Beispiele.Wissen Sie aber, warum Knabenliebschaften so zahlreich waren? Weil im alten Griechenland eine Beziehung zu einem Mädchen (wenn sie keine Sklavin war) strengstens verboten war – so wie heute in manchen islamischen Kulturen. In Saudi Arabien sind Liebschaften zwischen Jünglingen, wen wundert’s, sehr verbreitet.

Nebenbei: Richtige homosexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Männern galten in Griechenland nicht als „griechische Liebe“. Männer in solchen Beziehungen nannte man schlichtweg „kinaidoi“, etwa „schwule Säue“.

Ich habe dieses Thema heute keineswegs erschöpft. Ausführlicheres lesen Sie in meinem heiteren neuen Roman, „Hierons Gastmahl oder das Wort als Ware“. Verleger und Autor haben sich allerdings noch nicht gefunden.

Warum ich so beliebt bin

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem guten Geschmack, geneigte Leser.

Sie befinden sich auf einer der populärsten Seiten im ganzen WehWehWeh. Ich habe nämlich heute entdeckt, dass nur 172.005 Webseiten in Deutschland beliebter sind als „Der Sprachloggeur“. Weltweit werden lediglich 1.559.833 öfters besucht als diese Seite. Dies – darf ich erinnern – bei einer Gesamtweltbevölkerung von sechs (oder sind es schon sieben?) Milliarden Menschen.

Nicht übel, gell?

Nein, heute keine Selbstverherrlichung. Aber wie heißt es so schön? „Selbstlob! Nur dem Neide stinkt's.“

Vielleicht möchten Sie wissen, warum „Der Sprachbloggeur“ so viele Herzen erobert hat. Und damit komme ich auf die Werbung zu sprechen.

In meiner Jugend habe ich öfters mit der Idee geflirtet, Werbefachmann zu werden. Das müsse eine tolle Arbeit sein, dachte ich. Man verbringe den ganzen Tag auf der kreativen Suche nach trifftigen Ideen und frechen Sprüchen. Für jemanden wie mich, der Wörter – und Worte – liebt, wahrlich ein maßgescheiderter Beruf.

Dann bin ich aber Raucher geworden und habe täglich eine, manchmal zwei Schachteln geraucht. Nach wenigen Jahren war ich ständig heiser und litt immer öfters an Halsweh, Streptokokken usw.

Einmal lag ich mit schmerzhaften Schluckbeschwerden im Bett und sinnierte über die damalige Tabakwerbung in den USA nach. Nicht nur über den „Marlboro-Mann“. Der war nur einer von vielen bekannten Tabak-Ikonen. Ein Konkurrent setzte, z.B., in den TV-Reklamen Menschen (meistens jung) in Szene, die eindeutig Freude am Leben hatten. Natürlich mit Zigarette in der Hand oder beim genussvollen Lungenzug. Derweil trillerte ein Chor den damals bekannten Ohrwurm: „Winston tastes good like a cigarette should“ (siehe YouTube).

Ich kranker Raucher grübelte aber folgendermaßen: Mit meinem hart verdienten Geld wird diese dämliche, verlogene Werbung finanziert. Um Gottes Willen! Ich subventioniere eine Industrie, die mich letztendlich krank macht! Ich war empört. Doch gerade diese Empörung hat mir die Kraft gegeben, auf der Stelle mit dem Rauchen aufzuhören – obwohl ich damals schwer nikotinsüchtig war. Nein, mein gerechter Zorn war noch stärker als jegliche Sucht.

Szenenwechsel. Eines Abends – es war ein paar Jahre später – war ich mit zwei Bekanntinnen oder Freundinnen – unterwegs. Der Begleiter einer der Frauen war, wie ich bald entdeckte, Werbefachmann. Er war außerdem viel älter als ich, vielleicht 35. (An dieser Stelle schmunzeln die Alten wissentlich, während die jungen Leser über den schlechten Witz nur noch stöhnen). Sogleich wurde ich aggressiv. „Werbefachmann!“, sagte ich mit der Überzeugung eines Menschen, der keinen Augenblick daran zweifelt, dass er recht hat, „Dein Beruf, wenn du mich fragst, ist absolut amoralisch.“Notabene: Auf Englisch bedeutete dieses Wort, "moralisch indifferent". Es folgte einige fundierte Begründungen für mein vernichtendes Urteil. So erklärte ich beispielsweise, dass die Werbung die Kosten eines Produkts in die Höhe treibe usw.

Er antwortete, gefasst und geduldig, und vor allem im Ton eines Fachmannes, der einem überaktiven Blödian sein Handwerk erklären sollte. Ich wollte von alldem aber nichts wissen und erwiderte mit dem leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn eines selbstverliebten Fanatikers: „Nein, der Beruf lebt ausschließlich von der Amoralität.“

Inzwischen hatte ich ihn derart penetrant bearbeitet, dass ier nahe dran sein musste, mir eine zu schmieren. Ich gebe zu. Ich hätte es auch verdient. Ich war wirklich unausstehlich. Aber so ist die Jugend manchmal, und so soll sie sein. Unterdessen versuchten die beiden Frauen zu intervenieren oder zu schlichten. Ich weiß es alles nicht mehr so ganz genau. Er war jedenfalls mit seiner Geduld am Ende.

Und dann sagte er mir einen Satz, den ich nie wieder vergessen habe: „Weißt du, PJ,“, sagte er mit ruhiger Stimme, während seine Augen vor Verachtung zu glühen schienen. Er kam mir vor wie die Brillenschlange kurz vor dem Todesbiss. „Weißt du, unsere Branche ist nicht amoralisch, wirklich nicht.“ Pause. „Unsere Branche ist immoralisch!“

Ich war platt. Mein Wort war ein Stachel, seins ein Dolch. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich noch etwas erwidert habe. Ich glaube eher, ich wollte ihn in die Arme nehmen, um ihn zu trösten, so leid tat er mir.

Wie dem auch sei. Nun wissen Sie, wie ich es geschaft habe, den 172.006ten Platz im Internetpopularitätswettbewerb zu erklimmen.

Ja, und wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich weiterhin geraucht hätte?

Showdown am Nockherberg – Pistoi’n bitt’schä’ an der Tir abge’m

Stellen Sie sich vor: Auch in siebenhundert Jahren wird einer in den alten Chroniken über den diesjährigen Eklat am Nockherberg noch lesen können. Und er wird erfahren, dass das „Derblecken“ im Jahr 2010 n.Chr. ein Rohrkrepierer war.

Schad is, sog i. Vor allem, weil ich schon immer ein Herz fürs „Derblecken“ (auf Bayerisch: a Harz fir s’Derblecken) hatte. Ja, das „Derblecken“. Eigentlich bedeutet diese Vokabel „Zähne zeigen“ oder „grinsen“, von daher „verhöhnen“.

Es handelt sich aber um eine urdemokratische Einrichtung im Bayerland und erinnert (zumindest mich) an die aristophanische Komödie im 5. v.Chr. Jahrhundert in Athen. In den damaligen Theaterstücken wurde auch im wahrsten Sinne derbleckt.

Dass man Gelegenheit hat, die – wie man so schön sagt – „Prominenz“ oder die Obrigkeit durch den Kakao zu ziehen, war schon immer ein Zeichen von hoher Zivilisation und auch – dies muss ich fairerweise sagen – Zivilcourage seitens der Obrigkeit.

Ober sakradi. Dann kimmt dieser saudamische Bruder Barnabas daher und wirbelt mit sei`m derben Humor ois umanand. A Schand, sog i, a Schand.

Wissen Sie wovon ich rede? Oder handelt es sich hier lediglich um eine bayerische Scheinkrise? Immerhin hat die FAZ darüber berichtet, wenn auch nur sehr bescheiden – dafür aber seitenlang über die krummen Geschäfte in Griechenland.

Oiso. Bruder Barnabas – in Zivil Schauspieler Michael Lerchenberg – hat sich am Nockherberg folgende Gemeinheit erlaubt. Es ging um Vizekanzler Westerwelles nie enden wollende Angriffe gegen Hartz-IV-Empfänger. Ich zitiere: „Alle Hartz-IV-Empfänger sammelt er in den leeren, verblühten Landschaften zwischen Usedom und dem Riesengebirge, drumrum ein großer Stacheldrahtzaun – hamma scho moi g’habt. Zweimal am Tag gibt’s a Wassersuppn und einen Kanten Brot. Statt Heizkostenzuschuss gibt’s zwei Pullover von Sarrazins Winterhilfswerk, und überm Eingang, bewacht von jungliberalen Ichlingen in Gelbhemd steht in eisernen Lettern: ‚Leistung muss sich wieder lohnen’.“

Todesstille am Nockherberg. „Dumm“, kritisiert Münchener OB Ude, „Jeder Vergleich mit dem Terrorregime läuft auf eine Verharmlosung hinaus.“ Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden meint, eine Grenze, „die nicht hinnehmbar ist“, sei überschritten worden. „Guter Stil sieht anders aus“, schreibt Katharina Rieger in der Abendzeitung, „Die Paulaner-Brauerei muss Konsequenzen daraus ziehen…“ usw. Westerwelle selbst verkündet, er wolle nie wieder zum Derblecken eingeladen werden.

Jawui! Starker Tobak war dös scho. Das gebe ich zu. Nur: Wenn ich ganz ehrlich bin, fand ich es trotzdem wahnsinnig witzig – auch wenn es ziemlich unter der Gürtellinie traf. Muss ich mich dafür schämen? Nein. Eine Verharmlosung der Nazis? Auch nein. Nur derb und so überspitzt wie auch einst Aristophanes war.

Aber zurück in die Wirklichkeit: Inzwischen hat sich Schauspieler Lerchenberg reumütig entschuldigt und ist als Bruder Barnabas zurückgetreten, bzw., zurückgetreten worden. Die genauen Details interessieren mich nicht.

Doch, worum geht es hier überhaupt? Der eine, also Lerchenberg, muss gehen, weil er einen bösen Witz von der Eingrenzung gewisser Menschen, also Hartz IV-Empfänger, erzählt. Der andere, also Westerwelle, ist empört, weil seine Rhetorik über die Ausgrenzung von gewissen Menschen, also Hartz-IV-Empfängern, gnadenlos durch den Kakao gezogen wird.

Nun wissen Sie, wie eine komplizierte Angelegenheit in allen Einzelheiten aussieht.

Das Endergebnis: Lerchenberg verliert, weil er den eigenen Humor nicht ernst genug genommen hat. Westerwelle verliert, weil der nicht in der Lage ist, über sich selbst zu lachen.

Dös mit dem Humor war no’ nie jedem sei Gschmack.

Wer eines Tages in den alten Chroniken über dieses Ereignis liest, wird sicherlich nur kopfschuttelnd sagen, „Ja, aber ich verstehe den Witz nicht.“

Big "Facebook" is watching YOU

Aus dem Nichts ein Schrei, er geht durch Mark und Bein. So gruselig ist er, dass er mich aus meinen Träumereien weckt.

Es war Samstag. Ich hatte die Frau auf der anderen Straßenseite schon kommen sehen. War nichts Auffälliges zu bemerken, lediglich, dass sie zielbewusst dahinschritt. Plötzich der Schrei, lang und schrill – wie aus einem Horrorfilm.

Wie reagiert man? Ganz klar! Das Tier im Menschen übernimmt die Regie. Blitzschnell sucht es die Umgebung nach einer Gefahrenquelle ab. Das tut jedes Tier instinktiv. Und das habe auch ich getan. Es war aber nichts zu erkennen. Nichts.

Sie hat zetermordio geschrien, wurde dann sofort wieder still, als wäre nichts geschehen, und ist einfach weitergegangen, ebenso zielbewusst wie vorher.

War das Sprache? War da eine Botschaft? Nein, nichts. Entweder hat sie gesponnen, war Schlafwandlerin, oder sie litt an dem Turrette-Syndrom. Das ist eine Art Tick mit der Stimme, eine Zwangshandlung. Man schimpft, schreit oder grunzt. Ich weiß nicht, was da los war. Es war jedenfalls keine Sprache, war nur ein sprachähnliches Phänomen, weil es getönt hat.

Das nur zur Einführung. Das eigentliche Thema heißt „Facebook“. Ich beginne mit einem Geständnis: Ich bin kein Facebooknik, ich habe keine „Freunde“.

Indes baut sich in mir seit mehreren Wochen zunehmend ein Missmut gegen diese Informationskrake auf.

Alles begann im Dezember vorigen Jahres. Eines Tages erhielt ich eine Mail: von „Facebook“. Eine gewisse „Lydia Bernstorfer“ – den Namen habe ich gerade erfunden, den wahren Namen werde ich hier wie üblich nicht verraten – machte mir (in englischer Sprache) das Angebot, ihr „Freund“ zu werden. Nur: Ich kenne keine „Lydia Bernstorfer“ und weiß nicht, warum sie meine „Freundin“ werden will.

Wie sie zu meinem Namen gekommen ist, war mir ebenfalls ein Rätsel.

Aber jetzt wird’s unheimlich: Auf der Einladung entdeckte ich sechs Namen von Menschen, die bereits ein „Facebook“-Konto haben. Es waren allesamt Namen von Menschen, die ich tatsächlich kenne – manche aus den USA, manche aus Deutschland.

Mein Sohn wollte mich beruhigen: „Reg dich ab, es ist kein Phishing. Die Mail kommt wirklich von ‚Facebook’. Auch ich bekomme gelegentlich solche Mails.“

„Aber woher weiß ‚Facebook’, dass ich all diese Menschen kenne?“ frage ich.

„Ganz einfach. Wenn man ‚Facebook’ beitritt, kann man dafür optieren, ‚Facebook’ den Zugang zum eigenen Emailadressbuch zu gewähren. Das machen viele Menschen, weil sie das Kleingedruckte nicht lesen.“

Mittlerweile habe ich besagte Einladung schon dreimal erhalten. Etwa: „Lydia Bernstorfer“ schicke mir eine Erinnerung, dass ich noch immer nicht ihr „Freund“ geworden bin.

Bin ich nur paranoid, oder finden Sie es auch nicht bedenklich, dass ein „soziales Netzwerk“ in der Lage ist, in den Emails anderer zu wühlen, um neue Kandidaten für die eigene Firma zu bewerben?

Nach der zweiten Einladung habe ich eine Mail ans Gesichtsbuch geschickt, worin ich sehr deutlich zum Ausdruck brachte, dass ich nicht weiter belästigt werden wollte. Meine Bitte kam offenbar nie an.

Kennen Sie den Film „Invasion of the Body Snatchers“ (Deutsch: „Die Körperfresser kommen“)? In diesem Film werden die Menschen eines gemütlichen amerikanischen Dorfes –einer nach dem anderen – von außerirdischen Doppelgängern vereinnahmt und beseitigt, bis nur noch wenige richtige Menschen übrig bleiben. Richtige Menschen können die Doppelgänger daran erkennen, dass sie seelenlos wirken. Ich fühle mich wie einer der letzten Menschen, der noch nicht von „Facebook“ einverleibt wurde.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich kenne viele Gesichtsbüchler – unter ihnen meine Frau und unsere Söhne. Dennoch bleibe ich bis auf Weiteres ein überzeugter Verweigerer. Vor allem, weil ich glaube, dass die meisten „Botschaften“, die in „Facebook“ unter „Freunden“ ausgetauscht werden, so leer sind wie das Geschrei der Frau auf der Straße, von der ich vorhin erzählte.

He! Vielleicht wollte die Frau nur meine „Freundin“ werden! Vielleicht ist sie die echte „Lydia Bernstorfer“?

Warum Goebbels meine Mutter nicht gemocht hätte

Wenn Joseph Goebbels noch lebte, würde er meiner Mutter Folgendes sagen: „Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei!“

Er würde das sagen, weil er ein Meisterlügner war.

Meine Mutter hingegen ist keine Meisterlügnerin. Sie will seit Jahren ihr Alter verheimlichen, bleibt aber nie bei der gleichen Geschichte. Als ich klein war, hat sie, zum Beispiel, stets behauptet, sie sei 39. Irgendwann haben wir verstanden, dass sie nur Witze macht.

Später, als sich meine Eltern in einer so genannten „retirement community“ (Seniorensiedlung) in der Nähe von Phoenix, Arizona, niedergelassen hatten – damals waren beide Mitte siebzig – haben sie sich entschlossen, mit dem Alter zu mogeln. Sie machten sich also beide fünf – oder waren es zehn? - Jahre jünger. Diese kurzbeinige Lüge sorgte aber nach und nach für erhebliche Schwierigkeiten – vor allem, weil die Eltern mein Alter und das meines Bruders weiterhin unverfälscht wiedergaben. „Warst du fünfzehn, als du deinen ältesten Sohn bekamst?“ fragten die Freunde und Bekannten, die sehr wohl zu rechnen wussten.

Meine Eltern reagierten stets mit Schweigen, still wie die Sphinx.

Hat alles nicht geholfen. Alle wussten, dass sie mit dem Alter kokettierten, bzw., schummelten. Sie haben das  gewusst, weil alle das gleiche Spiel spielten.

Goebbels hätte gesagt: „Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei!“ Ja, so hätte der Meisterlügner gesprochen. Er hat aber etwas von der Politik kapiert, obwohl er Nazi war.

Irgendwann hörten die Freunde und Bekannten auf, meine Eltern zu fragen, wie alt sie seien. Inzwischen kannte man sich schon einige Jahre, und die Sache mit dem Alter war ohnehin nicht mehr so interessant. „Die Betty erzählt, sie sei 83“, sagte mir meine Mutter einmal. „Das kann aber nicht stimmen. Denn Bob war schon 25, als er in den Krieg ging, und sie haben immer wieder behauptet, sie seien gleich alt.“ Undsoweiter. Auf gleiche Weise rechneten die anderen die Widersprüche aus, die meine Eltern aufgetischt hatten.

„Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei.“ Mann muss aber ein Goebbels sein, um diesen Lehrsatz konsequent durchzuhalten.

Letztes Jahr habe ich zusammen mit meinem Bruder meine inzwischen verwitwete Mutter nach Dallas, Texas umgesiedelt. Darüber habe ich auch mal geschrieben (siehe: „Warum ich Optimist bin“). Nun wohnt sie in einem „Seniorenheim“, wie man so eine Anlage beschönigend nennt. So schlimm ist das Heim aber nicht. Ich bezeichne ihr neues Zuhause lieber als „Grand Hotel“. Jeder hat seine Privatsphäre: eine eigene Wohnung mit Küche und Bad. Am Abend diniert man gemeinsam im Speisesaal, wo es wirklich Leckeres zu essen gibt. Die Bedienungen sind äußerst freundlich und hilfreich (und werden wahrscheinlich reichlich ausgebeutet. Das ist aber eine andere Geschichte), und auf jedem Tisch findet man frische Schnittblumen.

Kurz nachdem Meine Mutter eingezogen ist, verkundete sie mir: „Es ist mir fortan egal. Ich werde künftig jedem, der mich danach fragt, mein Alter verraten.“

„Großartig!“ war meine Antwort.

Aber dann ging’s wieder los. Sie hat zwar anfänglich einigen doch die grausame Wahrheit preisgegeben, aber bald begann sie zum Thema wieder zu schweigen.

„Warum machst du das?“ habe ich sie gefragt.

„Es geht niemanden an, wie alt ich bin.“

Und dann hat sich das Leben , wie so oft der Fall ist, gerächt. Meine Mutter hatte nämlich ihrer neuen Freundin J. ihr wahres Alter enthüllt. J. kann kein Geheimnis länger für sich behalten, als sie braucht, um sich die eigene Nase zu pudern.

Doch es wurde noch bunter: Gestern hatte meine Mutter Geburtstag. Zu ihrem Entsetzen fand sie im Lift einen Aushang, auf dem ihr besonderer Tag ankündigt wurde. Sie war außer sich vor Wut. Nun betrat sie, die Verratene, den Speisesaal, und alle haben unisono „Happy Birthday“ gesungen. Dann flüsterte ihr Tom, ein Mitbewohner, ins Ohr, „Ich weiß, wie alt du bist. Du bist 93 geworden.“

„Ich wollte ihm eine schmieren“, sagte mir meine Mutter.

Alles zu spät. Jetzt wissen es alle. Happy Birthday, liebe Mutter! And many more. Jeder weiß, wie alt du bist. So what.

Nur Goebbels wäre entsetzt gewesen. Der gute Lügner verachtet schon immer den schlechten.

Zum Verkaufen: eine Akropolis (Zustand: gebraucht)

Auch ich will meinen Beitrag leisten, um die Welt zu bessern. Erst recht, weil die anhaltende Finanzkrise in Europa mir allmählich Sorgen macht.

Eine Zeitlang haben wir geglaubt, das Schlimmste sei schon vorbei. Man meinte, dass die Folgen der wertlosen Derivate, mit denen die Investmentbanken usw. lange gezockt hatten, eingezäunt worden seien und dass sich die Wogen im Jahr zwei n.L (nach Lehman Brothers) endlich geglättet hätten. Ich will hier die schmutzige Wäsche von gestern nicht schon wieder an die Leine hängen.

Dann war plötzlich von der Insolvenz Griechenland die Rede. Und bald stellte sich heraus, dass die gleichen Banker, die uns die sogenannte „Finanzkrise“ beschert hatten, auch hier kräftig mitgemischt haben.

Auch darüber brauche ich keine ellenlangen Details zu erzählen. Fest steht: Seit Tagen teilen die Medien mit, dass die Investmentbank Goldman Sachs in hohem Maße dazu beigetragen hat, die maroden Finanzen Griechenlands zu verschleiern. Damit sollte unserem Mittelmeernachbarn geholfen werden, den Sprung in die „Eurozone“ zu schaffen. Genauer gesagt: GS hat in Griechenland Geld vorübergehend deponiert, damit sich jeder denkt, es gehe der griechischen Wirtschaft gut – was offenbar nicht der Fall war.

Nun wird’s brenzlig um die Traumwährung „Euro“.

Ich halte es deshalb für meine Pflicht, an dieser Stelle einen Ausweg aus der misslichen Lage vorzutragen. Mein Vorschlag ist sowohl einfach wie auch genial: die Akropolis verkaufen!

Bitte lachen Sie nicht. Das ist hier mein Ernst. Glauben Sie mir: Es gibt genügend Präzedenzfälle für einen solchen Vorgang: den Verkauf, zum Beispiel, 1968 der „London Bridge“ an den amerikanischen Unternehmer Robert P. McCulloch für 2.460.000 US-Dollar. Heute überspannt dieses Prachtstück aus dem alten Europa den künstlichen See Lake Havesu im Bundesstaat Arizona. 1925 kaufte der Ölmillionär John D. Rockefeller die Ruine eines mittelalterlichen französisichen Klosters für 600.000 Dollar (damals ein Haufen Geld). Stein für Stein wurde es in New York wieder aufgebaut und wird bis heute unter den Namen „The Cloisters“ bewundert.

Zugegeben: In der jetzigen Sache kommen die Amerikaner als Käufer nicht mehr in Frage. Dafür ist die eigene finanzielle Lage viel zu labil. Die Briten vielleicht? Immerhin: Schon lange beanspruchen sie einen Teil der Akropolis für sich, die „Elgin Marbles“, die im British Museum ständig ausgestellt werden. Nein, auch die Briten kommen jetzt nicht in Frage. Auch sie sind knapp bei Kasse. Wie wäre es mit den Saudis? Nein, unmöglich! Ein heidnischer Tempel in Arabien! Fundamentalisten würden ihn bald in die Luft jagen. Einst hätte ich vielleicht Dubai als Käufer vorgeschlagen. Aber dann kam die Sache mit dem Burj Khalifa. Auch dieses Traumland ist mittlerweile zu klamm geworden.

Außerdem: Die Akropolis ist nicht irgendein Denkmal. Sie ist ein Symbol der europäischen Zivilisation schlechthin . Wer sie ergattern will, muss also über astronomische Geldsummen verfügen. Nicht einmal ein Bill Gates oder ein Warren Buffet hätte so viel Geld. Nicht einmal „Google“!

Würde man den Verkauf über Sotherbys oder Christies oder vielleicht Ebay ausschreiben lassen, wäre allein die Provision gigantisch.

Wenn ich ganz ehrlich bin, sehe ich nur einen Käufer, der momentan in der Lage wäre, sich dieses Sonderangebot zu leisten. Die Chinesen, natürlich! Und ich bin sicher, dass sie nicht nein sagen würden. Denn letztlich wäre der Kauf – trotz des hohen Preises – für sie ein Bombengeschäft. Allein der Touristenstrom würde nach wenigen Jahren die Kosten mehr oder weniger ausgleichen. Weiter schlage ich vor: Man sollte die Akropolis gleich in der Nähe der Chinesischen Mauer aufstellen. Der geneigte Tourist könnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, was sehr zeitsparend ist.

Zugegeben: Die Griechen würden dem Verlust eines so wichtigen Symbols der eigenen Identität lange nachtrauern. Aber warum auch? Wenn sie eines Tages finanziell wieder besser da stehen, können sie eine stabile Kopie der alten Ruine errichten. Die meisten Touristen würden den Unterschied ohnehin nie merken. Außerdem haben die Griechen genügend alte Statuen usw. in ihren Museen. Und bitte: Warum soll es so wichtig sein, ob man das Original oder eine Kopie besitzt? Wie hat die neue 17jährige Leuchte der Literatur Helene Hegemann doch so schön gesagt: „Es geht nicht um die Originalität, sondern um die Echtheit.“

Ich bin überzeugt: Mit dem Verkauf der Akropolis würde in Europa schnell wieder  der Wohlstand einkehren. Das täte uns allen gut. Außerdem: In dieser Sache würden nur die Investmentbanker leer ausgehen. Darüber wäre aber kaum jemand traurig.

Pages

Subscribe to Front page feed