Der Schuh hat gedrückt, doch wo genau, war mir nicht klar.
Ach ja! Sie wissen nicht, wovon ich rede. Natürlich nicht. Ich fange also von vorne an. Es geht um ein Sommerfest. Wir, also ich, meine Frau und eine Bekannte, kamen mit dem Zug aus München etwas verspätet an. Wir setzten uns an dem Tisch, den uns unser Gastgeber angewiesen hat.
Unsere Tischnachbarn waren uns nicht bekannt, was in Ordnung ist. So lernt man neue Leute kennen, was oft spannend ist. Und siehe da: Es stellte sich heraus, dass die anderen sympathisch waren! Nach und nach gerät man ins Gespräch und tauscht ein wenig Information über sich aus. Wie es halt ist im Leben.
Ein Gast war wohl Zahnarzt. Aus Gründen, die ich unten erläutern werde, nehme an in Ruhestand. Er erzählte im Lauf eines assoziativen Gesprächs, wie man eines mit Fremden führt, von seinen Reisen im Fernosten, zeigte uns Fotos von sich und einem anderen Menschen, der auch auf dem Fest war, wenn aber nicht an unserem Tisch.
Ich war nie im Fernosten und teilte mit, dass ich eine solche weite Reise wahrscheinlich nicht antreten würde. Ich möge lange Flüge nicht, usw. Das übliche Blabla, das man redet, wenn man mit Fremden zusammengeworfen wird.
Doch irgendwie in diesem Gespräch mit dem ehemaligen Zahnarzt hat der Schuh gedrückt. Es war, als wäre mein Gegenüber nur zweidimensional. Komische Beschreibung. Es fehlte aber eine Dimension. So einen wie ihn kannte ich früher in München. Man redete, aber es war wie ein Gespräch mit einem Telefon-Roboter: flach.
Dann sind wir aufs Thema deutsche Dialekte gekommen. Ja, tiefschlürfend ist das Thema nicht. Ich bekannte mich jedenfalls begeistert zur bayerischen Sprache. Er hingegen, der, wie es sich herausstellte, in Sachsen lebt, erklärte, er sei kein Freund des Sächsischen. „Zum Schuhe ausziehen“, fügte er dann hinzu.
„Ich mag das Sächsische“, entgegnete ich.
Haben wir dann auch übers Schwäbische oder das Hessische geredet? Das weiß ich leider nicht mehr. Fest steht nur: Er meinte jedenfalls, auch ein anderer Dialekt wäre „zum Schuhe ausziehen“.
Viel tiefer entfaltete sich unser Gespräch nicht. Erst später im Zug nach München, erfuhren wir von unserer Reisebegleiterin, dass besagter Zahnarzt a.D. an Alzheimer erkrankt sei.
Zum Schuhe ausziehen, habe ich gedacht. Er wirkte zwar etwas – wie oben gesagt – zweidimensional, aber ich hatte stets den Eindruck, dass wir ein ganz normales oberflächliches Gespräch geführt hatten. Will heißen: Er vermochte ganz normal über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reden.
Einzig sein Gebrauch des Idioms „zum Schuhe ausziehen“ eckte komischerweise an. Keine Ahnung, warum. Vielleicht habe ich es als Argument über einen Dialekt als etwas unpassend erachtet.
Nebenbei: Dieses Idiom hatte ursprünglich eine etwas – sagen wir differenziertere – Bedeutung. Es ist – so Heinz Küpper, mein Lieblingsumgangssprachler (Wörterbuch der deutschen Umgangssprache), – erst ca. 1870 belegt. Damals im Sinne von „am Rande der Verzweiflung bringen“. Für ein Gespräch über Dialekte hat so etwas wie Verzweiflung eigentlich nur wenig zu suchen, es sei denn, man versteht den Mundartsprecher nicht. Das kann freilich durchaus frustrierend sein.
Eigentlich bedeutet es, so Küpper, wenn etwas (oder jemand) einem „die Schuhe auszieht“, dass man einen kostbaren Besitz verliert. Zur Erinnerung: Um 1870 waren Schuhe teuer. Wäre es vielleicht passender, wenn der Zahnarzt über seine Beziehung zu Dialekten gesagt hätte: „der Schuh drückt“. Auch keine maßgeschneiderte Antwort aber womöglich sinnvoller. Ich will ihn aber nichts in die Schuhe schieben.
Nebenbei: Küpper hat in seinem Wörterbuch eine Liste von ca. 40 deutschen Redewendungen zusammengestellt. Alle an dieser Stelle hier aufzulisten, wäre mir freilich eine Schuhnummer zu groß.
Eins steht aber fest: Man weiß nicht unbedingt immer, wer Alzheimer krank ist.
Zum Beispiel mein Nachbar vor vielen Jahren, ein Anwalt a.D. Wir haben uns stets sehr lebendig und genussvoll unterhalten. Eines Tages sagte er mir mitten in einem Gespräch plötzlich: „Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie Sie heißen.“
„Ist das wichtig?“ fragte ich, als würde ich die Schuhe abstauben.
„Nein“, antwortete er, und wir beide lachten.
Durch Zufall (gibt es ihn wirklich?) bin ich letztens auf eine deutsche Redewendung gestoßen, die mir bisher unbekannt war. Das geschieht immer seltener, und ich bin stets dankbar, wenn ein Lichtstrahl einen schattigen Schlupfwinkel dieser Sprache erhellt.
Es geht um: „Wir haben noch keine Schweine gehütet.“ Ich nehme an, dass Ihnen als Muttersprachler dieser Spruch vertraut ist…oder?... obgleich er heutzutage kaum mehr im Gebrauch ist.
Mir war er zwar unbekannt, doch ich habe ziemlich schnell erraten, worum es geht: Hier wird gemeinsame Erfahrung oder deren Mangel, Vertrautheit also, thematisiert.
Heinz Küpper zufolge – er hat das schöne „Wörterbuch der dt. Umgangssprache“ geschrieben – wird diese Redewendung ca. 1500 zum ersten Mal belegt. Der unmittelbare metaphorische Bezug: Zwischen Hütejungen gibt es keine Herr/Knecht-Beziehung. Man ist von daher automatisch per Du.
Damals – anders als heute – hat man auf den Gebrauch des „Sie“ (oder „Ihr“) und „Du“ sehr genau geachtet. Hätte einer einen anderen also unverdient geduzt – wie heute Google, Apple und Co. es mit uns tun – käme, wie aus der Pistole geschossen, die Antwort: „Aber bitte, wir haben noch keine Schweine gehütet…oder?“
Notabene: In obiger Redewendung spielt das Schwein selbst eine ziemlich neutrale Rolle. Man hätte dieses Tier beliebig mit „Huhn“, „Kuh“, „Ziege“ u.v.a.m. ersetzen können. Hier geht es lediglich um Ranghöhe.
Bleiben wir aber beim Schwein. Denn dieses Tier wird unser eigentliches Thema sein. Im Deutschen allein zählt Küpper 49 Redewendungen, die das Schwein in den Mittelpunkt rückt. Auch in anderen Kulturen spielt dieses Lebewesen eine kulturgeschichtliche Rolle. Heißt es nicht in den Evangelien, man solle keine Perlen vor die Schweine werfen? Womit man meint, es ist vergebliche Liebesmühe, Kostbares an Ignoranten zu vermitteln. Das gefräßige Schwein wird also seit der Antike zum Sinnbild eines Grobians.
Komisch. Eigentlich gelten Schweine als intelligente Tiere. Warum um Gottes Willen werden sie…zur Sau gemacht? Vielleicht deshalb, weil sie so gerne im Schlamm wühlen, was uns verständlicherweise als schmutzig vorkommt. Vielleicht deshalb wird „Schwein“ in den verschiedensten Sprachen, als Beschimpfung aufgefasst. Menschen haben nämlich sauber zu sein – im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Noch dazu fressen Schweine alles – gleichsam lebendige Mülltonnen. „You eat like a pig“, sagt man auf Englisch, oder „Don’t be such a pig”.
Frage: Wenn Schweine so dreckig und ohne Anmut sind, warum werden sie von uns so gern gekocht und gebraten? Hmm?
Mir fällt keine anständige Antwort ein.
Wenigstens im Alten Testament galt das Schwein als unrein, weshalb die alten Hebräer (und auch andere im Nahen Osten) diese Tiere von der Speisekarte strichen.
Doch warum gestrichen? Weil sie im Schlamm wühlten und deshalb unrein waren?
Aber woher. So was hat noch nie die meisten Menschen daran gehindert, eine leckere Schweinshaxe zu verinnerlichen. Es gibt aber einen guten Grund im Nahen Osten dieses Tier nicht zu essen. Fakt ist: Das Gelände Israels, ebenso Arabiens usw. ist letztendlich knochentrocken. Man ging in diesen Ländern schon immer sehr sparsam mit dem Wasservorrat um.
Schweine aber – wie Menschen – brauchen viel Wasser, um im gewohnten Schlammbad zu laben. Das heißt: Mensch und Schwein sind, was das Wasser betrifft, bittere Rivalen. Diese Tiere als unrein abzuqualifizieren, ist im Grunde eine vernünftige Umweltmaßnahme. Wenn das Schwein um sein Glück wüsste, wäre es bestimmt dankbar.
„Schwein gehabt!“ könnte man sagen. Ende dieser kurzen Doktorarbeit.
Wortspiele waren schon immer meine Sucht, was meine Frau manchmal weniger begeistert. Ich kann aber nichts dafür. So kam ich auf die Welt.
Ja, und gerade fällt mir schon wieder ein Wortspiel ein: Du oder don’t.
Hahaha, sagen Sie. Oder vielleicht nicht. Vielleicht fragen Sie sich: Was schreibt der Sprachbloggeur schon wieder für ein obskures Zeug?
Schon gut, ich weiß; ich bin unverbesserlich. Ich habe nämlich zwei Sprachen kombiniert und erwarte, dass Sie den tieferen Sinn heraushören.
Tieferer Sinn? Mensch, was denkt da der Sprachbloggeur? Sein Wortspiel hat weder Tiefe, noch besitzt es etwas wie einen Sinn.
Ich wiederhole: Du oder don’t. Und fakt ist: Manchmal bevorzuge ich das „don’t“.
Manche Leser haben schon erkannt, wohin die Reise. Es geht…schon wieder…um eins meiner Lieblingsgezeter: um die rapide Ausbreitung des „Du“ im Deutschen auf Kosten des „Sie“.
Ich war nämlich jüngst in einem skandinavischen Land. Es ist aber egal, welches. Denn alle haben sich schon lange des „Sie“ entledigt. Man hört in diesen Ländern nur noch „dududu“. Außer man redet in der Mehrzahl. Da heißt das Pronomen anders.
Das heißt: Das schöne „Sie“ ist beinahe ganz aus den skandinavischen Sprachen verschwunden. Vielleicht nicht ganz. Denn vor ca. 13 Jahren hat mir nämlich jemand berichtet, dass im Dänischen Touristen noch immer gesiezt werden. Oder hat dieser „jemand“ nur deutsche Touristen gemeint? Hab ich leider vergessen.
Doch auch wenn es schon mal so war, bin ich sicher, dass auch diese letzte Festung des Siezens längst erobert wurde.
Neulich haben wir, d.h., meine Frau und ich, ein neues Schlafsofa bestellt. Am nächsten Tag erreichte uns folgende Mail:
„… VIELEN DANK FÜR DEINE BESTELLUNG!
Wir möchten dich bitten, den noch offenstehenden Betrag in Höhe von XY € unter dem Verwendungszweck „xxxxxxxxxx“ auf folgendes Konto anzuweisen…etc.
Daraufhin habe ich mich gleich per Mail über die Umgangsform in 2. Person beschwert. Der nächste Streich folgte beinahe unmittelbar:
HEJ! Vielen Dank für deine Nachricht.
Wir haben diese erhalten und werden uns innerhalb von ein bis zwei Werktagen bei dir melden, um deine Anfrage zu beantworten…usw.
Nach einem oder zwei Werktagen kam die „echte“ Antwort. Eine Firmenmanagerin in Berlin erklärte mir wohlwollend, dass das Duzen typisch für die nichthierarchische Art der dänischen Kultur sei, dass wir alle gleich seien…etc.
Daraufhin erklärte ich in einer ausführlichen Mail, dass sie ihr Produkt in Deutschland und nicht in Dänemark verkaufe usw. Seitdem bekomme ich Mails von der Firma, die auf meinem hierarchischen Geschmack getrimmt sind.
Bin ich ein alter Nörgler? Oder geht etwas doch verloren, wenn man in Deutschland aufhört „Sie“ zu sagen? Microsoft, Google, Apple, Meta, Mediamarkt, Notebookbilliger usw. sind längst zum „Du“ übergegangen – außer in den AGBs. Da wird strengst gesiezt.
Vorsichtig: Man trachtet nach dem kostbaren „Sie“. Sie werden „Sie“ vermissen, wenn er fehlt. Glauben Sie mir: Sein Überleben ist bedrohter als Sie vielleicht meinen.
Trickfrage: Wie sagt man „baby boomer“ auf Deutsch? „Babyboomer“, sagen Sie. Tut mir leid. Die Antwort ist falsch.
Das englische „baby boomer“ wird benutzt, um alle Kinder, die zwischen 1946 und 1964 in den USA auf die Welt kamen, als eine pauschale Gruppe zu erfassen. „Boom!“ So klingt eine Explosion. Und so explosionsartig stieg die Geburtenrate nach dem 2. Weltkrieg und die GI‘s kehrten heim. So blieb die Fruchtbarkeit bis ca. 1964. Dann zack! Der Geburtensturz. Keine Ahnung, warum es so wurde.
By the way: Um dieses Geburtenphänomen zu beschreiben, tauchte der Begriff „baby boomer“ erst ca. 1963 in den USA auf. Denn damals ging die Zahl der Neuimmatrikulierten auf den amer. Unis schlagartig nach oben. Man suchte also nach dem Grund: das baby boom! 1970 wurde dieser Begriff in der Oxford English Dictionary aufgenommen.
Doch jetzt zu den dt. „Boomers“. Sie heißen aber nicht „baby boomer“, sondern „Baby Boomer“ oder „Baby-Boomer“ oder „Babyboomer“. Kleiner Unterschied, großer Sinn.
Darüber hinaus wird mit diesem Begriff die Kinder bezeichnet, die in Deutschland zwischen ca. 1955 oder so und 1965 auf die Welt kamen, was dem Höhepunkt der sog. „Wirtschaftswunder“ entspricht.
Der Gebrauch des Begriffs „Babyboomer“ für den dt. Geburtenanstieg ist natürlich „Denglisch“.
Aber back to the USA. Als ab 1965 klar wurde, dass der Boom vorbei war, meinten die Journalisten, sie bräuchten nun wieder einen Begriff, um auch die nächste Generation zu etikettieren.
Keine Ahnung, wer auf die Idee kam. Vorsitzender Google könnte die Antwort mit Sicherheit innerhalb Millisekunden rausspucken. Ein Journalist (m/w/d) hatte jedenfalls den Einfall, die nächste „Generation“ einfach als „Generation X“ zu bezeichnen. Eine großartige Idee! Es sollte jedenfalls leicht ironisch klingen. Denn „X“ ist ein Terminus aus der Mathematik und bedeutet „Keine Ahnung, oder in diesem Fall: „Keine Ahnung, was wir sie sonst nennen sollten.“
„Generation X“ dauerte an, wenn ich mich nicht täusche, bis ca. 1980. Inzwischen wurde die Pauschalisierung der Generationen unter einem Begriff zu einer Masche der Popkultur. Auf „Generation X“ folgte logischerweise „Generation Y“.
So weit so gut. Und auf „Generation Y“ sollte dann folgerichtig „Generation Z“ kommen.
Doch nun wird die Chose kompliziert. Die jungen Menschen in den USA, die man „Generation Y“ hätte nennen sollen, bekamen plötzlich eine ganz andere generationale Designierung: „Millennials“ sagten die Leute von den Medien. Denn das waren die Kinder der spät 1980er Jahre bis ca. 2000. Geboren also nah der Jahrtausendwende.
Auf die Millennials folgten dann doch die erwartete „Generation Z“, auch „GenZ“ genannt. Und als solche werden die heutigen junge Menschen noch immer bezeichnet…
Ende der Pfanni-Stange? Denn schließlich geht mit „Z“ das Alphabet zu Ende. Ja, was nun?
Easy. Irgendein Schlaumeier aus der Publizistikbranche kam auf die Idee, die Generation, die ab ca. 2012 auf die Welt kam „Generation Alpha“ zu nennen. Über sie wissen wir immer noch sehr wenig. Alles klar?
Was ich bisher schreibe, gilt eigentlich nur für die Anglosächsische Welt. Die Terminologie wurde aber im Eilverfahren ins Deutsche übernommen und hat jetzt den dt. Pass als doppelte Staatsbürgerin.
Die genauen Daten unterscheiden sich nach wie vor, wenn man USA und Deutschland vergleicht. Aber who cares?
Nebenbei: Eigentlich hätte die dt. Sprache einen eigenen Begriff für diejenigen, die die Amerikaner „Boomer“ nennen: „68er“!
Ach und noch etwas: Frühere Generationen machten sich keine Gedanken über Namen für Generationen. Es ging viel mehr um ästhetische Dinge: z.B. „Barock“, „Sturm und Drang“, „Biedermeier“, „Wilhelminisch“ und so weiter.
Und jetzt Schluss.
In eigener Sache: Nächste Glosse Ende Juli. Bin auf Geheimmission.
Freund T. war unzufrieden mit der Reparaturarbeit. Noch schlimmer: Ich hatte ihm die Werkstatt empfohlen. Heikle Situation…nicht aber, dass ich ein schlechtes Gewissen zu haben brauche. In meiner Sache hat der Mechaniker gut gearbeitet. Von daher die Weiterempfehlung.
Heikle Situation auch, weil ich den Mechaniker manchmal auf der Straße antreffe. Er ist sehr nett, und es tut mir leid, dass zwischen ihm und T. Missmut vorherrscht.
Notabene: Diese Sache ist so heikel, dass ich hier nicht verraten möchte, um was für eine Reparatur es handelt. Die Chancen sind zwar gering, dass der Mechaniker diese Zeilen jemals lesen wird. Doch, wer weiß? Diskretion ist selten falsch.
Wie dem auch sei. Ich erzähle diese Geschichte nur deshalb, weil ich T. gesagt habe: „Falls ich auf den Mechaniker stoße, werde ich dumm spielen.“
„Wie? Verstehe ich nicht“, so T. „Hast du gerade etwas von Dummheit gesagt?“
„Ja, ich habe gesagt, ich werde dumm spielen.“
„Was soll das bedeuten?“
„Wie meinst du? Kennst du den Ausdruck nicht?“
„Nein, eben nicht. Das ist kein Deutsch.“
„Aber geh. Im Ernst?“
„Nein, das sagt man auf Deutsch nicht. Wahrscheinlich übersetzt du aus dem Englischen.“
„Mag sein“, sage ich. „Auf Englisch heißt es ‚to play dumb‘. Sagt man das nicht auf Deutsch?“
„Noch nie gehört. Und ‚dumb‘, was soll das bedeuten?“
„‘Dumb‘ ist wie ‚dumm‘. Kann aber auch ‚stumm‘ bedeuten. Die Taubstummen heißen bei uns ‚deaf and dumb‘.“
Dieses Gespräch fand im Jahr 2024 n.Chr. statt. Aus diesem Grund griff ich sofort zum Phone, um den Begriff „play dumb“ zu „googeln“.
Vorsitzender Google zauberte innerhalb Millisekunden eine, besser gesagt, mehrere Antworten bzw. Reaktionen auf mein Suchwort hervor.
Erstens hat er bestätigt, dass „play dumb“ ein englischsprachiges Idiom ist. Auf Deutsch sage man hingegen „sich dumm stellen“.
„Genau!“ sagt T. „‚Dumm stellen‘. So heißt es auf Deutsch.“
„Aha!“, füge ich nun hinzu. „Man kann aber auch ‚den Dummen spielen‘, sagen.“
„Ja genau. Das kann man auch sagen…“
„…und das klingt beinahe wie ‚dumm spielen‘, gell?“
„Beinahe aber nicht genau gleich. ‚Den Dummen spielen‘ klingt deutsch, ‚dumm spielen‘ hingegen eben nicht.“
Ich werde dieses Gespräch nicht weiter vertiefen. Was mich in der Sache überrascht hat: Ich spreche diese Fremdsprache Deutsch seit so vielen Jahren und dennoch stoße ich noch immer auf dunkle Ecken, die für mich ohne Sprachresonanz sind. Es handelt sich zwar meistens um Kleinigkeiten. Dennoch überrascht es, wenn ich schon wieder daran erinnert werde, dass ich zeit meines Lebens diese deutsche Sprache nie so verinnerlichen werde bzw. kann wie ein Muttersprachler.
Eine nüchterne Feststellung.
Eins steht aber fest. Falls ich besagten Mechaniker auf der Straße antreffe, werde ich mit Sicherheit, wie oben erwähnt, den Dummen spielen.
In einer Woche erscheint er – in englischer Sprache: mein Roman „Winston Hewlett’s Impotence“. Den Titel muss ich nicht ins Deutsch übersetzen. Er lässt sich leicht verstehen. Warum erzähle ich dies?
Klar, man hofft, dass der eine oder andere neugierig wird und das Buch bestellen wird. Man freut sich als Schriftsteller immer, Leser zu gewinnen.
Ich verkünde die Veröffentlichung aber aus einem anderen Grund. Und der hat selbstverständlich mit Sprache zu tun. Was sonst?
Fakt ist: Über viele Jahre wollte ich mich – zumindest als Schriftsteller – von meiner Muttersprache abkoppeln.
Irgendwie eine peinliche Angelegenheit, dies einzugestehen: Ich war mit der eigenen Stimme in der Muttersprache schlichtweg unzufrieden. Mir kam sie geradezu holprig und rau vor. Wenn ich schrieb, vernahm ich lediglich die Straßensprache meiner Kindheit in der Bronx. Dazu die Sprache meines Vaters, der im ganzen Leben nie einen grammatikalisch korrekten englischen Satz formuliert hatte, obgleich für ihn das Englisch keine Zweitsprache war. Sie war seine einzige Sprache, und er hat sie nie richtig beherrscht. Ich bildete mir ein, ich rede ebenso wie er. Bis heute überarbeite ich meine englischsprachigen Texte manisch. Stets wittere ich Ungehobeltes in meiner Stimme.
Deshalb habe ich „Winston Hewlett’s Impotence“ jahrelang korrigiert und umgeschrieben – vom Gedanken geplagt: Igitt schrecklich, was ich da schreibe. Nebenbei: Das Buch ist sehr unterhaltsam, sehr lustig und zum Teil allerdings auch derb – ohne aber jemals in die Vulgarität zu versinken.
Für mich bedeutete das Deutschschreiben quasi eine zweite Chance, eine Gelegenheit von vorne an wieder anzufangen, mich von meiner grausamen Sprachlast zu befreien. Zugegeben: Mein Deutsch wird nie ganz fehlerfrei sein. Doch die Kleinigkeiten kann man leicht korrigieren.
Es ist eine schwere Arbeit, in einer Fremdsprache zu schreiben. Eine Fremdsprache gut sprechen zu lernen, ist eine Sache. Schreiben erfordert andere Fähigkeiten. Deshalb geht man ja in die Schule!
Dennoch: Ich freute mich, mich von meiner Erblast zu befreien. Wenn ich Deutsch schreibe, sind die Straßen der Bronx und die Stimme meines Vaters weg weg weg. Wenn ich Deutsch schreibe, so denke ich, habe ich eine einzige Aufgabe: Die Texte, die ich schreibe, grammatisch korrekt hinzubekommen.
Was mich sogar oft gelingt – umso mehr, je mehr ich es tue. Vielleicht wäre ich beim Deutschen geblieben…doch dann begann eine liebe Freundin, selbst Schriftstellerin, laut zu protestieren.
„Schreib Englisch!“ Hat sie mir eingeschärft – und das jahrelang. „Deine Seele spricht Englisch und nicht Deutsch!“
Immer wieder hab ich das gehört, und ich antwortete: „Ja aber auf Deutsch fühle ich mich frei. Im Deutschen habe ich keine Vorgeschichte. Keine historische Last, die mich bedrückt.“
Naja. Lange Leber kurzes Zinn. 2011 begann ich wieder in meiner Muttersprache zu schreiben. Es tat weh, tut es immer noch, aber ich mache weiter.
„Winston Hewlett’s Impotence“ erscheint, wie gesagt, demnächst. Ich habe sogar ein Exemplar bekommen. Hübsche Aufmachung. Dennoch: Jedes Mal wenn ich es aufschlage, will ich sofort etwas ändern. Ach! So holprig!, sage ich mir, Wie hast du das übersehen können?! Wie es aber scheint, bin ich wohl der einzige, dem die ungehobelten Sätze auffallen. Trotzdem: Ich denke sie können perfekter, präziser werden.
Na ja. Was soll ich sagen? Falls Sie neugierig sind und Englisch gut verstehen, können Sie das Buch selbst lesen. Notabene: Hier keine Schleichwerbung in eigener Sache. Ich erzähle lediglich von einem Sprachenkrieg.
Freund Roscoe hat mir vier oder fünf sehr anspruchsvolle Artikel aus den Fachjournalen zukommen lassen, die sich mit der KI-Sprachforschung und auch der Tiersprache auseinandersetzen.
Was die Tiere betrifft, bin ich zufälligerweise gestern auch auf einen weniger anspruchsvollen Text in den CNN-Nachrichten gestoßen.
Doch fangen wir mit Roscoe an. Vor ein paar Tagen haben wir uns auf der Straße bei strömendem Regen über Sprache unterhalten. Roscoe erzählte Verschiedenes. Der ist in diesen Dingen sehr bewandert. Alles sehr interessant. Wahrscheinlich habe ich aber nur die Hälfte verstanden.
Zum Beispiel: Er behauptete, dass die Sprachtheorien der 1950er Jahre – hauptsächlich die von Chomsky – immer mehr an Gültigkeit verlieren. Chomsky zufolge gibt es im Menschenhirn so etwas wie eine vorprogrammierte „tiefe Grammatik“. Will heißen: Jedes Kleinkind (also Sprachneuling) auf der Welt kann – dank dieser angeborenen „tiefen Grammatik“ – eine oder mehrere „Erstsprache(n) erlernen – und zwar anhand von gewissen Sprachregeln, die es intuitiv erahnt. Mit anderen Worten: Der Mensch kommt auf die Welt mit der Fähigkeit, jegliche Grammatik verinnerlichen zu können.
Alles klar?
Allerdings, so Roscoe: Dank der künstlichen Intelligenz kann man heute mühelos jede Sprache in ein anderes „System“ (d.h., Sprache) „verwandeln“, also „übersetzen“. Und der Witz ist: Diese „künstliche Intelligenz“ hat keine Ahnung, was sie übersetzt. Sie sammelt lediglich aus diversen Sprachen unzählige „Bedeutungen“ und „Wortstellungen“ auf eine Weise, die sie erlaubt den Inhalt eines Systems in ein anderes zu verändern.
Angesichts der Fähigkeit eines solchen Megarechners sieht Chomskys Ideen etwas alt aus. Das behauptet zumindest Roscoe.
Und jetzt wird es noch komplizierter. Nämlich die Erklärung für dieses Phänomen. Roscoe zufolge werden die Dinge, die wir „Wörter“ nennen auf unzählige Weise analysiert und als „Einbettungen“ in einer „Cloud“ platziert. Ich habe übrigens einen Wikipedia-Artikel über „Word Embedding“ entdeckt. Können Sie selbst lesen. Wenn ich mich nicht täusche, nennt man diese „Einbettungen“ auch „Vektoren“. Wie dem auch sei: Es sind offensichtlich lauter kleine Punkte, die den Sinn eines Wortes maschinell festlegen.
Und dann berichtete Roscoe Neues über die Sprache der Tiere. Ich selbst bin etwas vorsichtig das, was die Tiere einander zu sagen haben, mit einer Menschensprache zu vergleichen. Ich denke nämlich, dass die Tiere im Grunde sehr wenig einander zu sagen haben außer Mitteilungen über Macht, Sex und Essen. Hmm…wie vielleicht bei uns Menschen!
Vor etlichen Wochen hatte ich eine Glosse über die Sprache der Pottwale geschrieben. Nun hat mir Roscoe Ergänzendes geliefert. Ihm zufolge haben Wissenschaftler endlose Analysen der Grunzen und Pfeifen der Pottwale durchgeführt. Mit diesen Erkenntnissen gewappnet, machte sich eines Tages ein Forscherschiff auf den Weg zu den erforschten Walfischen. Als sie bei ihnen ankamen, spielten die Wissenschaftler über einen Lautsprecher gewisse Töne, die sie bereits aufgenommen hatten. Sie waren neugierig, was nun geschehen würde.
Was ist dann geschehen? Sogleich wurde das Forscherschiff von einem wutschnaubenden Pottwal angegriffen. Warum? Erst hinterher stellte es sich – durch Analyse – heraus, dass der Laut der von den Walfischen vernommen wurde, so etwas wie der „Name“ jenes angreifenden Walfisches war. Mit anderen Worten: Das Schiff teilte so etwas mit wie „Ich bin XY“. Woraufhin XY das Schiff angriff, als wollte er sagen: „Nein ICH bin XY!“
Dass auch Tiere Namen haben, scheint mittlerweile von den Forschern bekannt zu sein. Und jetzt sind wir wieder bei CNN. Auf dieser Webseite habe ich neulich einen Artikel über die Sprache der Elefanten gelesen. Auch die Dickhäuter scheinen Namen zu haben und rufen diese zueinander aus entweder aus der Ferne oder aus der Nähe, um zu sagen: „He, da bin ich, falls Ihr nach mir sucht.“
Nicht nur Elefanten und Wallfische haben Namen, so CNN, auch andere Tiere. Ich glaube aber, dass das Gebiet noch nicht ganz ausstudiert ist. Fortsetzung folgt also, d.h., falls es mir gelingt, mich in den Texten von Roscoe weiter zu vertiefen.
(Der Sprachbloggeur und die künstliche Taylor S. sitzen sich gegenüber in einem Café in München. Der SB trinkt Mineralwasser und hantiert mit einem Stück Kuchen. Die künstliche T.S. nippt an einem Espresso und spielt mit einem Löffel. Beide wirken verlegen)
SB: Nehmen Sie es mir übel, wenn ich eingestehe, dass ich gar nichts über Sie weiß? Weder darüber, wo Sie wohnen, noch das Geringste über Ihre Karriere. Ich weiß einzig und allein, dass mir Ihr Name aus den Medien bekannt vorkommt, und irgendwo habe ich erfahren, dass Sie eine große Fangemeinschaft haben.
T.S.: Nein, ich nehme es Ihnen nicht übel, und hoffentlich werden Sie es mir ebenso nicht übelnehmen, wenn ich zugebe, dass ich Ihren Namen gar nicht kenne und nicht in der Lage bin, auch das geringste über Sie zu sagen. Wohl nur dem Zufall zu danken, dass wir beide uns hier an einem Tisch in einem Münchener Café gegenübersitzen.
SB: Ja, Mir war etwas kribbelig zumute, und ich habe mich entschlossen, wie ich manchmal sage, mein Gehirn zu lüften. Ganz spontan hab ich mich entschieden, in dieses Café einzukehren. Vielleicht weil ich plötzlich einen zerrenden Durst verspürt habe und mich dabei auch ein wenig schwach auf den Beinen fühlte. Mittlerweile weiß ich, dass das ein Hinweis ist, dass mein Blutdruck im Keller ist. Ich pflege dann sofort mich mit Wasser vollzutanken. Von dem Kuchen bekomme ich darüber hinaus ein wenig Zucker – auch hilfreich, um mich zu entschlappen.
T.S.: Ja, und dann kam ich zufällig ins Café, eigentlich weil ich allein sein wollte. Man hat in meinem Beruf immer so viele Menschen um sich. Manchmal sehne ich mich nach der Anonymität. Der Laden hier war aber so voll! Ich bin zwar keine Europäerin; ich weiß aber, dass man sich – anders als in den USA – zu einem fremden Menschen zusetzen darf. Man brauche lediglich zu fragen: „Ist dieser Platz frei.“ Und gerade das habe ich bei Ihnen gemacht. Mein Gott, es funktioniert!, hab ich gedacht.
SB: Sie nehmen es mir also nicht übel, dass ich Ihre Arbeit nicht kenne?
T.S.: Um Gottes Willen, wieso das? Im Gegenteil. Wenn Sie über mich nichts wissen, dann kennen Sie auch nicht die schrecklichen Gerüchte, die Neider über mich verbreiten.
SB: Mich würde so etwas ohnehin nicht interessieren. Nur eins möchte ich aber wissen.
T.S.: Das wäre…
SB: Warum haben Sie keinen Kuchen bestellt? Dieses Café ist bekannt für sein tolles Sortiment. Das können Sie aber nicht wissen, weil Sie keine Hiesige sind. Oder achten Sie vielleicht auf Ihre Taille? Das tun manche Menschen – vor allem, wenn sie eine Fangemeinschaft zu besänftigen haben.
T.S.: Eigentlich hatte ich keinen Hunger, aber Sie haben recht. Ein wenig achte ich doch auf meine Taille. Berufskrankheit wohl. Vielleicht werde ich doch ein Stück Kuchen bestellen. Möchten Sie mir etwas vorschlagen?
SB: Das Preiselbeer Baiser ist meiner Meinung nach besonders lecker.
T.S.: Na gut, dann wird‘s ein Preiselbeer Baiser sein. Würden Sie es mir bitte bestellen. Meine Kenntnisse der hiesigen Sprache sind leider etwas bescheiden.
SB: Selbstverständlich.
(Stillschweigen)
SB: Sollen wir über ein Leben in der Öffentlichkeit reden? Ich meine… könnten Sie sich ein Dasein ohne Öffentlichkeit vorstellen?
T.S.: Sagen wir so: Ich träume davon, ich weiß aber, dass ich es nicht ertragen würde. Leider brauche ich die Aufmerksamkeit. Und Sie?
SB: Tja. Ebenso. Bloß, ich komme mit viel weniger Rummel zurecht als Sie. Zugegeben: Wenn ich keine Aufmerksamkeit bekomme, bin ich unglücklich. Wenn es aber zu viel wird, möchte ich auf der Stelle flüchten…so wie Sie es jetzt getan haben, indem Sie hierher geflüchtet sind.
T.S.: Meinen Sie, wir sind uns ähnlich?
SB: Gewissermaßen schon. Ich vermute aber, dass es den meisten Menschen so ergeht – auch ohne öffentliches Dasein.
T.S.: Komische Menschheit, oder?
SB: Möchte ich auch behaupten…
(Das Gespräch wird weitergeführt. Wir hören die zwei zwar reden, verstehen aber nicht, was sie sagen. Nur eins werde ich verraten. Am Ende des Abends geht jeder einzeln seinen Weg nach Hause…)
Hand aufs Herz: Wann war das letzte Mal, dass Sie die Vokabel „proaktiv“ proaktiv verwendet haben? Oder ich frage anders: Ist „proaktiv“ ein Bestandteil Ihres aktiven Wortschatzes?
Ich lernte das Wort 1997 kennen, und zwar in Washington D.C., wo ich ein Interview bei der NASA mit einem deutschen Mitarbeiter – leider fällt mir der Name nicht ein – führen sollte. Er war sehr nett und zeigte mir lauter hübsche Baumuster für Satelliten, Raumschiffe und Raketen. Auch über Werner von Braun haben wir ein wenig geredet. Ich entsinne mich, er hatte ihn gekannt.
Es war jedenfalls ein schöner Nachmittag.
Am selben Tag – ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es vor oder nach dem Interview war – traf ich mich mit zwei amerikanischen Bekannteninnen (notabene: neues weibliches Plural für das genderlose „Bekannten“). Ja, vielleicht muss man hier doch „Bekannteninnen“ schreiben. Sonst müsste ich auf andere Weise darauf hinweisen, dass es sich um zwei Frauen handelt.
Jedenfalls, diese zwei Frauen waren alte Bekannten aus München, wo beide einige Jahre gelebt hatten, bevor sie in die USA zurückkehrten.
Wir trafen uns in einem Restaurant. Ich habe eingeladen, zumal ich vom Verlag eine Reisepauschale bekommen hatte und zum Essen einladen durfte – wenn die Gäste irgendwie in Zusammenhang mit meinem Auftrag zu tun hatten. Ich erinnere mich aber nicht, ob sie bezüglich meines Auftrags eine Rolle spielten.
Wieso erzähle ich diese umständliche Geschichte? Weil ich bei diesem Essen (ich vergesse, was das für ein Restaurant war) zum ersten Mal den Begriff – hier auf Englisch – „proactive“ vernommen hatte.
Irgendwie hat man sogleich verstanden, worum es ging. „Proactive“ schien eine Art „active“ mit einem zusätzlichen „Umpff“ zu sein.
Wahrscheinlich habe ich den zwei Bekannten nicht mitgeteilt, dass ich das Wort „proactive“ nicht kannte. Entweder wollte ich meine Ignoranz nicht preisgeben, oder ich hatte das Gefühl, ich ahne ohnehin, worum es geht.
Und nun, liebes Publikum, möchte ich Ihnen kundtun, dass ich heute zum ersten Mal „proaktiv“ als deutsches Wort begegnet bin! Und zwar in einem medizinischen Text über die Behandlung von Augenkrankheiten: etwas über die Notwendigkeit eines behandelnden Arztes „proaktiv“ vorzugehen.
Nun war ich aber neugierig geworden und schlug meinen einbändigen Duden auf, um endlich den lexigrafischen Sinn dieses Wortes zu eruieren. Es stand folgendermaßen: „durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbstbestimmend und eine Situation herbeiführend.“
Alles klar? Diese Definition bestätigt in der Tat meine Vermutung, dass „proaktiv“ ein „aktiv“ mit etwas „Umpff“ ist. Nebenbei: Ich bewundere das Erklärungsgeschick des Dudenmitarbeiters (könnte natürlich auch eine Frau sein), der diesen schönen Satz formuliert hat. Hat was Proaktives. Meinen Sie nicht.
Wie dem auch sei. Diese Vokabel – ob auf Englisch oder Deutsch – ist noch ein Kleinkind in der Sprachnachbarschaft. Ich finde sie, z.B., in meinem fünf Kilo Webster’s Cambridge Dictionary aus dem Jahr 1989 gar nicht. Auch nicht in meinem fünfbändigen Duden von 1970.
Doch nun habe ich im Netz geforscht (wozu brauchen Sie mich, wenn Sie das Netz haben!?). Fakt ist: Dieses Wort wurde erst in den 1930er Jahren von einem amer. Psychologen aus dem Boden gestampft. Seine Premiere auf Deutsch fand 1946 in einem Buch des österreichischen Psychologen Viktor Frankl („Ein Psycholog erlebt das KZ“) statt.
Wohl in den 1980er Jahren wanderte es in den Fachjargon der Poppsychologen in den USA ein. War freilich nur eine Frage der Zeit, bis der Begriff problemlos den deutschen Pass erhalten hat.
Vielleicht verstehen Sie wenig oder nichts von der Musiktheorie. Ist hier ohnehin unwichtig.
Mein Flötenlehrer hat mich neulich gebeten, eine Es Dur Tonleiter vorzuspielen. Was habe ich gemacht? Ich habe F Dur gespielt. Warum? Weil „Eff“ und „Ess“ zu den Lauten zählen, die eine hohe Tonfrequenz haben.
Wer schwerhörig ist – egal wie sehr – , der vermag häufig zwischen diesen zwei Lauten nicht zu unterscheiden. Es gibt andere solche Töne: z.B. „z“, „sch“ und auch „t“.
Müssen Sie heute mit einer Glosse über die Schwerhörigkeit rechnen?
Keineswegs. Es geht – wie meistens um die Sprache. Und zwar darum, dass Sprachen immer im Wandeln begriffen sind. Aber das weiß jeder – irgendwie.
Mein Lieblingsbeispiel: das spanische Wort „peligro“. Es bedeutet „Gefahr“. Ja, Sprache ist immer gefährlich. Zu bemerken aber: Um dieses Wort korrekt auszusprechen, muss man das „R“ kräftig mit der Zunge rollen.
Diese Vokabel wird vom lateinischen „periculum“ abgeleitet. Meine Frage: Was ist geschehen, dass daraus „peligro“ entstanden ist?
Fangen wir am Anfang an: Man kann davon ausgehen, dass auch die Römer das „R“ in diesem Wort mit der Zunge kräftig gerollt haben. Das machen die Italiener immer noch, wenn sie „pericolo“, ihre Version dieser Vokabel, über die Lippen bringen. Nur. Dieses Zungen-„R“ kann mal sehr launisch sein. Manchmal will es einfach zu einem „L“ werden. Ich vermute, dass so etwas auch in der römnischen Provinz Hispania passiert ist, und dass die Lateinisch Sprechenden dort bisweilen „peliculum“ sagten.
Und jetzt zum Gesetz der faulen Zunge. Will heißen, dass Menschen gern schnell reden – als wäre Sprache ein Hindernis, eine Last für die Kommunikation. Wenn ich, z.B., Englisch mit einem anderen Native Speaker rede und etwas nicht richtig verstanden habe, frage ich selten „What did you say?“, sondern etwas wie „whah ya say“? Ja, das Gesetz der faulen Zunge.
So schlampig redeten auch wohl die Römer. Wahrscheinlich haben die faulen Zungen nicht einmal „peliculum“ gesagt, sondern etwas noch knapper: vielleicht „peliculu“ oder „peliculo“. Hmm. Klingt bereits beinahe wie das heutige italienische „pericolo“. Zungen-„R“ bitte.
In Hispania haben die Leute damals „peliculo“ so rasch über die Zunge gebracht – und jeder weiß, dass die Spanier rasend schnell reden – dass daraus „peliclo“ wurde.
„Peliclo“.Hmm. Klingt irgendwie komisch – als würde das Wort kaum mehr Substanz haben. Vielleicht deshalb verwandelten die Urspanier das „C“ in ein „G“, um es etwas fleischiger erklingen zu lassen. Nun haben wir „peliglo“.
„Peliglo“? Zweimal „L“? Wie hässlich! Was macht man? Man rollt das „L“ kräftig mit der Zunge, bis daraus ein gerolltes „R“ entsteht. Und siehe da! Jetzt sind wir endlich bei „peligro“ gelandet!
Fassen wir zusammen: Faule Zungen und das nicht genau Hinhören als Hauptschuldige. Kein Wunder, dass Sprachen am Wandeln sind. Ohne eine Schriftsprache, die eine Art Sprechdisziplin erfordert, würden all diese Sprechsysteme wahrscheinlich noch schneller zu etwas anders mutieren.
Und jetzt wissen Sie, warum ich eine F Dur Tonleiter spielte, während mein Lehrer auf Es Dur wartete.
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