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Morbide Fantasien und sonstige Träume

Wir kamen erst gestern in Weimar an, meine Frau und ich. Als Herr Th. uns anrief, um sich nach unserer Ankunftszeit zu erkundigen, warteten wir noch in Naumburg auf unseren Anschlusszug. Herr Th. hatte uns nämlich eine hübsche kleine Ferienwohnung vermietet und wollte uns am Bahnhof abholen.

Ich erzähle Ihnen obige Details aus meinem Privatleben aus zwei Gründen. Der erste hat freilich einen sprachlichen Bezug. Als meine Frau mit Herrn Th. am Mobiltelefon redete, hörte ich sie plötzlich sagen: "So bald wir in Weimar ankommen, rufen wir durch“, offenbar ein Echo auf die Worte von Herrn Th.

Rufen wir durch“? Ist Ihnen diese Redewendung bekannt, mir jedenfalls nicht. Ich hätte vielmehr "rufen wir an“ gesagt. Nun war mir klar: Wir hatten nicht nur die Zwiebeltürme Bayerns hinter uns gelassen, sondern ebenfalls eine Sprachgrenze.

Übrigens: Während der ersten Etappe unserer Reise, d.h., im Zug nach Nürnberg, klingelte das "Mobilfon“ meiner Frau zum ersten Mal. Ihre Freundin A. war am Apparat. Immer wieder erzählte meine Frau, sie sei urlaubsreif, brauche eine Pause usw., und sie sei "fix und alle“.

"Fix und alle“? Wieder eine Sprachneuigkeit – jedenfalls mir. Mir sind "fix und fertig“ und "fix und foxi“ vertraut, und manchmal sage ich "fixum und fertigum“ (habe es als alter Lateiner selbst erfunden), aber "fix und alle“? Noch nie gehört. Ich fragte meine Frau, woher sie diese Redewendung habe. Sie wusste es aber selbst nicht mehr, meinte, dass eine Kollegin, die aus Hannover stamme, womöglich Urheberin sei.

Ich weiß es auch nicht. Und momentan habe ich leider keine unmittelbare Möglichkeit, die Sache näher zu verfolgen. Denn meine Nachschlagwerke sind alle in München, und es gibt in unserer hübschen Ferienwohnung keine WLAN-Verbindung , um "fix und alle“ und "durchrufen“ webmäßig zu recherchieren.

Somit kam ich auf einen komischen Gedanken: In dem Augenblick, in dem ein Sprachbloggeur nicht mehr über die Werkzeuge seines Berufs verfügt, ist er ganz plötzlich auf einen internen Speicher, sprich sein Gedächtnis, angewiesen, um sein Handwerk auszuüben. Das ist zwar ein Handicap, macht die Sache aber nicht ganz unmöglich. Ich musste an den englischen Politiker und späteren Heiligen Thomas Morus denken. Nachdem er im Tower von London eingekerkert worden war – bevor man ihn wegen Hochverrat hinrichtete – schaffte er es, zwei Bücher zu verfassen. Alle Zitate, die meisten aus den Heiligen Schriften, und sie waren reichlich vorhanden, zauberte er aus dem Gedächtnis hervor. Gleiches gilt für den römischen Philosophen und Staatsmann Boethius. Nachdem er vom germanischen Kaiser Theoderich zu Tode verurteilt worden war – auch er wegen Hochverrats –, vermochte er in seiner Zelle zu arbeiten und erschuf eins der schönsten Bücher überhaupt: "Trost der Philosophie“. Alles produzierte er aus dem Gedächtnis.

Morus und Boethius waren sicherlich Ausnahmetalente. Die meisten Menschen werden, wenn ihnen ihr gewohntes Daseinsumfeld verloren geht, zu einsamen Inseln. Die eigene Sprache, die Erinnerungen eines Lebens, versanden, wie das Gewässer eines Flusses, das seine Aufgabe als Kommunikationsmittel verliert. Sprache und Erfahrungen werden alsbald zu dürftigen Quellen, wenn es keine anderen gibt.

Meine Situation ist freilich nicht so dramatisch. Ich befinde mich schließlich in Urlaub, nicht in einem Gefängnis. Ein Aufenthalt in Weimar ist wahrlich keine Tortur. Trotzdem fantasiere ich gerne und male mir immer wieder "worst case scenarios“ aus. Ein morbides Vergnügen halt. Außerdem bin ich nicht ganz vom Kommunikationsnetz abgeschnitten. Ich kann mich jederzeit für fünf Euro die Stunde im vornehmen Hotel nebenan ins Internet einloggen, um Ihnen meine Gedanken mitzuteilen.

Ach ja. Ich sagte oben, dass ich zwei Gründe hätte, um über mein Privatleben zu berichten. Den zweiten habe ich ohnehin bereits verraten: Nämlich, dass ich die nächsten zwei Wochen in Urlaub bin. Vielleicht werde ich aus dem schönen Weimar gelegentlich berichten, vielleicht auch nicht. Wir sehen uns jedenfalls bald wieder in alter Frische. Ich war richtig fix und alle und werde durchrufen, sobald ich Zeit habe.

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