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Der Moment mit der Ziege

Wissen Sie, was ein "pet goat moment“ ist? Ich habe diese neue amerikanische Redewendung in der Wochenendausgabe der International Herald Tribune entdeckt.

Sie steht in einem Kommentar des Journalisten Bill Keller an einer Stelle, wo der Autor bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking ein Treffen zwischen Vladimir Putin und George W. Bush schildert. Keller fiel auf, dass diese Weltpolitiker, wie zwei Korpsbrüder, Witze austauschten und ausgelassen lachten. Doch er interpretierte diese Ausgelassenheit seitens Herrn Bush als Zeichen, dass der amerikanische Präsident vielleicht die Konsequenzen des Kriegs im Kaukasus noch nicht ganz registriert hätte. Der Journalist fragte sich folglich, ob es sich hier wieder um einen "pet goat moment“ handelte.

"Pet goat“? Wörtlich, eine Ziege (bzw. ein Zieglein) als Haustier. "Ziege-als-Haustier-Moment“ klingt auf Deutsch nicht besonders schön. Vielleicht "Kuschelziegleinmoment“? sinnierte ich nach der ersten Begegnung mit dem Idiom, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, was es bedeutet.

Inzwischen weiß ich, dass ich mit meiner Übersetzung völlig im Abseits stand. "Pet Goat“, genauer gesagt "The Pet Goat“, ist lediglich der Titel eines Kinderbuchs. Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein kleines Mädchen hat eine Ziege als Haustier. Es ist ein unausstehliches Biest, das alles frisst und zerstört, was ihm in den Weg kommt. Die Eltern des Mädchens sind mit den Nerven fertig und möchten das Tier endlich loswerden. Und dann passiert es: Eines Tages gelingt es der Ziege das Fluchtauto einer Räuberbande anzurammen. Somit werden die Räuber festgenommen. Die pet goat wird zu Heldin. Happyend.

US-Präsident George W. Bush hat diese Geschichte einer Grundschulklasse im US-Bundesstaat Florida vorgelesen, um Werbung für seine Bildungspolitik zu machen. Leider hätte das Timing nicht ungünstiger sein können. Wir schreiben nämlich den 11. September 2001 um 8h58. Das Ereignis wurde übrigens auf Video aufgenommen. (Zu finden ist es im Internet an mehreren Webseiten unter Stichwort "The Pet Goat“). Man sieht den Präsidenten, vor der Schulklasse auf einem niedrigen Stuhl sitzend. Im Hintergrund hängt ein Plakat mit der aufmunternden Losung: "Reading Makes a Country Great“. Plötzlich erscheint der Stabchef des Präsidenten, Andrew Card, im Bild und flüstert seinem Chef etwas Ernstes ins Ohr. Man ahnt den Inhalt. Etwa: "Mister President, ein Flugzeug ist gerade in einen Turm des New Yorker World Trade Center eingeschlagen.“ Bush hört zu, pausiert etwa 40 Sekunden und blickt ausdruckslos ins Leere. Dann setzt er nach dieser Auszeit mit der Lektüre fort. Nach fünf Minuten kehrt Andrew Card aber zurück und flüstert dem Präsidenten wieder etwas ins Ohr. Wohl eine Auskunft über den Anschlag auf den zweiten Turm des World Trade Center. Wieder Pause. Inzwischen hat der Präsident "The Pet Goat“ fertig vorgelesen und hält anschließend eine kurze Rede über die Wichtigkeit des Lesens.

Nun wissen Sie, was ein "pet goat“-Moment ist. Ob das Treffen Bush/Putin in Peking einer dieser Momente war, steht freilich zur Debatte, ist ohnehin nicht so wichtig.

Nebenbei: Das Buch, dessen Titel für diese neue Redewendung Pate stand, wurde nach dem damaligen Ereignis zu einem großen Verkaufsschlager und war bald ausverkauft. Ich persönlich halte den Titel für etwas langweilig.

Für den scheidenden Präsidenten bleibt der "pet goat“-Moment nur ein Hinweis auf eine von vielen Peinlichkeiten aus seiner achtjährigen Amtszeit. Für uns eifrige Sprachforscher bedeutet dieser Moment mehr als die Gelegenheit sich über einen Staatschef lustig zu machen. Er markiert vielmehr die Geburtsstunde einer Redewendung, die man vielleicht in hundert Jahren auch weiterhin nachplappern wird, ohne zu wissen, woher sie stammt.

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