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Der Sprachbloggeur erzählt vom Ursprung der Sprache

Stellen Sie sich vor. Sie steigen in den ICE nach Berlin und finden auf der Suche nach einem leeren Platz ein Abteil, in dem ein einziger Mensch sitzt. Er ist so sehr in seiner Lektüre vertieft, dass er die Welt vergessen zu haben scheint. Auffällig ist seine grelle, weiße Brille, ebenfalls sein bunter Anzug, der an die Kluft eines Zirkusdompteurs erinnert. An seinem Ohrläppchen blinzelt ein kleiner Diamant, seltsam für einen Menschen wie ihn, der ganz offenbar nicht mehr der jüngste ist. Sie betreten das Abteil, ohne zu fragen, ob ein Platz frei sei. Dies ist ohnehin unbestreitbar.

Sie setzen sich am Fenster hin, Sie sitzen also beide in Fahrtrichtung, und Sie werfen gelegentlich verstohlene Blicke in Richtung Ihres Mitfahrers. Irgendwoher kenne ich diesen Menschen, denken Sie. Plötzlich fällt der Groschen. Ist das Elton John? Fahre ich in einem Abteil mit Elton John zusammen!? Fährt er vielleicht inkognito nach Berlin? Natürlich wissen Sie dies nicht, und Sie trauen sich nicht, ihn zu fragen. Derweil vergehen Stunden, währendessen Sie davon träumen, ein Gespräch mit dem Mitreisenden anzuknüpfen. Heimlich beobachten Sie seine kleinsten Bewegungen: wie er dem Schaffner seine Fahrkarte zeigt, was er als Reiseproviant mitgebracht hat, wie er sich einmal kurz in der Nase gebohrt hat, wie er sich am Ohr kratzt, Sie versuchen ebenfalls herauszufinden, was er liest. Doch Sie reden mit ihm kein einziges Wort.

Warum denke ich mir ausgerechnet dieses Szenario in einem Sprachblog aus?

Weil es ein passendes Symbol für das Gegenteil von Sprache ist: Ich beschreibe hier nämlich die Sprachlosigkeit. Meines Erachtens existiert sie in mindestens zwei Ausführungen: einmal einer positiven, einmal einer negativen. Positiv ist sie, wenn Worte überflüssig sind, und das sind sie manchmal auch. Manchmal soll man wirklich lieber schweigen. Negativ ist sie, wenn sie zu Missverständnissen oder Fehlgriffen führt. Dann ist natürlich jedes unartikuliertes Wort ein Wort zu wenig. In so einer Situation ist der Redefluss wahrlich gülden.

Aber zurück zu meinem theoretischen Reisenden, der seinen Mitreisenden für Elton John oder meinetwegen Elfriede Jelinek oder Angela Merkel hält. Fakt ist, er weiß nicht, mit wem er in einem Abteil sitzt. Er verläßt sich auf Bilder vom Fernsehen oder aus der Zeitung, um seinen Schluss zu ziehen. Womöglich irrt er sich. Doch stellen Sie sich vor, es säße nicht Elton John neben ihm, aber er glaubt es trotzdem und erdreistet sich dann ein Buch über seine Zugfahrt mit E.J. zu schreiben und vielleicht an den Mann zu bringen. Dann hat er ein Märchen erzählt. Er hat einen falschen Schluss gezogen, weil er sich lediglich auf eine Fantasie verlassen hat. Eigentlich eine Peinlichkeit, eine Peinlichkeit, die er sich hätte ersparen können, wenn er den Mut gehabt hätte zu fragen: "Entschuldigen Sie, sind Sie Elton John?“ Er hätte seine Antwort erhalten. Doch wenn er sich nicht geirrt hat, dann wäre vielleicht ein schönes Gepräch zustande gekommen. Auch wenn er sich geirrt hätte, wäre dies auch möglich gewesen.

In Wirklichkeit beschreibe ich hier eine Sternstunde der Menschheit: den Augenblick der Erfindung der Sprache. Natürlich war der Standort dieses glorreichen Ereignisses nicht in einem Eisenbahnabteil im ICE nach Berlin. Es geschah vor unvordenklichen Zeiten irgendwo in der Natur, als sich zwei Menschen, einander wohl sehr fremd (wie meine zwei Reisenden) begegnet waren. Keiner der beiden hatte an diesem Tag Lust, handgreiflich zu werden. Sie standen einander gegenüber…und dann ging es auf einmal vonstatten. Einer der beiden verwendete die eigene Stimme, um etwas zu artikulieren. Der Ton war aber freundlich. Und siehe da! Der andere reagierte – auch freundlich. Im Nu waren sie auf sehr menschliche Art einander näher gekommen.

Das erste Wort wurde gesprochen. Es muss ein tolles Gefühl gewesen sein.

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