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…Opfer…

Wir schreiben das Jahr 1976. Der 33er Bus steht an der Haltestelle Hohenzhollernplatz. Ich steige aus, warte aber höflich, bis sich die alte Dame vor mir mühsam hinuntermanövriert hat. Nun passiert es. Die robuste Dame hinter mir wird ungeduldig. "Dalli dalli!“ geifert sie. "Gib Gas!“ und schübst mich handgreiflich die Ausstiegstreppe hinunter.

Ich bin sprachlos – buchstäblich sprachlos. Denn meine Deutschkenntnisse reichen in dieser Situation noch nicht aus, um mein Anliegen schnell und präzise zu artikulieren. Der Ausländer ist wahrlich ein stimmloser Mensch. Ich bin jedenfalls außerstande der geduldlosen Dame zu erläutern, dass ich nur so langsam aussteige, damit ich die gebrechliche Mitfahrende vor mir verdammtnochmal nicht total derrenne! – was ohnehin ganz offensichtlich sein sollte. Doch dazu reichen meine bescheidene Sprachmittel noch nicht aus, und ich erwidere, etwas irritiert, ein tierisches "He!“

"Schleich di, Rotzbua!“ setzt meine Kontrahentin fort.

Nun bin ich, armer Ausländer, total am Ende meines Lateins – bzw. meiner Deutschkenntnisse – und stammele atemlos zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben das einzige, was mir in diesem Augenblick noch einfällt: "Blöde Kuh!“ Was die rüppige Dame darauf antwortet, weiß ich nicht mehr. Meine gute Laune ist jedenfalls dahin.

"Blöde Kuh“. Auf Englisch “stupid cow“. Naja, wäre auch in meiner Muttersprache nicht ganz ohne, nur weniger gebräuchlich – und in dieser Sprechsituation nicht ganz korrekt. "Stupid cow“ wird meistens direkt mit Intelligenz in Zusammenhang gebracht. Amerikaner – ebenfalls Engländer bedienen sich ohnehin, wenn sie schimpfen, lieber einer derberen Sprache, die man aus Körperteilen, Fortpflanzungsmöglichkeiten und der Ausscheidungstätigkeit formt. Damals hätte ich die unerträgliche Frau hinter mir auch mit "blöde Gans!“ erledigen können. Das habe ich aber nicht über die Lippen gebracht. Es kam mir viel zu milde vor. "Silly goose“ auf Englisch klingt so ähnlich wie "Dümmerchen“.

Egal. Ich komme heute auf diese Gedanken aus alten Zeiten, weil mir nach so vielen Jahren eingefallen ist, was die Dame mir, nach meinem "blöde Kuh“ hätte antworten können, um mich mit einem einzigen Wort außer Gefecht zu setzen: Es wäre nämlich ausreichend gewesen, wenn sie mir direkt ins Auge geschaut und mit Verachtung gesagt hätte: "Opfer.“ Ja, "Opfer“. Mit diesem einzigen Wort wäre ich – wäre jeder – absolut weg vom Fenster gewesen. Denn "Opfer“ ist immer das letzte Wort. Nur: Damals gab es dieses Schimpfwort noch nicht – zumindest nicht so, wie es heute gebraucht wird.

Röhrichs "Sprichwörtliche Redensarten“ kennt lediglich "ein Opfer sein (für jem.)“. Er definiert diese Redewendung als „gequält, ausgenutzt werden, auf zur Zielscheibe des Spottes dienen, in jem. Gewalt geraten…usw.“ Damit beschreibt er meisterhaftl, was mit dem Wort "Opfer“ gemeint ist. Doch heute wird das ganze auf zwei Silben reduziert: "Opfer“.

Seit wann es "Opfer“ in diesem Sinne gibt, weiß ich nicht. Ich habe es zum ersten Mal vor sieben oder acht Jahren von meinen Kindern gehört. Sie haben es von der Grundschule mit nach Hause geschleppt. (Wer sagt, dass man in der Schule nichts lernt?) Bis heute höre ich es unter Jugendlichen als wüste und manchmal auch spielerische Beschimpfung. Neuerdings tauchte es in einer deutschen Inszenierung der Arthur Miller Tragödie "Tod Eines Handlungsreisenden“ auf. (Die Produktion ist noch im Juni in Berlin zu sehen. Lohnt sich auch!) Es wirkt, es wirkt wirklich. Das letzte Wort, sozusagen.

Wetten, dass "Opfer“ auf der Hitliste der deutschen Schimpfwörter eines Tages nach ganz oben steigt? Das ist jedenfalls meine Vermutung. Vielleicht ist es schon so weit.

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