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Werden Sie Mitglied meines Stamms!

War es nicht Tolstoi, der einst sagte: Man braucht lediglich ein bisschen unter der Oberfläche zu kratzen, um zu konstatieren, dass alle Menschen einst Bauern waren? Ich zitiere dem Sinn nach, den Wortlaut – wie das meiste, was ich im Lauf des Lebens an Informationen gesammelt habe – habe ich längst entstellt oder vergessen.

Ich erwähne obiges Bonmot, weil ich es als Basis einer eigenen Beobachtung verwenden möchte: Kratzt man ein bisschen an jeder Menschenseele, und siehe, man entdeckt das Rudeltier, besser gesagt, das Stammesdenken der Menschen.

Ich komme auf diesen Gedanken nach einem interessanten Gespräch mit Herrn B. (aus Gründen des Datenschutzes verrate seinen vollen Namen nicht), bei dem ich täglich meine Zeitung kaufe (auch den Namen der Zeitung verrate ich nicht!). Herr B. ist gebürtiger Serbe. Ich habe ihn deshalb gefragt, ob es einen großen Unterschied zwischen der serbischen und der kroatischen Sprache gibt."Ach was“, beteuerte er, "es sind beide die gleiche Sprache. Nur: Sie bedienen sich zusehends unterschiedlicher Wörter, um als zwei Sprachen auftreten zu können.“

Sogleich fiel mir ein weiser Spruch meines seligen Professors Joseph Margolis ein, der uns Studenten vor vielen, vielen Jahren einmal erklärte: "Die Menschen sind sich so ähnlich, dass sie stets bedacht sind, ihre Unterschiede zu betonen.“

Was die Serben und die Kroaten betrifft: Sie zählten in der Tat einst zu einer Ethnie, die die Historiker als "Südslaven“ bezeichnen. Lediglich ein Zufall der Geschichte hat sie entzweit: Die eine Gruppe, die Kroaten, kam unter den Einfluss des römischen Reiches und dessen Kirche; die andere Gruppe, die Serben, geriet in den Sog der griechischen Kultur und deren Kirche. "Nationalisten“ in beiden Gruppierungen haben diese kulturellen Unterschiede zum Anlass genommen, aus einem Volk zwei zu machen. Ein klarer Fall vom Stammesdenken, besser gesagt, von der Sehnsucht nach dem "Stamm“. Was wiederum auch auf der sprachlichen Ebene seinen Nachhall hat. Denn zunehmend tauchen heute Unterschiede im Wortschatz des Serbischen und des Kroatischen auf. Aus einer Sprache werden in der Tate zwei "Stammessprachen“.

Obiges Phänomen ist auf der Welt weiter verbreitet als man vielleicht denkt. Ähnlich erging es – vielleicht sogar viel früher – den Tschechen (Westkirche) und den Slowaken (Ostkirche), deren einstige gemeinsame Sprache zunehmend auseinander driftet. Urdu und Hindi gelten als beinahe identische Sprachen. Nur: Erstere wird von pakistanischen Muslimen, letztere von indischen Hindus gesprochen. Flüchtlinge aus Nordkorea, so habe ich neulich gelesen, werden in Südkorea ausgegrenzt, weil man sie durch ihren Wortschatz als "stammesfremd“ erkennt.

Richtige "Stämme“ gibt es freilich kaum mehr auf der Welt – mit Ausnahme vielleicht weniger Völkergruppen in den Amazonas oder auf Neuguinea und diversen Pazifikinseln. Doch die Sehnsucht nach der Geborgenheit der Stammeszugehörigkeit wabert wohl noch immer in vielen Menschenherzen. In manchen Ländern – etwa Jemen, Gasa, Kongo – spielen deshalb die "Clans“ die Rolle des Stamms. In Deutschland, England, Frankreich, Holland Dänemark usw. machen sich Interessengemeinschaften zu "Stämmen“: Nazis, Hooligans, Jugendbanden (oft nach Wohngebiet oder Ethnie organisiert) usw.

Eigentlich habe ich nichts gegen die Verklanung der Menschheit. Denn sie hat auch ihr Gutes - sie vertreibt die Eintönigkeit, macht das Leben bunt. Deshalb mag ich auch so gerne Dialekte. Es ist lediglich das Kräftemessen der Stämme, was mir zu schaffen macht. Wahrscheinlich lese ich zu viel Zeitung. Herr B. braucht seine Kunden aber. Auch er muss leben.

Werden Sie Mitglied meines Stammes - des Stamm der Stammlosen!

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