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Ein paar Worte über die Sprachlosigkeit

Anlass für diese Glosse ist ein Artikel, den ich vor wenigen Tagen in der "Münchener Abendzeitung“ gelesen habe, eigentlich eine Kurzfassung eines Interviews, das Inge Jens mit der "Stern“ geführt hat.

Sinnlos fortzufahren, wenn Sie nicht wissen, wer Inge Jens ist. Sie ist die Ehefrau von Walter Jens. Noch sinnloser fortzufahren, wenn Sie nicht wissen, wer Walter Jens ist. Der inzwischen 85jährige Walter Jens war früher ein vielgepriesener Professor der Rhetorik – das heißt, der Redekunst – an der Universität Tübingen und Literaturkritiker.

Ich habe ihn noch sehr genau in Erinnerung. Er war ein toller Redner und politisch sehr aktiv. Während des Golfkriegs 1990 erhob er seine tadelnde, eloquente Stimme gegen das, was er für ein Unrecht hielt. Man hat ihn im Fernsehen oft gesehen – das war die Zeit, als es noch keine "Simpsons“ und keinen "South Park“ gegeben hatte – und man hörte ihm wirklich gerne zu. Ich habe damals stets gedacht: Walter Jens ist alles, was ich nicht bin. Damit meinte ich, er konnte druckreife Sätze sprechen. Ich dagegen war kaum in der Lage, druckreife Sätze zu schreiben! Bis heute muss ich jeden Text mindestens fünfmal umschreiben, bevor ich das Handtuch werfe und ihn aus Verzweifelung veröffentliche.

Nein, Walter Jens war ganz anders. Die Betonung liegt auf "war“. Denn nach Auskunft seiner Frau Inge Jens leidet er heute unter einer starken Demenz und kann weder druckreife noch sonstige zusammenhängende Sätze mehr hervorbringen. Der Fortschritt der Erkankung war offenbar schleichend, und für ihn, so nehme ich an, zunächst eine schwere Kränkung. Er sei, sagt Frau Jens "nach und nach entglitten“. Am Anfang habe er sogar Normalität und Arbeit simuliert. "Er ging hoch in seine Biblithek, holte Bücher raus, brachte, ohne, dass er es merkte, alles durcheinander, er saß dann vor einem Stapel Bücher, studierte aufmerksam ein Buch – aber er konnte es gar nicht lesen, denn er hielt es verkehrt herum.“

Dies ist eine traurige Geschichte – einer Tragödie gleich. Denn hier geht es um einen Menschen, der sich durch das Wort definiert hatte und nunmehr wortlos geworden ist. Heute, so habe ich gelesen, zählt zu seinen wenigen Freuden, einen Einkaufswagen selbständig durch einen Supermarkt zu schieben. Warum nicht? Auch das ist Leben.

Walter Jens ist freilich nur ein prominentes Beispiel für einen Zustand, der gar nicht ungewöhnlich ist. Mein Onkel litt an Alzheimer. Ich kannte ihn früher als einen Menschen, der wahrlich nicht auf den Mund gefallen war. Als bei ihm die Krankheit weit fortgeschritten war, hatte ich einmal Gelegenheit mit ihm am Telefon zu sprechen. Was heißt sprechen? Er war unfähig ein einziges Wort vollständig herauszubringen. Wer sich noch an Plattenspieler erinnert, weiß, wie es ist, wenn eine Plattenspielernadel über eine Schallplatte "schlittert“. So klang seine Stimme.

Der Verlust der Sprache geht nicht nur mit einer Demenz einher. Manche verlieren auch nach einem Schlaganfall die Fähigkeit zu sprechen. Dieser Zustand heißt "Aphasie“. Davon gibt es verschiedene Arten – abhängig vom Teil des Hirns, der während des Infarkts mit Blut unterversorgt wird. Insbesondere werden zwei „Sprachzentren“ im Hirn angegriffen. Das eine heißt nach seinem Entdecker "Broca-Zentrum“, das andere "Wernicke-Zentrum“. Wer unter einer "Broca-Aphasie“ leidet, vermag keine vollständige Sätze mehr auszudrücken. Er möchte "ich habe eine Pizza gegessen“ sagen, bringt lediglich "pizza gegessen“ heraus – wenn er Glück hat. Denn so einen lernten ich vor vielen Jahren in den USA kennen. Er sprach – bis zu seinem Schlaganfall – Griechisch und Englisch. Danach konnte er nur noch "uchi“, Griechisch für "nein", und "god damn it“, also "verdammt noch mal“, sagen. Eine "Wernicke-Aphasie“ ist vielleicht noch schlimmer. In diesem Fall kann man zwar noch "fließend“ reden, aber das, was man sagt, ergibt meistens keinen Sinn – oder ganz einfach, man verhackstückt die Wörter, die man artikulieren will. Aus "Schokolade“ wird, zum Beispiel, „kalovaschde“. Dieses Beispiel habe ich übrigens im Internet (http://www.ims.uni-stuttgart.de/phonetik/joerg/sgtutorial/wernicke.html) gefunden. Oft erfindet man Wörter, wenn die richtigen fehlen. Aus "Dosenöffner“ wird "Vielfertigkeitsapparat“. Eine "Wernicke-Aphasie“ ist für den Betroffenen besonders frustrierend. Denn diese Menschen sind durchaus in der Lage, vernünftig zu denken. Die Zunge macht einfach nicht mit.

Für die Hypochonder unter meinen Lesern darf ich folgendes Beschwichtigendes hinzufügen: Sollten Sie in sich hineinhorchen und selbst Anzeichen einer Aphasie feststellen, seien Sie unbesorgt. Ihr Kopf ist ganz bestimmt in Ordnung. Das Hirn ist selten ein perfekt funktionierendes Instrument.

Über Sprache und Hirn gibt es noch einiges mehr zu erzählen. Aber ein anderes Mal.

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