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Die Wolfskinder nebenan

Über Joseph Fritzl kann man keine Witze machen. Falls Ihnen dieser Name noch nicht geläufig ist: Er ist der "Joseph F.“ der Presseberichte der letzten Tage, der Mensch aus dem biederen österreichischen Amstetten, der die eigene Tochter 24 Jahre als Sexsklavin in einem unterirdischen Verließ eingelocht hatte…Ich brauche hier die Geschichte nicht in allen Details zu erzählen. Sie ist allgemein bekannt.

Den "Evil Dad“, den bösen Papa, nannte ihn die englische Boulevardzeitung "The Sun“ in einem Artikel, dessen Überschrift meine Aufmerksamkeit auf sich zog: "Monster Fritzl’s 'Animal’ Children“: die "Tierkinder“ des Monsters Fritzl also.

Stichwort "Tierkinder“. Da ich vor ein paar Jahren ein sehr ausführliches Buch über das Phänomen der sogenannten "Wolfskinder“ geschrieben habe, weiß ich, dass Menschen, die lange in der Isolierung gelebt haben, häufig unter einer Sprachbehinderung leiden – manchmal bis hin zu einer totalen Verstummung.

Das gilt jedenfalls für den Einzelmenschen. Die Fritzl-Familie bildete immerhin eine isolierte Gruppe, wobei sich Elisabeth Fritzl sehr bemühte, ihren Kindern Deutsch beizubringen und sogar das Lesen und Schreiben. Außerdem hatte ihnen der "Evil Dad“ einen Fernseher und ein Radio zur Verfügung gestellt – keine Bücher allerdings. Hatte die lange Isolierung trotzdem eine Wirkung auf die Sprachfähigkeit dieser Menschen – vor allem der Kinder?

Die Antwort scheint ja zu lauten. Nach den ersten Berichten haben alle der Befreiten einen sehr reduzierten Wortschatz. Das Sprechen strenge sie regelrecht an, berichtete ein CNN-Reporter. Ein Ortspolizist, Leopold Etz, behauptet, die Kinder würden sich "anhand von Geräuschen, die eine Mischung aus Knurren und Gurren“ verständigen. Das ist meines Erachtens nachvollziehbar. Der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen erzählte 1904 von Zwillingsknaben, die bei einer taubstummen Frauen außerhalb Kopenhagen erzogen wurden. Die Kinder hatten mangels Sprachgelegenheit eine eigene Sprache – nur zum Teil mit dem Dänischen verwandt – erfunden.

Mir kam ebenfalls Kaspar Hauser in den Sinn. Dieser 1812 geborene Sohn des badischen Großherzogs Karl wurde kurz nach seiner Geburt aus Gründen der Thronfolgepolitik heimlich aus dem Palast in Karlsruhe weggeschafft. Er verbrachte die nächsten Jahre seiner Kindheit an verschiedenen Orten, durfte zunächst offenbar ganz normal entwickeln. Dann wurde er aus dieser Normalität jäh herausgerissen und aus obskuren Gründen in einem dunklen fränkischen Palastverließ eingesperrt. Die Länge seiner Gefangenschaft ist umstritten. Möglicherweise waren es aber zehn Jahre. Mit 17 Jahren wurde er – wieder aus obskuren Gründen – freigelassen und auf einer Nürnberger Straße abgesetzt. Da er lange Jahre kaum mehr ein Wort gesprochen hatte, war er beinahe verstummt. Es dauerte mehrere Monate, bis er wieder sprechen lernte.

Ebenfalls fiel mir Alexander Selkirk ein. Dieser hitzköpfige schottische Matrose wurde 1704, nachdem er sich mit einem Schiffskapitän, angelegt hatte, auf eine isolierte Insel westlich von Chile mit ein paar Büchern (unter ihnen einer Bibel) und einigen Vorräten ausgesetzt. Der alleingelassene Selkirk hatte während der nächsten vier Jahre nur wilde Ziegen zur Gesellschaft. Als er 1709 durch einen Zufall aus seiner misslichen Lage gerettet wurde, konnte er Wochen lang nur noch unvollständig stammeln.

Sie sehen: Das Sprechen erfordert die ständige Übung auch für diejenigen, die es schon können. Nun wird die gemarterte Familie-Fritzl also wieder fleißig üben müssen.

Was den "Evil Dad“ betrifft: Man hat beim besten Willen kaum Worte, um ihn auch nur annähernd zu beschreiben.

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