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Ein Narrativ übers Narrativ

Ich bilde mir ein, dass der Sprachbloggeur als Quelle sprachlicher Neuigkeiten dient. Und deshalb hatte ich mich neulich entschlossen, über den Begriff „Narrativ“ zu berichten.

Und was erfahre ich? Dass ich längst den Kollegen hinterherhinke! Und Sie? Zählt das „Narrativ“ zu Ihrem aktiven Wortschatz? Falls nicht, dann sind Sie an der richtigen Stelle gelangt, um eine Wissenslücke zu füllen. Denn es ist nicht mehr zu leugnen: Wir leben im Zeitalter des „Narrativs“.

Schon 2017 erschien ein Text zu diesem Thema in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Autor, Tobias Kniebe, etikettierte „Narrativ“ als „Modewort“. Vor ihm, also 2016, hatte auch der Journalist Matthias Heine in der „Welt“ das „Narrativ“ als „Modewort“ beschrieben. Sie sehen: Dieses Wort brodelt seit einiger Zeit im dt. kollektiven Unterbewusstsein.

Auch meine Entscheidung übers „Narrativ“ zu schreiben, ist wohl ein Ausdruck dieses Impulses. Denn Fakt ist: Das „Narrativ“ ist wohl ein Ausdruck des Zeitgeists.

Aber nun endlich zum „Narrativ“ selbst: Das Wort ist ein Neutrum, ein „das“, und wird vom lateinischen „Narrativum“ hergeleitet.

„Narrare“ bedeutet auf Lateinisch „erzählen“. „To narrate“ ist auf Englisch eine ganz normale Vokabel im Sinne von „erzählen“. Derjenige in einem Roman, der die Geschichte erzählt, ist der „narrator“. Man könnte das, was er (oder sie) tut eine „narration“ nennen. Womöglich wurde das Wort auch in der dt. Literaturkritik schon lange so verwendet.

Seit 1979 ist ums „Narrativ“ viel Neues geschehen. Denn in diesem Jahr benutzte ein französischer Philosoph namens Jean-François Lyotard diesen Begriff in einem Buch übers „Postmoderne“ und zwar in einem ganz neuen Sinn.

Nebenbei: Lustiger Begriff „Postmoderne“! Mittlerweile klingt er altbacken, zumal wir heute wahrscheinlich im Postpostmodernen…oder gar Postpostpostmodernen leben.

Mein Gott! Ich habe so viel geschrieben und immer noch nicht verraten, was ein „Narrativ“ Lyotard zufolge ist! Wir lassen jetzt Wikipedia für uns reden. In einem ausführlichen Eintrag über dieses Thema wird das „Narrativ“ als eine „sinnstiftende Erzählung“ definiert. Will heißen: Etwas wird erzählt, damit der Zuhörer es auf eine gewisse Weise versteht und deutet.

Kommt dies Ihnen bekannt vor?

Das macht zum Beispiel Putin momentan. Ihm zufolge darf der blutige Angriffskrieg, den er vom Zaun gebrochen hat, nicht als Krieg bezeichnet werden. Wer dies in Russland tut, wird sogar vors Gericht geholt. Man erzählt lieber von einer „Sonderoperation“. Darüber hinaus bezeichnet man den Feind als Nazi und die Toten in Butscha als Schauspieler. Sie sehen: Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel für ein „Narrativ“.

Hat auch Hitler am 1. September 1939 gemacht, als die Wehrmacht in Polen „zurückgeschossen“ hat. Das tut man auch, wenn man behauptet, dass die Sklaverei eine Erfindung von bösen Weißen ist, um die Schwarzen – oder neuerdings die „P.O.P. („people of color“) zu unterdrücken.

Klar: Es ist nicht schwer zu verstehen, was ein „Narrativ“ ist. Man könnte es als Deutungshilfe beschreiben. Fest steht jedenfalls: Beispiele von „Narrativen“ gibt es wie der Sand im Haar.

Nur: Wie hat man dieses Phänomen früher ausgedrückt? Hmm. Darüber muss ich nachdenken. Vielleicht etwas wie „Faktendeutung“ oder „Propaganda“. Nein, es muss etwas anders gegeben haben. Falls aber nicht, dann haben wir endlich den passenden Begriff!

Aber nun habe ich für heute genug erzählt. Falls Ihnen der Begriff „Narrativ“ gefehlt hat, haben Sie nun bestimmt genug davon.

In eigener Sache: Nächste Woche keine Glosse. Bin auf Geheimmission.

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