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Mein Syndromsyndrom

Grundsätzlich habe ich nichts gegen Menschen, die in Unordnung leben. Auch ich zähle zu ihnen. Das wird jeder bezeugen, der das kreative Chaos meines Schreibtisches kennt. Mich stört nur all das, was sich seit ca. 1980 "Syndrom“ nennt.

Erst gestern habe ich von "Messies“ erfahren. Falls Ihnen dieser Begriff schon bekannt ist, dann bitte ich Sie, mir meiner Ignoranz zu verzeihen. Mir sind die "Messies“ bisher irgendwie durch das Raster gefallen. Man kann nicht alles wissen. Man kann nicht einmal wissen, dass man selbst ein "Messie“ ist oder dass man unter irgendeinem "Syndrom“ leidet, so lange man nicht über den geeigneten Wortschatz verfügt.

Wie so oft bin ich auch diesmal der Münchner "Abendzeitung“ für die nötige Aufklärung zu Dank verpflichtet.

Nun weiß ich, dass die "Messies“ die Wahrnehmung ihrer Identität einer weitsichtigen amerikanischen Pädagogin namens Sandra Felton verdanken. Nachdem sie das Chaos ihrer eigenen Wohnung (oder ihres Lebens?) als Problem erkannt hatte, verfasste sie Anfang der 80er Jahre "The Messies Manual“, Handbuch für Schlamper also. Ein brillianter Schachzug, meines Erachtens. Eigene Probleme (wenn es sich hier überhaupt um ein Problem handelt) in ein profitables Geschäft zu umwandeln, ist eine Kunst. Hut ab, Frau Felton.

Das "Messies Handbuch“ war die erste von mittlerweile mehreren Veröffentlichungen der Autorin. Sie ist kopfüber in die Marktlücke gefallen, als hätten abermillionen Menschen auf ihre klare Stimme gewartet, um die eigene Unordnung begrifflich zu erfassen, ja zu heiligen. Nebenbei: "Heiligen“ ist in diesem Zusammenhang keine schlechte Wortwahl. Denn das englische "mess“, also "Unordnung“, und die "Messe“ werden beide vom lateinischen Partizip "missus“, "gesandt“, abgeleitet.

Ja, endlich kommen die "Messies“ auf ihre Kosten. Immerhin: In meinem "Random House Webster’s College Dictionary“ aus dem Jahr 1991 findet man noch keinen Hinweis auf diese Vokabel. Heute steht sie sogar im neuen "Duden Universal Wörterbuch“ als denglischer Importschlager.

Nach Auskunft der "Abendzeitung“ zählt man in Deutschland um die 1,8 Millionen "Messies“. „Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher sein“, so heißt es anschließend.

Doch das Beste zum Schluss: Für diejenigen, die unter dem "Messiesyndrom“ leiden, gibt es auch Hoffnung. Unter Stichwort "Messie Selbsthilfe“ googelte ich 13.800 Treffer, ein Zeichen , dass das „Syndrom“ von vielen Hilfe Bietenden sehr ernst genommen wird.

Dennoch: Gerade der Gebrauch des Wortes "Syndrom“ ruft mich in diesem Zusammenhang auf den Plan. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, hat man diesen Begriff vor 1980 nur im esoterischen Bereich der Medizin im Sinne von "Symptomenkomplex“ gehört. Wir wissen aber, was passiert ist: Das Zeitalter der populären Psychologie brach um diese Zeit an. Sandra Felton und zahlreiche andere Zeitgenossen stießen auf immer neue, gewinnbringende Symptomenkomplexe.

Übrigens: Ich zweifele nicht, dass es Menschen gibt, die wirklich krankhaft unter der eigenen Unordnung leiden. Ich denke, zum Beispiel, an Jean. Den hatte ich 1976 kennengelernt. Er hat mir Frischling in der deutschen Sprache damals den Gebrauch des Wortes "immerhin“ – oder war es "ohnehin“? – beigebracht. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Damals habe ich von seinem großen Problem allerdings nichts gewusst. Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass er zwanghaft Zeitungen sammelte, bis man sich nur über schmale Wege durch seine Wohnung bewegen konnte. Er wurde eines Tages entweder durch eine Zeitungslawine erdrückt oder fiel in seinem „mess“ einfach tot um. Ich weiß es nicht mehr. Im Fall von Jean hätte ich das Wort "Messie“ ohnehin durch andere, vielleicht noch treffendere Wörter ersetzt. Ich hätte gesagt: Jean leidet unter ernsthaften seelischen Problemen.

Doch die Zeitungen, die Verlage und natürlich auch die Pharmaindustrie lieben schon lange die "Syndrome“. (Denken Sie ans "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“). Ich fürchte, dass sich meine einsame klagende Stimme allmählich wie die eines unverbesserlichen Grantlers anhört. Ob ich vielleicht unter einem "Grantlersyndrom“ leide? Wäre immerhin nicht schlecht für meine Rentenkasse.

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