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Gespräch mit einem Ohrwurm

Falls Sie zart besaitet sind, wird vorgewarnt: Was nun folgt, könnte schwer verdaulich sein – zumindest Teile davon.

Es geht um einen Ohrwurm (lat. Dermaptera). Vom Standpunkt unserer Ästhetik und Formempfindung sehen diese Tierchen nicht gerade schönheitswettbewerbspreisverdächtig aus. Im Gegenteil:

Etwa zwei Zentimeter lang, schmal, bräunlich, vorne mit zwei steckenden Fühlern und hinten mit einem zweiteiligen Schwanz, der wie eine Zange aussieht, ausgestattet. Man bildet sich rasch ein, der Ohrwurm könnte mit dem Schwanz zwicken wie ein Skorpion. Oder man denkt: Vielleicht sind die Viecher giftig.

Obendrein: Die Biester schlängeln durch die Weltgeschichte wie Dämönchen aus einer mittelalterlichen Höllendarstellung.

Sie heißen Ohrwürmer, weil man früher behauptet hat, dass sie nachts einem Schlafenden ins Ohr krochen, um ihre Eier zu legen, wovon später tausende solche Kreaturen aus dem Ohr flutartig herauswimmelten.

Stimmt nicht. Falls sich ein Ohrwurm tatsächlich ins Ohr verirrt, handelt es sich um eine Ausnahmeerscheinung. Warum ein Lied, das man nicht mehr aus dem Kopf bekommt, als Ohrwurm bezeichnet wird, vermag ich nicht zu erklären.

Auf Englisch heißen diese unappetitlichen Viecher „earwigs“. „Ear“ ist easy zu verstehen, da es „Ohr“ bedeutet. „Wig“ leitet man von einer angelsächsischen Vokabel „wicga“ ab, das mit „Insekt“ zu übersetzen ist. Wahrscheinlich haben die Altengländer „witscha“ gesagt. Das Wort ist übrigens sprachgeschichtlich mit „beWEGen“ verwandt. Auf Englisch kennt man – auch heute – das Verb „wiggle“, im Sinne von „wackeln“. Wahrscheinlich sind „wiggle“ und „wackeln“ mit dem „-weg-“ in „bewegen“ – und mit „Wiege“ verwandt.

So weit so gut. Bisher habe ich Ihnen das Unappetitliche weitgehend erspart. Aber equal goes it loose…

Letzte Woche gab es bei mir zum Frühstück Müsli mit frischem Obst. Mmmm. Haferflocken, Blaubeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Erdbeeren, Banane und Aprikosen. Alles (mit Ausnahme der Haferflocken und der Banane holte ich aus dem Kühlschrank – auch die Milch, die ich der Mischung beigab.

Beim Essen saß ich gemütlich vor dem Rechner und schaute gestreamte Nachrichten. Zwischendurch löffelte ich träumerisch ein Häppchen Müsli in den Mund. Als ich einmal kurz auf die Schüssel blickte, nahm ich eine Bewegung wahr. Etwas schien an einer Himbeere zu kleben und wippte sich hilflos. Es war ein Ohrwurm.

Meine erste Reaktion war spontan nach hinten zu springen, gefolgt von einem genauen Hinschauen. Tierischer Instinkt halt. Nun erblickte ich das kleine Tierchen, das ganz mit Milch durchtränkt war. Es klammerte an der Himbeere wie an einem Rettungsring.

Dies stellte ich allerdings erst im Nachhinein fest. Zunächst war ich nur von Ekel gefüllt. Weshalb ich mich schnell erhob und festen Trittes mit Schüssel in Hand in die Küche ging, um den Inhalt des Löffels samt Ohrwurm in den Spülbecken zu klatschen.

Leider habe ich die Stimme des Tierchens nicht wahrgenommen, obwohl wir eigentlich ein Gespräch führten. „Was hast Du vor?“ fragte der Ohrwurm sichtlich verstört.

„Ich werde dich töten“, antwortete ich.

„Du kennst mich aber nicht!“

„Gerade deshalb“, antwortete ich. „Du ekelst mich an.“

„Und was meinst du, was ich empfinde, wenn ich dich sehe? Für solche wie mich erscheinst auch du recht ekelig: ein großer Klotz halt. Ich bevorzuge lieber die Gesellschaft der eigenen. Es sind schlanke, anmutige Wesen…“

„Warum heißen bei uns Lieder, die nicht aus dem Kopf gehen wollen, Ohrwürmer?“

Ich stellte die Frage, aber ich wartete nicht auf die Antwort. Denn ich hatte bereits ein Stück Küchenrolle geholt und das Tierchen fest damit zerdrückt. Als ich aufs zerknautschte Papier schaute. hat sich das Tier noch bewegt.

„Dummkopf“, sagte es mir. „Gerade wollte ich dir mein Geheimnis lüften.“ Doch schon hatte ich bereits ein zweites Mal fest gedrückt und den Batzen in die Küchentonne geworfen.

Vielleicht möchten Sie wissen, was ich mit dem Rest meines leckeren Müslis getan habe. Ganz einfach. Ich habe es gegessen. Wie man sagt: Ein Ohrwurm macht noch keinen Sommer…bzw. Herbst.

Erst im Nachhinein habe ich gedacht: Vielleicht wäre es gerechter gewesen, wenn ich das Ohrwürmchen einfach auf den Balkon in die Freiheit entlassen hätte. Andererseits, wer weiß? Vielleicht wäre ein Vogel gekommen, der das Tierchen gleich schnabuliert hätte.

Gemein kann die Natur sein…und grausam obendrein.

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