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Vom geschulten und ungeschulten Ohr

Hat der Mensch einen sechsten (oder gar einen siebten?) Sinn, wenn es darum geht, mit nur wenigen Anhaltspunkten Landsleute aus der Menge zu erkennen?

Gestern kam es mir so vor, als ich auf dem Weg zum Einkaufen war. Zwei Menschen, ein dunkelhaariger Mann mit Brille, vielleicht mittedreißig, und eine Frau, eine junge Asiatin, die bis zu seinen Schultern reichte, kamen mir entgegen. Etwa zehn Meter trennten uns. "O-o-o-o-o-u-u-u-u-u!“ rief der Mann aus, und ich glaubte in dem Augenblick in diesem Laut etwas Vertrautes wahrzunehmen: Das "O-o-o-o-o-u-u-u-u-u“ kam mir schlichtweg amerikanisch vor.

Was brachte mich auf diese Idee? Ganz einfach: Der englische – bzw. amerikanische – Ausruf "Ooooh!“ ist, wenn man genau hinhört, kein einfacher Vokal wie im Deutschen, sondern ein Doppelvokal, ein "O-o-o-u-u-u“

Es folgte sogleich die Bestätigung: Ich erfasste ein Bruchstück aus der Unterhaltung. Der Mann sprach übrigens Deutsch: "Du ma-inst all-so-u die Froindin von…“, sagte er. Ich versuche mit obiger Schreibweise die amerikanische Vokalfärbung wiederzugeben. Das "meinst“ hat, Amerikanisch gesprochen, nämlich wenig mit dem klaren vokalischen Peitschenschlag der deutschen Vokabel gemeinsam. Auch das "Freundin“ klingt knapper, wenn es im deutschen Mund geformt wird. Zum Vergleich: Der Amerikaner dehnt und rundet den Vokal genusslich aus – in Nachahmung freilich der heimischen Laute. Das "A“ des "also“ ist im Amerikanischen kurz zu sprechen, das "O“ als Diphthong. Und nicht zu vergessen: Der Unterschied zwischen dem kehlautigen (bzw. zungenflatternden) deutschen "R“ und dessen englischen (bzw. amerikanischen) Pendant, dem berühmten "Kaugummi-R“, ist erheblich. Nebenbei: Für Deutsche ist das viel verspottete amerikanische "R“ alles anders als einfach auszusprechen. Mandarinchinesen sind hier im Vorteil. Sie haben den gleichen Klang in ihrer Sprache.

Klar, dass ich die endgültige Bestätigung für meine Vermutung bekam, als ich obigen Satz vernahm, und sehr erfreut war, dass mein Sprachradar noch funktionierte (und dass ich noch immer in der Lage bin, den Amerikaner aus der Menge herauszupicken). Ein weiterer Gedanke fiel mir erst hinterher ein: Ein Deutscher hätte in diesem Zusammenhang weder "O-o-o-o-u-u-u!“ noch "O-o-o-o!“ ausgerufen, sondern ein sekundenlanges, nach oben strebendes aber dennoch trockenes "A-a-ah!“ So unterschiedlich sind ja die Sprachen.

Nicht alle Menschen verfügen über ein funktionierendes Sprachradar. Vielleicht hören sie einfach nicht hin. Ich wartete einmal vor vielen Jahren in einer U-Bahn-Station in München auf den Zug. Eine Frau setzte sich neben mich auf die Bank und fragte etwas verlegen – auf Englisch – nach dem Weg. Ich antwortete– so kam es mir jedenfalls vor – in perfekten englischen Sätzen. Sie bedankte sich und fügte nach kurzer Bedenkzeit hinzu, "Übrigens, you speak excellent English.“ Wie habe ich darauf reagiert? Ganz klar: "Thank you“, antwortete ich.

Das war nicht das einzige Mal, dass ich in München solche Komplimente von Amerikanern ob meiner Englischkenntnisse erhalten habe. Jedesmal habe ich mich dafür bedankt, ohne dass ich das Bedürfnis hatte, meine Lebensgeschichte vorzutragen.

Immerhin: Wie oft wird man im Leben gelobt? Man soll sich immer freuen, auch wenn es heißt, man spreche die eigene Muttersprache schön.

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