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Über Sokrates, Strumpfetten und Y.s „Party“

Y. hat mich gebeten, einen Blog zu schreiben, einen, den ihn aus den Socken hauen soll.

Er werde wissen, meinte er, dass es sich um besagten Blog handele, wenn ein Codewort, das er sich spontan ausdenke, im Text zu lesen sei. Dieses Codewort laute „Party“. Meinetwegen.

Y. ist fünfzehn und genießt eine humanistische Ausbildung. Eine Seltenheit heute. Er nennt mich „Herr Sprachbloggeuuuuur“. Die letzte Silbe dehnt er lange und mit deutlicher Missachtung aus. Ich erwarte es von ihm nicht anders. Ich wünschte, ich wäre in seinem Alter so schnodderig gewesen. Ich glaube, ich hab diesen Gedanken schon mal auf dieser Seite geäußert. Na ja, zweimal hält besser. Die Verwirklichung dieses Wunsches wäre für mich in seinem Alter unmöglich gewesen. Dafür zweifelte mein Vater zu sehr an sich selbst, um mir eine solche freie Entfaltung zu erlauben. Schnodderigkeit hätte er als Angriff auf seine welkende Autorität gedeutet.

Anders Y.s Vater, den ich lange und sehr gut kenne und schätze, ist hingegen ziemlich exzentrisch und vor allem seiner Sache sicher. Er hält es für seine Pflicht, seine Kinder (Y. hat eine Schwester - auch sie ist lustig) austoben zu lassen. Das halte ich ihm sehr zugute.

Doch Y. aus den Socken hauen? Ich? Völlig unmöglich. Er gehört der Generation Jugendlicher an, die es für stilecht hält - auch im Winter - keine Strümpfe zu tragen. Aus welchen Socken soll ich ihn denn hauen?

„Ja, natürlich trag ich Strümpfe“, kontert Y.

Damit meint er aber Strumpfetten, diese reduzierten Stoffdinge, die man zwischen Fuß und Schuh unsichtbar einbettet.

Manchmal seh ich auf der Straße Erwachsene - bzw. Jungerwachsene -, die im Winter so rumlaufen - wie Y. und seine Freunde es tun. Da denk ich… Das ist peinlich.

Ach, grad fällt mir ein: Gestern auf meiner Morgenrunde traf ich auf einen älteren Herrn - d.h. so einen Weißhaarigen wie mich. Er hatte enge Jeans an, so eng, dass ich mir Sorgen um seine Prostata gemacht habe. Hätte er sich in Kreisen gedreht, sähe er aus wie ein Kreisel, hab ich gedacht: oben breit und unten spitz (denn an den Füssen trug er obendrein spitze Schuhe). Nach dieser Begegnung hab ich feierlich geschworen: Nie wieder werde ich etwas anziehen, das meinem Alter nicht entspricht. Tu ich ohnehin nicht. Bin halt selbst ein Exzentriker wie Y.s Vater.

Weshalb ich weiß, dass auch Y. eines Tages aufhören wird, im Winter Strumpetten zu tragen.

Sie sehen, liebe Leser, heute grübele ich irgendwie übers Alter, ein Thema, das Y. ganz bestimmt nicht aus den Socken hauen wird. Aber so what.

Nebenbei: Vor ein paar Tagen war ich auf einer Veranstaltung, wo auch Y. und sein Vater waren. Ich hab mich mit Freunden unterhalten und erblickte Y., der gegenüber von mir saß, kurz aus dem Augenwinkel. Er war ganz ruhig und dachte offenbar nach. Plötzlich nahm ich etwas wahr, was er mit Sicherheit noch nie wahrgenommen hat: Ich habe seine künftigen Gesichtszüge erkannt, für die Zeit, wenn er vielleicht 25 oder 30 sein wird. Es war interessant, ihn ganz kurz als Erwachsenen zu ertappen und vorzustellen. Er sah interessant aus. Er selbst könnte heute ewig in den Spiegel schauen und würde nie das sehen, was ich zu Auge bekommen habe.

Ich habe oben erwähnt, dass Y. das humanistische Gymnasium besucht. Er lernt Griechisch und hat zu mir frei nach Sokrates „oida ouden eidos“ vorgeplappert. Dieses Zitat wird üblicherweise mit „ich weiß, dass ich nichts weiß“ übersetzt. Nette Idee, aber leider ein falsches Zitat, auch wenn viele anders denken. Fakt ist: Platon legte Sokrates einen anderen Satz „oida ouk eidos“ in den Mund, was bedeutet - wörtlich: „Ich weiß als nicht Wissender“ bzw., „ich weiß, nicht wissend“.

Ich meine, dass diese Art nicht zu wissen anders ist als das Wissen, dass man nichts weiß.

Das teil ich Y. hiermit mit und halte diese Aussage für viel sinnvoller als „Party“. Es ist mir egal, ob ich ihn damit aus den Strumpfetten haue oder nicht.

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