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Onkel Ben und die Sprache der Toten

Hab ich Ihnen von meinem Onkel Ben erzählt? Fürs amer. Ohr klingt der Name irgendwie lustig. Jeder Amerikaner kennt „Uncle Ben’s Rice“ (leider mit mir nicht verwandt). Hat fürs amer. Ohr einen Klang wie „Dr. Oetkers Wackelpudding“. Wer Ötkers heißt, weiß wovon ich rede.

Aber zurück zu meinem Onkel Ben. Einmal hatte er einen massiven Herzinfarkt und lag tagelang in Koma.

Damals - ca. 1980 - hatte man ihn nicht in ein „künstliches Koma“ versetzt, wie man es heute tut. Ich weiß nicht, ob es damals das künstliche Koma gegeben hat. Onkel Ben war einfach weg. Er schwebte zwischen dieser und jener Welt…

…und er hat’s überlebt.

Einige Monate später war ich in New York und hab ihn besucht. Er war damals Anfang siebzig.

Onkel Ben war das, was man als schwerer Junge bezeichnen würde - damals wohl a.D. Mein Vater sagte über ihn: Erst haute Onkel Ben, dann stellte er Fragen. So einer war er Zeit seines Lebens und ist deshalb aus der Schule geflogen. Meinem Vater zufolge, wollte Onkel Ben seinen kleinen Bruder (meinen Vater) vor einem gewalttätigen Lehrer in Schutz nehmen.

Er betrat das Klassenzimmer, so jedenfalls die Familienlegende, und verpasste dem Lehrer einen derart festen Kinnhaken, dass dieser über seinen Schreibtisch flog.

Als sich Onkel Ben in den 1950er Jahren die Idee hatte, mit Bermuda-Shorts öffentlich zu flanieren (damals waren kurze Hosen für erwachsene amer. Männer keine Alternative), hat ihn ein Fremder auf der Straße ausgelacht. Was machte Onkel Ben? Er schlug natürlich zu. Auch dies eine Familienlegende (ich hab sie aber selber von Onkel Ben gehört).

Dreimal hat er geheiratet. Immerhin hat er beim dritten Mal Glück in der Ehe gefunden- zumindest mehr oder weniger. Ich vermute, dass er nicht ganz unschuldig war, dass seine Ehen in die Brüche gingen.

Als Geschäftsmann setzte er sich stets hohe Ziele. Mehrmals stampfte er große Kaufhäuser aus dem Boden. Damals gab es die großen Kaufhausketten noch nicht. Mein Cousin behauptet, dass Onkel Ben das Zeug hatte, hoch hinauf zu steigen. Doch irgendwie hat ihm sein Jähzorn immer einen Strich durch die Rechnung gezogen. Seine Geschäfte gingen eins nach dem anderen - ähnlich seinen Ehen - in die Brüche.

Ich habe Onkel Ben nach seinem massiven Herzinfarkt besucht. Es ging ihm wieder sehr gut, er sah großartig aus. Wir trafen uns in einer Kneipe in Astoria im Stadtteil Queens in New York, und er bestand darauf, mir eine 20 Dollarnote in die Tasche zu stecken. „Kauf dir was.“

Onkel Ben erzählte mir ausgiebig von seinem Herzinfarkt und dass er tagelang in Koma gelegen hatte.

Das hat mich neugierig gemacht. „Hast du im Komazustand geträumt?“ hab ich ihn gefragt. Da war ich wirklich gespannt.

„Ja, und wie“, antwortete er und erzählte mir von seinen Komaträumen. Er sei in einem großen Raum gewesen. Es war wie auf einer Bühne. Auf einer Seite war eine Treppe, die irgendwohin führte. Vielleicht war es eine Wirtschaft, was er beschrieben hat. Dort passierte jedenfalls die tollsten Dinge: viel Singen, viel Tanzen. Wild und aufregend alles. Und man wollte unbedingt, dass auch er daran teilnehme. Er habe aber keine Lust gehabt, sagte er mir, und fühlte sich vielmehr wie ein Zuschauer, ein Außenstehender, der nicht dazu gehöre. „Immer wollte ich heim“, sagte er mir. „Die Leute baten mich inbrünstig bei ihnen zu bleiben. Sie zerrten an mir, sie versprachen mir Sachen. Ich wollte aber nichts, auch wenn es dort eigentlich ziemlich lustig zuging.“

Leider hab ich viele Details seiner Erzählung vergessen. Was ich zitiere, gibt Ihnen aber eine Vorstellung davon, was er erlebt hatte.

Und noch schlimmer. Es fiel mir damals nicht ein, ihn etwas anders zu fragen: „Onkel Ben, was habt ihr dort für eine Sprache geredet?“

Schade, dass ich diese Frage nicht gestellt habe. Denn ich bin überzeugt, dass sie kein Englisch gesprochen haben. Ich bin überzeugt, dass sie eine Sprache geredet haben, die jeder versteht - egal woher er (oder sie) kommt: die Sprache der Toten. Jeder kennt sie. Keiner vergisst sie. Niemals. Leider hab ich Onkel Ben nicht gefragt.

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