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Lies!

Hand aufs Herz. Was sagt Ihnen obiges Titelwort? Es lässt sich nämlich – meiner Meinung nach – in unserer multikulturellen Umwelt zweierlei deuten. Gestern stellte ich A. diese Frage. Sie antwortete spontan: „Na, ganz klar. Das ist vom Wort ‚lesen‘. Man wird aufgefordert, etwas zu lesen.“

A. hat recht. Es handelt sich tatsächlich um die Befehlsform des Verbs „lesen“.

Aber nicht nur: Das Wort könnte ebenso die Mehrzahl des englischen „lie“, also „Lüge“ sein.

Ich komme darauf, weil ich vor ein paar Tagen im Spiegel-Online auf ein Foto stieß, worauf ein bärtiger Mann mit Kopfbedeckung und loser, weißer Bekleidung dargestellt wurde. Er stand neben einem Poster, auf dem in großen Buchstaben das Wort „Lies!“ zu sehen war.

Man erkennt ihn vermittels seiner Kluft als „Islamist“. Ein komisches Wort, mit dem ich mich lange nicht angefreundet habe. Sagt man „Christist“? Besser wäre, ihn als „islamischer Fundamentalist“ zu bezeichnen. Auch christliche, jüdische, Hindu usw. „Fundamentalisten“ gibt es.

Den Begriff „Fundamentalist“ versteht ohnehin jeder. Es sind Menschen, die ihre heiligen Bücher sehr wörtlich deuten.

Aber zurück zum Poster. Ich sah einen Menschen, der mir zweifelsfrei als islamischer Fundamentalist vorkam, neben einem Poster stehen, auf dem das Wort „Lies!“ zu lesen war, und ich habe das Wort als englische Vokabel verstanden. Er will sich gegen die Lügen der westlichen Zivilisation auslassen, dachte ich. Tja. Wäre nichts Neues.

Ich bin wie viele Menschen, die in einer fortschrittlichen Schreibkultur groß geworden sind. D.h.: Ich lese das Kleingedruckte allzu selten. Nur das groß gedruckte „Lies!“ machte auf mich Eindruck. Erst im Nachhinein las ich die Nachrichtenüberschrift oberhalb vom Bild. Es ging darum, dass Salafisten diverse Journalisten bedroht hätten. Die Gründe dafür waren in der Überschrift nicht klar ersichtlich. Ich klickte also neugierig auf den Hypertext, um mehr im Artikel zu erfahren. Nun las ich, dass diese sogenannten „Salafisten“, also „Fundamentalisten“, dabei waren, 25 Millionen Ausgaben des muslimischen heiligen Textes, des Koran, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz unter das Volk zu bringen und dass sie Journalisten, die dieses Vorhaben kritisierten, bedroht hätten. Eine beachtliche Bücherauflage, dachte ich. Über die Qualität der Übersetzung und über die Kommentare weiß ich freilich nichts.

Erst jetzt schaute ich etwas genauer auf das Bild, und endlich visierte ich das Kleingedruckte. Der Gesamttext lautete: „Lies! Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat.“ Aha! dachte ich. Denn es fiel mir nämlich ein, dass ich dieses Zitat irgendwoher kenne. Schnell schlug ich in meiner Koranausgabe nach und wurde fundig: Es handelt sich um ein Zitat aus Sura 96, einer der kürzesten Suren in dem Buch. Falls Sie es nicht wissen: Der Koran ist nach der Länge der Abschnitte (genannt „Suren“) und nicht nach Thematik oder Chronologie organisiert. Die kürzesten Abschnitte befinden sich also am Schluss. Sura 96 gehört übrigens zu den zeitlich frühesten Texten dieser Sammlung und wird oft mit einer netten Legende in Zusammenhang gebracht, die besagt, dass der Engel Gabriel (in der arabischen Sprache „Dschibril“ genannt ) Muhammed aufgefordert hat zu lesen. Damit ist gemeint, er sollte seine Texte laut vortragen. Muhammeds schüchterne Antwort laut der Legende: „Ich kann aber nicht lesen“, eine Repartie, die an Mose erinnert, der, als er den göttlichen Befehl bekam, Pharao nahezulegen, die hebräischen Sklaven zu befreien, antwortete, er sei kein Redner.

Wie dem auch sei. Eine nette Geschichte, und auf sie wird womöglich das „Lies!“ auf dem Poster dieser Koranverteilenden bezogen.

Dennoch meiner Meinung nach eine ungünstige Textauswahl für die Werbung. Und zwar deswegen, weil diese Fundamentalisten an den Büchertischen durch ihre Bekleidung ausgesprochen fremdartig wirken. Somit kann man aus der Ferne, die Aufforderung zum Lesen leicht in die falsche Kehle bekommen, so wie es mir passiert ist.

Glauben Sie mir: Ich stehe nicht allein da mit diesem Gedanken. Ich kenne auch andere, die den gleichen Fehler gemacht haben wie ich. Hätten die Fundamentalisten ein lokal angepasstes Aussehen gehabt, würde man nie auf diese Doppeldeutigkeit kommen. So schnell entstehen die Missverständnisse auf dieser Welt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Kritik gilt nur der Möglichkeit, dass man diesen Poster aus der Ferne falsch deuten könnte. Gegen die Verteilung von Korantexten habe ich hingegen grundsätzlich keine Einwände und freue mich darauf, im Namen der Gleichberechtigung auch mal Bibel in Saudi Arabien, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Jordanien usw. zu verteilen.

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