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Jung sein: Drei schreckliche Geschichten

In Saudi Arabien wird der/die Delinquent/in in einem fensterlosen Mannschaftswagen zum öffentlichen Hinrichtungsort gefahren. Er/sie steigt aus, setzt sich, umringt von Schaulustigen, auf die Knie und streckt den Kopf hin. Nun schwingt der Henker den Säbel beherzt gegen den entblößten Nacken des Opfers. Nur: Er schafft es nicht immer mit einem Stoß den Kopf vom Rumpf zu trennen. Er hackt dann gleich ein zweites Mal ein und, wenn nötig, ein drittes, bis der Kopf auf den Asphalt fliegt wie ein ziellos gekickter Fußball.

So könnte es für Hamsa Kaschgari enden. Der 23jährige Saudi Journalist und Tweeter hat den Fehler gemacht, seinen gewissenhaften Zweifel an seiner Religion in drei Tweets deutlich formuliert zu haben. Entsetzen in seiner Heimat, doch es war zu spät für einen Rückzieher. Hamsa flüchtete nach Malaysia, wurde schnell verhaftet und nach Saudi Arabien ausgeliefert, wo er möglicherweise wegen Blasphemie vor einem Gericht verantworten muss.

Den Wortlaut seiner Tweets brauche ich hier nicht zu wiedergeben. Man findet ihn schnell im Internet. Hamsas Gedanken kamen mir, ehrlich gesagt, recht hilflos und harmlos vor. Es genügt daran zu erinnern, dass eine ähnliche Ehrlichkeit in früheren Jahrhunderten auch in Europa bisweilen als Kapitalverbrechen geahndet worden wäre.

An Glaubensprinzipien (an Prinzipien schlechthin) zu zweifeln war schon immer ein Zeichen, dass ein Mensch in der Lage ist, selbstständig zu denken. Allem voran ist der intelligente Zweifel eines jungen Menschen eine lobenswürdige Eigenschaft. Kaschgari ist nun mal jung, unausgegoren und hat das Bedürfnis die Dinge seiner (Um)Welt in Frage zu stellen. Man sollte das begrüßen, und man wünscht ihm einen weisen Richter.

Fall zwei: Wolfgang Haberhauffe war ein wilder Junge und lebte im Ort Kropp in Schleswig als Mündel des dortigen Pfarrers. Er war, so wurde mir erzählt, ein liebenswürdiger Lausbub. Sein Pech: Er wurde 1923 geboren, und seine Streiche rief Polizei und Gestapo auf den Plan. 1942 wurde er – nach mehreren Abmahnungen – nach Auschwitz geschickt – nicht aus religiösen Gründen, offiziell galt er als protestantisch. (Fakt ist: Er war „Halbjude“, das wusste die Gestapo allerdings nicht). Er kam also ins Stammlager (nicht also ins Vernichtungslager) als deutscher Sträfling und lebte – und wahrscheinlich arbeitete – im Block 20, dem Krankenbau. Dennoch kein Zuckerlecken. Die meisten „Kranken“ verließen das Krankenhaus sowieso nur als Leichen. Auschwitzer Effizienz halt. Der liebenswürdige Lausbub bekam sicherlich nach kurzer Zeit eine Überdosis Realität.

Am vergangenen Samstag erhielt ich Fotokopien seiner Briefe an seinen Vormund in Kropp. Es waren kurze Mitteilungen, je zwei Seiten à jeweils 15 Zeilen. Die Zeilen waren sogar vorgezeichnet. Mehr durfte man nicht schreiben, weil sich die Zensur Arbeit ersparen wollte. Man durfte ohnehin nur wenig verraten. Es gehe ihm „soweit gut“ schrieb er immer, und stets richtete er herzliche Grüße an seinen Vormund, dessen Familie und an seine Schwester aus. Er dankte auch für die Pakete, die er aus Kropp regelmäßig empfang (erlaubt waren Sendungen bis 10kg), und er bat jedesmal um neue Vorräte: „Salz, möglichst 1 kg Süsstoff, Pfeffer, Kümmel, Senf, Zwiebel, Schalotten, Knoblauch, die kleinen Maggiwürfel, Rettig, Meerrettig, Schwarzwurzeln und wenn es möglich ist vielleicht eine Fischkonserve, Brathering oder Fisch in Gelee.“

Leider half ihm diese Lebensmittel nicht in seinem Kampf ums Überleben. Wolf starb am 30. Dezember 1943, wahrscheinlich am Fleckfieber, das damals im Krankenbau grassierte. Anfang 1944 wurden seine persönlichen Sachen nach Kropp zurückgeschickt. Sein Vormund stellte fest, dass der tote Mündel den Gürtel wohl immer enger zugeschnallt hatte, soviel hatte er abgenommen.

Fall drei: New Jersey, wo 2010 für den 18jährigen Tyler Clementi ein neuer Lebensabschnitt begann. Der schüchterne dafür aber talentierte Geiger wurde Student an der Rutgers Universität. Im Studentenwohnheim wurde ihm ein Zimmer mit einem ihm unbekannten Gleichaltrigen, Dharun Ravi, zugeteilt. Dharun war neugierig zu wissen, mit wem er wohnen würde und googelte deshalb eifrig und akribisch. Dann der Hammer: Er erfuhr, dass Tyler schwul war. Schnell teilte er sämtlichen Freunden und Bekannten diese aufregende Nachricht mit.

Eine verständliche Aufregung, wenn man bedenkt, es handelt sich um ein behütetes Söhnchen mit wenig Erfahrung in der Welt. Das Alter liebt geradezu Turbulenzen. Klar, dass Dharun darüber witzelte mit seinen Freunden, ob Tyler versuchen würde, ihn heimlich in der Nacht zu verführen usw.

Die zwei wohnten bald zusammen und blieben einander ziemlich fremd. Dann passierte es: Der junge Homosexuelle, noch nicht ganz sicher im Umgang mit seiner Identität, wollte eines Nachts sein Bett mit einem Gleichgesinnten teilen. Dharun war aushäusig, wusste nur, dass Tyler „Besuch“ erwartete. Zum Spaß entschloss er sich, mit der Webcam seines Rechners die Intimitäten zu bezeugen. Die nächsten Tage wurden die Bilder überall herumgereicht. Auch auf Twitter berichtete er darüber.

Der schüchterne Tyler reagierte mit Entsetzen. Genauer gesagt: Er überreagierte und verfiel einen fatalen Kurzschluss. Er sprang vom George Washington Bridge herunter und starb.

Drei Geschichten. Vier schreckliche Schicksale. Zufällig habe ich von diesen Geschichten beinahe gleichzeitig erfahren. Junge Männer haben schon immer gefährlich oder zumindest dramatisch gelebt. Das Alter verlangt es. Für Kriege waren sie deshalb fast immer zu haben. Tja. Sonst habe ich nichts Kluges zum Thema hinzuzufügen.

In eigener Sache: Ich werde hier bis Anfang März pausieren. Bin auf geheimer Mission in Sache Kommunikation.

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